Urlaubsansprüche verjähren nur, wenn der Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch unterrichtet wurde. Das nationale Verjährungsrecht ist in diesem Sinne auszulegen, urteilte der EuGH. Michael Fuhlrott mit einer Einordnung.
Wenn ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer nicht auf den möglichen Verfall von Urlaub hingewiesen hat, kann ein Urlaubsanspruch nicht verjähren. Die deutschen Regelungen zur Verjährung sind insoweit unionsrechtswidrig. Denn ein Arbeitgeber, der seine Hinweispflichten verletzt, dürfe nicht noch mit der Verjährung belohnt werden, urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH, Urt. v. 22.09.2022, Az. C-120/21).
Eine vormals in einer Kanzlei tätige Steuerfachangestellte klagte auf Urlaubsabgeltung der Vorjahre. Sie war von 1996 bis Juli 2017 beschäftigt und konnte den ihr zustehenden Urlaub aufgrund ihres großen Arbeitsvolumens nicht vollständig nehmen. Die Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten, dass der Urlaub verfallen kann, wenn die Angestellte ihn nicht nimmt, hatte ihr Arbeitgeber indes nicht erfüllt. Als die ehemalige Mitarbeiterin 2018 die Abgeltung des Urlaubs der Vorjahre geltend machte, berief sich ihr Arbeitgeber auf die Verjährung dieser Ansprüche.
Während das erstinstanzlich erkennende Arbeitsgericht (ArbG) Solingen (Urt. v. 19.02.2019, Az. 3 Ca 155/18) die Klage hinsichtlich der nach nationalen Recht verjährten Ansprüche abwies, gab das Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf (Urt. v. 02.02.2020, Az. 10 Sa 180/19) der Klägerin Recht. Auf die arbeitgeberseitige Revision hin legte das BAG (Vorlagebeschl. v. 29.09.2020, Az. 9 AZR 266/20 [A]) dem EuGH die Sache zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH sollte klären, ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs gem. §§ 194 Abs. 1, 195 BGB trotz Verletzung der Hinweispflichten gestatte. Die Richter und Richterinnen am BAG betonten, dass die Anspruchsverjährung auch Ausdruck des vom Gesetzgeber verfolgten Zieles sei, Rechtsfrieden und -sicherheit herzustellen und daher auch aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) abzuleiten sei.
Generalanwalt: Keine Belohnung für Pflichtverletzung
Eine Vorahnung, wie der EuGH entscheiden könnte, war bereits durch den Entscheidungsvorschlag des Generalanwalts gegeben: Denn dieser hielt es hinsichtlich des Verjährungsbeginns für erforderlich, dass ein Arbeitnehmer zuvor über seine Rechte durch den Arbeitgeber aufgeklärt worden sei (Schlussanträge v. 05.05.2022, Az. C-120/21). Da der Arbeitnehmer ohnehin der schwächere Part im Arbeitsverhältnis sei, dürfe ein Arbeitgeber, der seinen Informationspflichten nicht nachkomme, hierdurch nicht auch noch durch das erfolgreiche Berufen auf Verjährung "belohnt" werden. Eine andere Anwendung der Verjährungsregeln überschreite die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhaltenden Grenzen bei der Festlegung der Modalitäten zur urlaubsrechtlichen Anspruchswahrnehmung.
Der EuGH folgte heute den Aussagen seines Generalanwalts: Es sei zwar richtig, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran habe, "nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzieller Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden". Allerdings sei dieses Interesse nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaub tatsächlich wahrzunehmen. Denn dadurch habe er sich selbst in eine Situation gebracht, "in der er mit solchen Anträgen konfrontiert" werde und überdies "zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könnte". Daher stehe das nationale Verjährungsrecht Deutschlands den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie entgegen, wenn dies zum Urlaubsverfall beim nicht aufgeklärten Arbeitnehmer führen.
Versteht man den EuGH richtig, so ist also die positive Kenntnis über die Rechtslage notwendig, damit die Verjährung zu laufen beginnt. Die Kenntnis der tatsächlichen Umstände allein reicht indes nicht. Dieses Konstrukt der von Generalanwalt und nun auch EuGH angenommenen positiven Rechtsfolgenkenntnis zur Auslösung des Verjährungsbeginns ist dogmatisch und mit nationaler Brille fragwürdig. Denn schließlich schützen effektive Verjährungsvorschriften den Rechtsfrieden und dienen tatsächlich der Rechtssicherheit.
Chance zur Abmilderung bewusst vertan
Der EuGH hat sich mit diesem Urteil entschieden, die Folgen seiner bisherigen Rechtsprechung nicht abzumildern, sondern sogar zu verstärken. Das Gericht betont seit jeher, dass der Anspruch auf Erholungsurlaub als "wesentlicher Grundsatz des Sozialrechts der Union zwingenden Charakter" (EuGH, Urt. v. 06.11.2018, Az. C-684/16) genießt. Einschränkungen daran sind grundsätzlich unzulässig.
