"Grundrechtsbindung 2.0" – mit solchen Formulierungen wird darüber diskutiert, welche Rolle Grundrechte bei der Regulierung sozialer Medien spielen. Dr. Nicolas Harding erklärt, warum nun der EuGH einen Paradigmenwechsel einleiten müsste.
Facebook, Youtube, Twitter oder Instagram: Bei den Betreibern sozialer Netzwerke handelt es sich um private Akteure, die nach dem tradierten Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes prinzipiell in den Genuss grundrechtlicher Freiheit kommen und sich staatlichen Institutionen gegenüber auf diese berufen dürfen. Gleichwohl haben neuartige Formulierungen wie "situativ staatsähnliche Grundrechtsbindung" oder "Grundrechtsbindung 2.0" Eingang in die rechtswissenschaftliche Debatte um den Umgang mit den Betreibern sozialer Netzwerke gefunden.
Während dies bisher eine Frage nationaler Grundrechtsdogmatik war, hat die Europäische Kommission die Debatte mit ihrem Entwurf zum Digital Services Act (DSA) nunmehr europäisiert. Dieser Entwurf wurde in der vergangenen Woche vom EU-Parlament bestätigt und wird künftig den europäischen Rechtsrahmen für die Netzwerkbetreiber darstellen. Dabei ist ungewiss, ob das Unionsrecht samt seiner Grundrechtecharta für die Entwicklungen, die ein europäischer Rechtsrahmen schafft, überhaupt bereit ist.
Der Erfolg einer effektiven europäischen Regulierungspolitik hängt in erheblichem Maße von einer Weiterentwicklung des unionsrechtlichen Grundrechtsverständnisses ab.
Das NetzDG als deutscher Exportschlager
Dass soziale Netzwerke durch ihren Umgang mit problematischen Phänomenen wie "hate speach" oder "fake news" erheblichen Einfluss auf die Freiheit des Meinungsbildungsprozesses in der Gesellschaft nehmen können, hat der deutsche Gesetzgeber 2017 erkannt und daraufhin das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) erlassen. Darin sind Vorgaben für den Umgang mit Beschwerden über rechtswidrige Inhalte sowie Transparenz- und Berichtspflichten der Netzwerkbetreiber enthalten. Es war Vorbild für vergleichbare Regelungsansätze in Österreich oder Frankreich. Die gesetzgeberische Intention der Mitgliedsstaaten ist dabei durchaus zu begrüßen, wenngleich die Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt waren: Einbußen bei der Effektivität der Rechtsdurchsetzung nationaler Vorgaben und die unterschiedlichen Beurteilungsspielräume nationaler Regelungen stehen im Widerspruch zur einheitlichen Rechtsdurchsetzung in der EU.
Im Dezember 2020 hat die Kommission daraufhin einen DSA-Verordnungsentwurf vorgestellt, der eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit zum NetzDG aufweist. Der DSA enthält im Kern Vorgaben für Transparenz- und Auskunftspflichten der Netzwerkbetreiber sowie die Pflicht zur Etablierung eines "notice and take down"-Verfahrens bei illegalen Inhalten und Kooperationsvorgaben nationaler Behörden.
Allerdings ist dem Entwurf nicht zu entnehmen, nach welchen Kriterien sich die im Mittelpunkt vieler Maßnahmen des Entwurfs stehende Illegalität eines Inhalts konkret bemisst. Vielmehr verweist der Entwurf diesbezüglich schlichtweg auf die Vereinbarkeit mit nationalem und Unionsrecht, ohne dies zu spezifizieren. Die dem Umgang mit Meinungsinhalten vorgelagerte Charakterisierung als legal oder illegal bleibt damit aus der maßgeblichen Sicht des Normanwenders maximal unbestimmt. Dies ist in Anbetracht der innereuropäisch divergierenden Kultivierung der Meinungsfreiheit und dem Ziel, einheitliche Rechtsstandards innerhalb der EU zu etablieren, zunächst unbefriedigend.
Die Grundrechtsbindung sozialer Netzwerke
Dass das Vorhaben gleichwohl erfolgsversprechend sein kann, ist auf die grundrechtliche Dimension der Regulierungsansätze zurückzuführen. Es ist abstrakt-generellen Regelungen immanent, dass sie Auslegungs- und Beurteilungsspielräume für ihre Normanwender vorsehen. Seit dem "Lüth"-Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht für den deutschen Verfassungsraum fest, dass diese Spielräume auch zwischen Privaten mit grundrechtlichen Wertungen gefüllt werden müssen. Als objektive Werteordnung besitzen sie eine Ausstrahlungswirkung ins Privatrecht, was gemeinhin als mittelbare Drittwirkung bezeichnet wird. Sie gestattet es, einen schonenden Ausgleich zwischen den grundrechtlichen Interessen aller Parteien zu finden.
