Am dritten Verhandlungstag im Prozess gegen Gil Ofarim kommt hitzige Stimmung auf, ein Zeuge verharmloste den Holocaust und der Vorsitzende Richter gibt zur Vermeidung von Verhandlungspausen Ratschläge gegen Rückenschmerzen.
Der Beginn des dritten Verhandlungstages im Prozess gegen Gil Ofarim u.a. wegen falscher Verdächtigung (Az.: 6 KLS 607 Js 56884/21) ließ noch nicht vermuten, dass es heute hoch her gehen sollte. Die Prozessbeteiligten und die fünf geladenen Hotelgäste erwartete vor dem Landgericht (LG) Leipzig das bereits bekannte Prozedere des Fragenmarathons.
Die Befragungen folgen, wie bereits am zweiten Verhandlungstag, stets dem gleichen Schema. Die Zeug:innen werden zu ihrer jeweiligen örtlichen Position in der Lobby befragt, zur herrschenden Geräuschkulisse, zum Ablauf der internen Befragungen durch die vom Hotel "The Westin" beauftragte Anwaltskanzlei und schließlich zur Kleidung Ofarims und zu Rufen und Äußerungen anderer Zeugen und des Angeklagten. Dies alles verläuft zunächst strukturiert und unaufgeregt-sachlich. Von antisemitischen Äußerungen durch das Hotelpersonal berichtet niemand. Ofarim wird von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, derartige Äußerungen von einem Hotelmitarbeiter nur erfunden zu haben.
Ofarim sei "auf 180" gewesen
Doch allmählich verändert sich die Stimmung zwischen den Beteiligten. Einer der Hotelgäste lässt in seinen Aussagen eine eindeutige Tendenz erkennen. Der Vorgang sei nicht so gewesen, wie es in dem Video Ofarims dargestellt werde. Er selbst habe zwar größtenteils keinerlei Gesprächsinhalte gehört, aber einen "sehr emotionalen Ofarim wahrgenommen, der auf 180 war. Und einen sehr ruhigen Herrn W., der versucht hat, alles unter Kontrolle zu bekommen. Das passte nicht zusammen", meint der Zeuge in Bezug auf das im Video geschilderte Geschehen.
Der Vorsitzende Richter Dr. Stadler entgegnet hierauf naheliegend: "Wenn Herr Ofarim gerade antisemitisch beleidigt worden ist, wieso sollte er da nicht auf 180 sein?".
Zeuge verharmlost in internen Ermittlungen Holocaust
Dann wird es noch hitziger. Die Verteidigung hält dem Zeugen eine von ihm gestellte Frage aus den Akten der internen Ermittlungen vor. Demnach habe er die dortigen Anwälte "rein aus Interesse" und "bewusst überspitzt", wie der Zeuge selbst kurz darauf sagt, nach einer rechtlichen Einschätzung gefragt. Er habe wissen wollen, ob das, was Ofarim in dem Video in den Raum gestellt hat, auch so etwas wie Volksverhetzung sei. Er selbst würde von seinem Gefühl her sagen, dass es das gleiche sei, wie wenn er jetzt rausgehen und sagen würde, dass alle Juden vergast werden müssten.
Verteidiger Müller hebt später hervor, dass dem Zeugen die Aufzeichnung dieses Gesprächs bewusst gewesen sei und der Kontext zu beachten sei. Es sei kein Stammtischgespräch gewesen. Dass dem Zeuge nichts anderes einfällt, als eine solche Frage zu Protokoll zu geben, mache ihn betroffen und sollte zum Nachdenken anregen.
Der Zeuge erklärte danach vehement, wenn er etwas mitbekommen hätte von einer antisemitischen Beleidigung, wäre er mit Sicherheit eingeschritten. "Ich finde es ungeheuerlich, dass Sie das in so eine Richtung darstellen wollen", konstatierte er an die Verteidigung gewandt. "Für mich gibt es nichts Schlimmeres als den Holocaust", so der Zeuge. Eine Aussage, die im klaren Widerspruch zu seiner vorherigen steht, die mutmaßliche Falschbezichtigung von Ofarim sei das Gleiche wie ein Aufruf zur Ermordung von Juden. Die provokative Frage Müllers, ob er nicht vielleicht selbst etwas gerufen habe, verneint der Zeuge dann klar und deutlich.
Verteidigung: Glaubwürdigkeit des W. erschüttert…
Das offensive Vorgehen der Verteidigung zieht sich durch den gesamten Verhandlungstag. In einer von der Verteidigung abgegebenen Erklärung zu den Zeugenaussagen (nach § 257 Abs. 2 StPO) greift sie erneut den Hotelmanager W. an. "Sowohl die Glaubwürdigkeit des Zeugen, als auch die Glaubhaftigkeit seiner Aussage sind erschüttert", beginnt Verteidiger Dr. Stevens seine Ausführungen. Erneut weist er zur Begründung auf den an Tag zwei angebrachten Widerspruch zwischen verschiedenen Aussagen des W. hin. Vor Gericht gab er an, dass ihm Ofarim nichts gesagt habe, im internen Ermittlungsverfahren des Hotels gab er an, ihn vor seiner Ankunft bereits gegoogelt zu haben.
