Seit dem Münchener Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demnjanjuk wird wieder verstärkt gegen noch lebende Helfer von Vernichtungslagern ermittelt. Das ist richtig, kommt aber zu spät, meint Christoph Safferling.
Der Fall Gröning, in dem der Angeklagte inzwischen Revision zum Bundesgerichtshof eingelegt hat, hat die Verfolgung Nationalsozialistischer Gewalttaten wieder in die Schlagzeilen gebracht. 70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs wird ein 94-jähriger Mann zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er in Auschwitz "dabei war" - Beihilfe zur Ermordung von 300.000 Menschen.
Dieses Verfahren war ein besonderes, denn anders als in den sonstigen Strafprozessen seit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess von 1958 hat der Angeklagte in diesem Verfahren Reue gezeigt, er hat sich in der Anwesenheit der Nebenkläger bei den Opfern entschuldigt. In den bisherigen Strafprozessen wurde stets geleugnet. Es wurde darauf verwiesen, dass man ja nur Befehle ausgeführt und von der systematischen und industriellen Menschenvernichtung nichts gewusst habe.
Kaum Verurteilung wegen Beteiligung
Die Rechtsprechung hat diese Ausflüchte stets mitgetragen. Kaum je wurde jemand tatsächlich für die bloße Beteiligung an den Massenverbrechen verfolgt oder gar verurteilt. Vielmehr musste stets eine konkrete Einzeltat nachgewiesen werden. Das führte dazu, dass im Grunde immer nur Exzesstaten bestraft wurden, während die systematischen Verbrechen und die Teilnahme daran ungesühnt blieben. So wurde der Angeklagte Franz Müller vom Bundesgerichtshof (BGH) nicht für die Durchführung der Räumung des Ghettos in Bochnia (bei Krakau) bestraft, sondern dafür, dass er im Ghetto einzelne Erschießungen vorgenommen hat (Urt. v. 20.05.1969, Az: 5 StR 658/68; Landgericht (LG) Kiel Urt. v. 10.07.1970, Az: 2 KS 4/66).
Das Verfahren gegen Gerhard Sommer u.a. wegen der Racheaktionen an der Zivilbevölkerung in Sant’ Anna wurde eingestellt, weil den Angeklagten keine gefühllose, unbarmherzige Gesinnung als subjektives Element des Mordmerkmals "grausam" nachgewiesen werden konnte (Einstellungsverfügung Staatsanwaltschaft (StA) Stuttgart v. 26.09.2012, Az: 1 Js 79109/02). Stets lehnte man die "niedrigen Beweggründe" ab, da keiner der Angeklagten selbst aus Rassenhass gehandelt habe (z.B. die Verfahren gegen die ehemals persönlichen Referenten des Reichsjustizministers Otto Thierack, Dr. Heinz Kümmerlein und Heinrich Ebersberg, Einstellungsverfügung StA Köln 30.10.1970, Az: 24 Js 88/68).
Politisches Versprechen gebrochen
In dem Prozess, der die Strafverfolgung von NS-Taten in der Bundesrepublik Deutschland neu in Gang setzte, dem ersten Ausschwitzprozess, hatten die Vertreter der Staatsanwaltschaft, angeleitet vom damaligen Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, gefordert, die Verantwortung der Angeklagten für die Massenverbrechen als solche festzustellen und sie entsprechend zu verurteilen. Damit sind sie auch beim BGH gescheitert (Urt. v. 20.02.1969, Az: 2 StR 280/67).
Die Deutsche Justiz löste daher das politische Versprechen, dass das Strafgesetzbuch in substantieller Hinsicht vollumfänglich in der Lage sei, die "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie sie in den Nürnberger Verfahren und in anderen Verfahren auf der Grundlage von Kontrollratsgesetz Nr. 10, so wie auch vom Obersten Gerichtshof für die Britische Zone angewendet worden sind, nicht ein.
Kein Massenverbrechen im deutschen Strafrecht
Der systematische Zusammenhang der NS-Verbrechen konnte vom deutschen Strafrecht oder jedenfalls den Gerichten dogmatisch nicht abgebildet werden. Einzelne Versuche in diese Richtung, wie etwa im Verfahren gegen Gustav Laabs u.a. zum Vernichtungslager Chelmno, wurden schließlich nicht weiterverfolgt (BGH, Urt. v. 25.11.1964, Az: 2 StR 71/64). Auch das LG München II hat im Demjanjuk-Urteil grundsätzlich an der Ansicht fest gehalten, dass die Figur des "Massenverbrechens" dem deutschen Strafrecht fremd sei. Es richtet die KZ-Fälle zwar doch in diese Richtung aus, aber eben auch nur diese.
