Seit dem 1. Januar 2014 dürfen Rumänen und Bulgaren unbeschränkt in andere EU-Länder einreisen, um sich dort einen Job zu suchen. Das weckt Ängste, die die CSU für den Wahlkampf nutzt. Mit der Parole "Wer betrügt, der fliegt", will die Partei gegen den Missbrauch der Freizügigkeit kämpfen. Das Europarecht steht dem nicht unbedingt entgegen, meint Daniel Thym.
Bereits im Koalitionsvertrag von Union und SPD steht: "Wir werden [...] der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken." Dafür sollen auch befristete Wiedereinreisesperren ermöglicht werden.
Nun folgt die CSU mit flotten Parolen. Und auch der britische Premierminister David Cameron plädiert für eine restriktive Gangart. Dabei ist nicht alles politisches Kalkül und auf bevorstehende Wahlen ausgerichtet. Die Vorschläge sind im Detail durchaus durchdacht und nutzen die europarechtlichen Spielräume.
Freizügigkeit mit Beschränkungen
Grundsätzlich besitzt jeder Unionsbürger ein Freizügigkeitsrecht, das freilich von gewissen "Beschränkungen und Bedingungen" abhängig gemacht werden kann.
Arbeitnehmer, Selbstständige und im Ergebnis auch Studenten haben ein nahezu unbedingtes Aufenthaltsrecht. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist dabei sehr großzügig und nimmt einen Arbeitnehmerstatus auch dann an, wenn jemand regelmäßig nur ca. sechs Stunden die Woche arbeitet und weniger als 200 Euro im Monat verdient (Urt. v. 04.02.2010, Az. C-14/09).
Zudem gewährt das EU-Recht ein Recht auf Arbeitssuche, das Rumänen und Bulgaren allerdings erst sieben Jahre nach dem Beitritt ihrer Länder zugestanden wurde. Schon früher hatten einige Mitgliedstaaten versucht, die Einreise auf drei oder sechs Monate zu beschränken, wurden freilich vom Gerichtshof in die Schranken gewiesen: Ein Recht auf Arbeitsuche besteht solange, wie eine "begründete Aussicht" auf Erfolg besteht, was eine ernsthafte Suche ebenso voraussetzt wie reale Einstellungschancen (Urt. v. 26.02.1991, Az. C-292/89).
Irgendwann endet dieses Recht jedoch. Ein Unionsbürger gehört dann nicht mehr zu den Arbeitssuchenden im Sinn des EU-Rechts, auch wenn er als Arbeitsloser in Deutschland weiterhin dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) unterfällt. Diese Unterscheidung ist kleinteilig, jedoch überaus wichtig für den Anspruch auf Hartz IV.
Eine Auffangregelung erfasst schließlich alle anderen Unionsbürger, die kein Aufenthaltsrecht als Arbeiter, Selbständige, Studenten oder Jobsuchende besitzen und auch nicht zu deren Familie gehören. Zu dieser Gruppe gehören Rentner, die ins EU-Ausland ziehen (etwa: Deutsche und Briten auf Mallorca), ebenso wie Personen, die nicht arbeiten möchten oder können (etwa: Kranke oder alleinstehende Eltern, die sich ganz der Kindersorge widmen). Zu der Gruppe zählen auch alle Arbeitssuchenden, die keine Aussicht auf Einstellung (mehr) haben.
Nur eine Minderheit der Unionsbürger in Deutschland gehört zu dieser Gruppe, die dennoch im Zentrum der politischen Debatte steht. Ihr Freizügigkeitsrecht hängt nach Art. 7 Abs. 1b der Freizügigkeits-Richtlinie davon ab, dass sie ausreichend Geld haben und nicht übermäßig Sozialleistungen in Anspruch nehmen.
Ausreisepflicht und Wiedereinreisesperre
Wenn der deutschen Koalitionsvertrag und der britische Premierminister eine schärfere Durchsetzung der Ausreisepflicht und Wiedereinreisesperren fordern, verweisen sie auf die Grenzen des Aufenthaltsrechts.
Tatsächlich können nämlich alle Unionsbürger ausgewiesen werden, wenn sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellen, wobei der EuGH diese Begriffe traditionell streng handhabt und regelmäßig eine schwere Straftat verlangt (04.06.2013, Az. C-300/11). Zudem muss jeder Einzelfall gesondert betrachtet werde, was bei der Massenausweisung von Roma aus Frankreich im Jahr 2010 nicht geschah. Solange diese Vorgaben beachtet werden, dürfen die Mitgliedstaaten freilich schnell handeln und dabei eine Ausweisung auch bei wiederholten kleinen Straftaten verhängen, wie die Kommission jüngst bekräftigte. In diesen Fällen kann nach Art. 32 der Freizügigkeits-Richtlinie im Einzelfall auch eine befristete Wiedereinreisesperre verhängt werden.
2/2: Wiedereinreisesperren stoßen auf praktische Grenzen
Unabhängig von Gründen der öffentlichen Ordnung müssen Unionsbürger ausreisen, wenn sie kein Freizügigkeitsrecht (mehr) besitzen. Das ist besonders für diejenigen relevant, die keine Arbeitnehmer, Selbständige, Studenten oder Arbeitssuchenden sind. Die Grenzen des Aufenthaltsrechts dieser Personengruppe konkretisierte der EuGH in einem Urteil vom 19. September 2013 (Az. C-140/12). Danach muss die Freizügigkeits-Richtlinie so gelesen werden, dass ein Aufenthaltsrecht endet, wenn Sozialleistungen "unangemessen" in Anspruch genommen werden. Was genau das heißt, bleibt allerdings umstritten.