Im Hinblick auf die Meinungsmacht sozialer Netzwerke wird teilweise sogar vertreten, die Netzwerkbetreiber unmittelbar oder zumindest in situativ staatsähnlicher Weise an Grundrechte zu binden. Dies hätte zur Folge, dass sich der einzelne Netzwerknutzer den Plattformen gegenüber unmittelbar auf seine Meinungsfreiheit berufen könnte. Für etwaige "Eingriffe" bestünde sodann eine Pflicht zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung und es bedürfte womöglich bereichsspezifischer Rechtsgrundlagen. Diesen Ansätzen hat der Bundesgerichtshof im Rahmen einer Entscheidung über die Auslegung der allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook jüngst im Hinblick auf die grundrechtliche Berechtigung der Netzwerkbetreiber zu großen Teilen widersprochen. Das Gericht betont in diesem Zusammenhang, dass Facebook seinerseits in den Genuss grundrechtlicher Freiheit kommt.
Die Entscheidung Facebooks, Meinungsinhalten der Netzwerknutzer auch unterhalb der Grenze strafrechtlicher Relevanz mit Entfernungen und Sperrungen zu begegnen, ist Ausfluss dieser grundrechtlichen (Unternehmens-)Freiheit. Es würde die Grundrechte der Netzwerkbetreiber außer Acht lassen, bei der Bestimmung der Illegalität eines Netzwerkinhalts allein strafrechtliche Maßstäbe mit ultima ratio-Charakter heranzuziehen. Vielmehr ist die Rechtsfigur der mittelbaren Drittwirkung dazu in der Lage, den Rahmen für einen interessengerechten Umgang mit Meinungsinhalten herzustellen. Dort, wo ein Regulierungsrahmen also Wertungsspielräume überlässt – wie zum Beispiel beim unbestimmten Rechtsbegriff der Illegalität– entfalten die Grundrechte der Netzwerknutzer und -betreiber eine mittelbare Wirkung. Ob ein Inhalt seitens des Netzwerkbetreibers als legal oder illegal eingestuft wird, ist Ausfluss der in praktischer Konkordanz mündenden Gemengelage der grundrechtlichen Freiheiten von Netzwerkbetreibern und Netzwerknutzern.
Drittwirkung der Unionsgrundrechte
Dieses vielversprechende Ergebnis wird allerdings relativiert, wenn man sich vor Augen führt, dass die bisherige Rechtslage durch eine Europäisierung des Regulierungsrahmens nachhaltig beeinflusst werden wird. Gem. Art. 51 Grundrechtecharta hat der Erlass des DSA in Form einer Verordnung zur Folge, dass grundrechtliche Gemengelagen in diesem Zusammenhang fortan anhand der Unionsgrundrechte zu beurteilen sind.
Diese kennt zwar sowohl die Berufsfreiheit der Netzwerkbetreiber als auch die Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechte der Netzwerknutzer, was im Hinblick auf eine Vereinheitlichung der Auslegungsstandards der EU prima facie vielversprechend wirkt. Zur Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten schweigt sie indes. Das gilt auch für den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der eine Drittwirkung der Unionsgrundrechte bisher in erster Linie für den Diskriminierungsfall im Rahmen von Arbeitsverhältnissen anerkannt hat.
Über dies setzt sich der DSA gewissermaßen hinweg, wenn er in Art. 12 Abs. 2 DSA statuiert, dass die Netzwerkbetreiber bei der Aufstellung ihrer Lösch-, Moderations-, und Sperrvorgaben "die Rechte und berechtigten Interessen aller Beteiligten sowie die geltenden Grundrechte der Nutzer, die in der Charta verankert sind […]" berücksichtigen müssen. Dieses Phänomen ist wie gezeigt vom Ergebnis her gedacht nachvollziehbar; die Fragwürdigkeit der Regelung rührt indes daher, dass der DSA nicht nur darauf verzichtet, die Grundrechte der Netzwerkbetreiber zu erwähnen, sondern auch davon auszugehen scheint, die Grundrechtswirkungen sekundärrechtlich anordnen zu können.
Lüth goes EuGH?
Da dies normhierarchisch und dogmatisch nicht zu überzeugen vermag, dürfte der Ball nunmehr beim EuGH liegen, bei nächster Gelegenheit – beispielsweise im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens – durch das eindeutige Anerkennen einer mittelbaren Drittwirkung europäischer Grundrechte eine Art Paradigmenwechsel herbeiführen könnte. Der DSA, die Datenschutzgrundverordnung und auch künftige Rechtsakte der EU dürften es ihm danken.
Aus der Perspektive der deutschen Verfassungsdogmatik gilt es zu berücksichtigen, dass die mittelbare Grundrechtswirkung zwischen Privaten dort, wo die Privatrechtsordnung hinreichende Beurteilungsspielräume lässt, ein wünschenswertes, aber keineswegs selbstverständliches Konstrukt ist. Dort, wo sensible Grundrechtsinteressen Privater aufeinandertreffen, ist es eine transparente Möglichkeit, den von Verfassungs wegen gebotenen Ausgleich widerstreitender Interessen Privater schonend aufzulösen.
Dr. Nicolas Harding ist Rechtsreferendar am Schleswig-Holsteinischen OLG, derzeit am Deutschen Generalkonsulat in New York.
Der Digital Services Act und die Grundrechte: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49062 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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