Wer sich in das Uhrwerk der Vernichtungsmaschinerie einordnen lässt, ist demnach strafrechtlich verantwortlich wegen Beihilfe zur grausamen und heimtückischen Ermordung. Das LG München II öffnete durch diese Entscheidung erneut die Tür zur Verfolgung weiterer KZ-Wärter. Die Staatsanwaltschaften müssen angesichts dieser Entwicklung reagieren und die vorhandenen, in der Zentralen Stelle in Ludwigsburg und anderswo gesammelten Informationen zur Eröffnung von Ermittlungsverfahren nutzen.
2/2: Schwerer Schlag durch BGH-Urteil von 1969
Der Fall Gröning war ein Schritt in diese Richtung; es werden weitere folgen. So hat die StA Frankfurt gerade am LG Hanau einen damals unter 21-jährigen Wachmann im KZ Auschwitz angeklagt, der sich als nun 92 Jähriger vor der Jugendkammer wegen Beihilfe zum Mord verantworten muss. Dass das geschieht, ist eine späte Genugtuung für die wenigen überlebenden Opfer. Diese richtige Fortentwicklung des Rechts ist bislang nicht vom BGH bestätigt, und es ist schon aus Gründen des Alters der Angeklagten fraglich, ob das jemals gelingen wird.
Diese Verfahren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen versagt hat. Den schwersten Schlag erlitten durchaus vorhandene Anstrengungen auf Seiten der StA durch die Feststellung des Verjährungseintritts durch den BGH im Jahr 1969. Die Einführung der neuen Akzessorietätsvorschriften in § 50 Abs. 2 StGB a.F. (heute § 28 Abs. 1 StGB) durch das Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) führte im Ergebnis dazu, dass alle Taten, in denen dem Täter die niedrigen Beweggründe nicht in eigener Person nachgewiesen werden konnten, bereits verjährt waren. Jeder, dem also fast 25 Jahre nach dem Ende des Krieges nicht bewiesen werden konnte, dass er damals aus Rassenhass gehandelt habe, war de facto amnestiert.
Hoher Aufwand lohnte nicht mehr
Frustriert stellten viele Staatsanwaltschaften die Verfahren daraufhin ein. Sie versuchten die Beweisaufnahmen, die erhebliche Auslandsermittlungen zur Folge gehabt hätten, wie jeder weiß, der schon einmal einen Blick in die Prozessakten riskiert hat, erst gar nicht mehr zu betreiben. Es war zuvor schon schwierig genug, die Identität der Täter, die einzelnen Tatorte, die Opfer und die weiteren Verbrechensvoraussetzungen aufzuklären und durch Dokumente und Zeugen, die aus Israel, den USA oder andernorts herbeigeschafft werden mussten, zu beweisen. Diese neue Gesetzeslage schraubte die Anforderungen so weit nach oben, dass sich in den Augen vieler Staatsanwälte der Aufwand nicht mehr lohnte.
Es sei erwähnt, dass an dieser Situation auch die Struktur von § 211 StGB eine Mitschuld trägt. Danach konnte nämlich – subkutan – immer behauptet werden, der gemeine NS-Mitläufer habe nicht dem Tätertyp des Mörders entsprochen. Der von den Nazis 1941 geschaffene Mordparagraf 211 hat bei der Verfolgung von NS-Verbrechen daher in vollem Umfange versagt. Vielleicht wäre ja auch das ein Grund für eine Reform.
Zu spätes Ende der kalten Amnestie
Eine Statistik darüber, wie viele Verfahren damals eingestellt wurden, gibt es im Übrigen nicht, weil trotz intensiver Bemühungen seitens der Ludwigsburger Zentralstelle die Staatsanwaltschaften die Einstellungen nicht meldeten. Tatsächlich war damit die "kalte Amnestie" gelungen. Der Bundestag, der bereits wenige Jahre zuvor leidenschaftlich über die Verlängerung der Verjährung debattiert hatte und nun die nächste Debatte vorbereitete, hatte keine Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Ein zutiefst undemokratischer Prozess.
Nun also, 70 Jahre nach Kriegsende, werden die Beweisanforderungen teilweise gesenkt; nicht für jede Mitwirkung an der systematischen Vernichtung von Menschenleben, aber immerhin für die Tätigkeiten im Vernichtungslager. Das ist richtig, kommt aber zu spät.
Der Autor Professor Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE) hat einen Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Erlangen und ist dort zudem Leiter der Forschungsstelle Völkerstrafrecht.
Professor Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE), Urteil gegen Oskar Gröning: Ende der kalten Amnestie . In: Legal Tribune Online, 22.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16308/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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