Soweit kein Freizügigkeitsrecht (mehr) besteht, können Unionsbürger unabhängig von Straftaten ausgewiesen werden. Eben diese Ausreisepflicht wird jedoch von den deutschen Behörden selten festgestellt und noch weniger vollstreckt. Auch sind dann meistens keine Wiedereinreisesperren möglich, weil diese nach geltendem deutschen Recht eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung voraussetzen.
Ob das Europarecht weitergehende Wiedereinreisesperren bei unangemessenem Bezug von Sozialleistungen zuließe, ist unklar, weil nicht feststeht, ob ein längerer Inlandsaufenthalt ohne Freizügigkeitsrecht als Missbrauch im Sinn des Art. 35 der Freizügigkeits-Richtlinie einzustufen ist und ob diese vage Norm überhaupt Wiedereinreisesperren gestattet. Darüber wird letztlich der EuGH entscheiden müssen; die Kommission vertrat zuletzt eine eher restriktive Auffassung.
Einreisesperren stoßen allerdings auf ganz praktische Schwierigkeiten. Da die Grenzkontrollen im Schengenraum abgeschafft wurden, kann kein Land systematisch die Wiedereinreise verhindern. Das muss freilich kein Argument gegen solche Verbote sein; man muss sich nur bewusst machen, dass die praktischen Auswirkungen begrenzt wären. Wirksamer dürfte ein Ausschluss von Sozialleistungen sein.
Beschränkung von Sozialleistungen
Arbeitnehmern und Selbständigen sowie deren Familienmitgliedern können Sozialleistungen nicht verwehrt werden. Sie haben in aller Regel ein Recht auf Gleichbehandlung im Steuer- und Sozialrecht. Für Studenten gibt es eine Ausnahme lediglich für das BAföG.
Arbeitssuchende sollten dagegen nach dem Willen des EU-Gesetzgebers von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können, Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie. Der EuGH war mit dieser Regelung allerdings nicht ganz einverstanden. Die Luxemburger Richter legten die Ausnahme vertragskonform aus und fordern eine Gleichbehandlung, soweit eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt besteht und die Leistung den Arbeitsmarktzugang fördert (Urt. v. 04.06.2009, Az. C-22/08 u.a.).
Die Umsetzung dieses Urteils bei Hartz-IV-Leistungen ist in Deutschland seit Jahren überaus umstritten und wird nach einer Vorlage des Bundessozialgerichts (BSG) ein zweites Mal die Richter in Luxemburg beschäftigen. Hierbei geht es jedoch nur um Arbeitssuchende im Sinne des EU-Rechts. Für sonstige Unionsbürger, einschließlich derer, die keine begründete Aussicht auf einen Job (mehr) haben, gilt zwar das deutsche SGB II; sie sind jedoch europarechtlich keine Arbeitssuchende.
Für sonstige Unionsbürger sendet das EU-Recht gemischte Signale. Einerseits können die Freizügigkeits-Richtlinie und die Koordinierungs-Verordnung so gelesen werden, dass fast immer gleiche Sozialleistungen gezahlt werden müssen. Andererseits legt der EuGH den Grundsatz der Gleichbehandlung bei Nichterwerbstätigen traditionell so aus, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt und eine gewisse gesellschaftliche Integration vorliegt. Speziell in den ersten drei Monaten nach der Einreise soll dies nach der Freizügigkeits-Richtlinie nicht der Fall sein, sodass nach Europarecht kein Anspruch besteht.
Deutsche Sozialleistungen häufig nicht an Freizügigkeit geknüpft
Der deutsche Gesetzgeber koppelt die meisten Sozialleistungen allerdings nicht an die Existenz eines Freizügigkeitsrechts und/oder eine gesellschaftliche Integration der Unionsbürger.
Mit Ausnahme des Betreuungsgeldes müssen nach deutschem Recht zahlreiche Sozialleistungen auch dann gezahlt werden, wenn gar kein Freizügigkeitsrecht besteht und das Europarecht keine Gleichbehandlung fordert. Speziell das Kindergeld wird allen Unionsbürgern gewährt. Für Hartz IV besteht zwar eine Ausnahme für die ersten drei Monate sowie Arbeitssuchende. Allerdings wird dies vom BSG (Urt. v. 30.01.2013, Az. B 4 AS 54/12 R) so ausgelegt, dass nur Arbeitssuchende im Sinn des EU-Rechts erfasst werden.
Wenn nun die Arbeitssuche erfolglos ist, müssen Unionsbürger eigentlich ausreisen. Wenn dies jedoch nicht passiert, soll nach Meinung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen dennoch ein Anspruch auf Hartz IV bestehen (Urt. v. 10.10.2013, Az. L 19 AS 129/13). Auch Sozialhilfe verweigert der deutsche Gesetzgeber einzig bei Arbeitssuche oder einer Einreise zum Zweck des Leistungsbezugs, § 23 SGB XII, und schöpft damit die europarechtlichen Grenzen nicht aus. Kommissarin Reding hat also durchaus Recht, wenn sie in der aktuellen Debatte jüngst auf das großzügige deutsche Recht verwies.
Soweit dies politisch gewünscht ist, könnte innerhalb der EU-Vorgaben also durchaus etwas geändert werden: aufenthaltsrechtlich durch eine konsequente Durchsetzung der Ausreisepflicht und sozialrechtlich durch Konkretisierungen beim Leistungszugang. Ob dies geschieht, muss die Politik entscheiden – und die Debatte hierüber wird uns offenbar noch eine ganze Weile begleiten.
Der Autor Prof. Dr. Daniel Thym, LL.M. ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz und Kodirektor des dortigen Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht (FZAA).
Daniel Thym, Grenzen der Freizügigkeit: Europarechtliche Vorgaben für die Innenpolitik . In: Legal Tribune Online, 07.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10569/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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