Mit dieser Aussage waren Konflikte mit dem Bundesarbeitsgericht (BAG), das vielfach ein anderes Verständnis vom Urlaubsanspruch - sprich: ein deutsches Verständnis – zugrunde legte, in der Vergangenheit vorprogrammiert. Zwischenzeitlich, regelmäßig aber erst infolge entsprechender Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, ist aber auch im deutschen Urlaubsrecht anerkannt, dass Urlaub erkrankter Arbeitnehmer nicht mit dem März des Folgejahres erlischt (BAG, Urt. v. 07.08.2012, Az. 9 AZR 353/10), dass Urlaub in Form des Abgeltungsanspruchs vererbt werden kann (BAG, Urt. v. 22.01.2019, Az. 9 AZR 45/16) oder dass Unternehmen ihre Beschäftigten über die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Urlaub hinweisen müssen, damit die Ansprüche auch erlöschen (BAG, Urt. v. 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16). Gerade letztgenannte Entscheidung sorgte für Unruhe und hektische Betriebsamkeit in Unternehmen, da die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter in Umsetzung der europäischen Vorgaben eine arbeitgeberseitige Mitwirkungsobliegenheit einführten, für deren korrekte und ordnungsgemäße Umsetzung die Unternehmen auch darlegungs- und beweisbelastet sind.
Urlaubsanspruch Gegenstand weiterer Entscheidung
Von welch großer Bedeutung der Urlaubsanspruch für den EuGH ist, wurde am heutigen Tag an einer weiteren Entscheidung der Luxemburger Richter deutlich (Urt. v. 22.09.2022, Az. C-518/20 und C-727/70). Auch hier wollte sich das BAG für den Fall fehlender arbeitgeberseitiger Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten beim EuGH in einer Sonderkonstellation rückversichern (Vorlagebeschl. v. 17.03.2022, Az. 9 AZR 3/21 [A]).
Nach dem Verständnis des BAG erlöschen gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahrs. Doch was gilt, wenn der Arbeitnehmer erst im Verlauf des Urlaubsjahrs ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt und bis dahin zumindest teilweise Urlaub hätte nehmen können?
Auch hier stärkte der EuGH wie vom Generalanwalt vorgeschlagen den Beschäftigten den Rücken. Zwar dürfe Urlaub nach 15 Monaten durchgehender Arbeitsunfähigkeit verfallen, das stehe im Einklang mit dem Unionsrecht. Bei dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit im laufenden Urlaubsjahr komme ein Verfall für den Urlaubsanspruch aus diesem Jahr aber nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber zuvor über den Urlaubsanspruch unterrichtet habe.
Urlaub ohne Ende – das liegt am BAG
Der EuGH hat die Rechte von Beschäftigten und das Urlaubsrecht mit diesen Entscheidungen weiter gestärkt. Doch droht nun eine Klagewelle auf Urlaubsabgeltung in Deutschland? Viel wird davon abhängen, wie das BAG bei seiner noch anstehenden Umsetzung der Entscheidung die Stellschrauben an die Darlegung hinsichtlich des noch offenen Urlaubs justieren wird. Müssen Beschäftigte nachweisen, dass ihnen noch Urlaub zusteht?
Oder wird es reichen, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist, um eine entsprechende Darlegungs- und Beweislast zugunsten des Arbeitnehmers auszulösen? Nur wer den Nachweis als Unternehmen seit dem Jahr 2018 – dem Jahr der entsprechenden Rechtsprechung des EuGH – erbringen kann, kann sich auf die Verjährung berufen.
Diskutieren könnte man auch die Frage, ob Ausschlussfristen in Arbeitsverträgen eine sichere Begrenzung etwaiger finanzieller Abgeltungsrisiken darstellen – oder ob diese im Lichte der neuerlichen Rechtsprechung nicht ihrerseits zu hinterfragen sind und ihnen ohne Herausnahme des Urlaubs(abgeltungs)anspruchs das Risiko der AGB-rechtlichen Gesamtnichtigkeit droht. Klar ist nach der heutigen Entscheidung daher nur eines: Das Urlaubsrecht bleibt weiterhin bewegtes Fahrwasser und wird Unternehmen und Beschäftigte auch in den kommenden Jahren weiter beschäftigen.
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM – Fuhlrott Hiéramente & von der Meden Partnerschaft von Rechtsanwälten in Hamburg.
EuGH stärkt Recht auf Urlaub: . In: Legal Tribune Online, 22.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49706 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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