Ein weiterer Widerspruch bestünde in der früheren Behauptung des W., das Drohen mit Social Media passiere regelmäßig; das Hotel werde häufig damit bedroht, es werde aber selten wahrgemacht. Laut Stevens sei der Rauswurf Ofarims vor diesem Hintergrund schlicht nicht nachvollziehbar und völlig überzogen. "Da muss noch etwas anderes gefallen sein", schlussfolgerte der Anwalt. Überdies habe es sich nicht um eine Drohung, sondern um eine "schlichte Unmutsäußerung" Ofarims gehandelt.
Nach alledem lüge W. erwiesenermaßen in diesen Punkten, sodass sein gesamtes Aussageverhalten in Frage zu stellen sei.
…aber Davidstern-Aussage wird bekräftigt
Die Zeugenaussagen der Hotelgäste, die hinter Ofarim in der Reihe gestanden haben sollen, bekräftigt Stevens dagegen. Die Schilderungen des Zeugen, der den Davidstern gesehen haben will, seien detailreich, kontextbezogen und schlüssig. Er habe nicht nur die Kleidung Ofarims genau beschreiben können, sondern auch sein Gepäck, was im Video nicht zu sehen ist. Damit sei auch eine mögliche nachträgliche Beeinflussung der Wahrnehmung durch das Video, in dem Ofarim die Davidstern-Kette trägt, fernliegend. Der Zeuge stünde auch erkennbar in keinem Lager.
Die Frage, ob Ofarim die Kette in der Lobby getragen hat, könnte von prozessentscheidender Bedeutung sein. Der Sänger hatte in seinem Instagram-Video behauptet, der Hotelmitarbeiter W. habe von ihm verlangt, diese wegzupacken. Doch Videoaufnahmen aus der Lobby weckten Zweifel, ob die Kette überhaupt zu sehen war.
Zu den weiteren Zeugenaussagen des zweiten Prozesstags betonte Stevens, diese hätten nicht behauptet, das gesamte Gespräch zwischen Ofarim und dem Hotelmanager wahrgenommen zu haben. Dass sie keine antisemitischen Äußerungen mitbekommen hätten, schließe längst nicht aus, dass diese tatsächlich gefallen sein können.
"Was ist denn an euch beiden so besonders, dass ihr die Karten schon bekommt?"
Die ersten beiden Zeugen des dritten Tags sind die beiden Stammgäste des Hotels, die hinter Ofarim in der Schlange gestanden und dann aufgrund bereits vorbereiteter Zimmerkarten vorgelassen worden seien. Beide hätten weder Rufe aus der Schlange, noch Äußerungen zum Stichwort "Stern" wahrgenommen. Allerdings soll sich Ofarim klar an sie gewandt haben, als sie sich mit ihren Zimmerkarten zum Gehen wandten. "Was ist denn an euch beiden so besonders, dass ihr die Karten schon bekommt?", habe er gefragt. Seine Karte sei bestimmt auch schon vorbereitet und er werde auch nicht vorgezogen, soll es seitens Ofarim weiter geheißen haben.
Eine Aussage, die – würde sie zutreffen – auf einen gewissen Missmut und die gleichzeitige Annahme eines gewissen eigenen Status hindeutet. Dies schildert auch die dritte Zeugin, die relativ weit hinten in der Schlange gestanden haben soll: "Ich habe gedacht, da fühlt sich wieder jemand schlecht behandelt."
Nur deutscher Sekt im "The Westin Hotel" Leipzig
Die fünfte und letzte Zeugin des dritten Prozesstags sorgt schließlich mit einer Anekdote für Gelächter im Saal, die bei näherem Hinhören auch in eine ernste Richtung weisen könnte. Sie sei an dem Abend auch im Hotel zugegen gewesen und habe sich an der Hotelbar einen Prosecco bestellt. Daraufhin habe ihr der Barkeeper entgegnet, er hätte nur deutschen Sekt. Das habe sie bei einem internationalen Hotel nicht erwartet, so die Zeugin. Sodann habe sie einen Martini bestellt. Dies sei auch nicht möglich gewesen, da das Hotel nur über deutschen Wermuth verfügt habe.
Über Ofarim selbst gibt sie einen anderen Eindruck als ihre Vorgänger:innen wieder. Sie habe ihn vor dem Hotel sitzen sehen. Er sei sehr verzweifelt gewesen. "Ich dachte direkt, es sei etwas Persönliches. Er hat mir leid getan", so die Zeugin.
Diesen Anschein macht Ofarim selbst heute nicht. Wie schon zuvor folgt er dem Prozess sehr konzentriert und schreibt gelegentlich etwas in sein Notizbuch. Darüber hinaus wirkt er heute etwas lebhafter als die ersten beiden Tage. Mehrmals reagierte er auf bestimmte Aussagen mit einem Stirnrunzeln oder einer lautlosen Bemerkung und tauschte sich des Öfteren flüsternd mit Verteidiger Stevens aus. Bei der Prosecco-Bemerkung der letzten Zeugin entweicht ihm sogar ein kurzes Lachen.
"Wir sind so furchtbar im Verzug"
Der Vorsitzende scheint indes sehr bemüht, das Verfahren voranzutreiben. Bereits zur Mittagszeit gab er zu bedenken, dass man schon schlappe zwei Stunden im Verzug sei und zwei extra aus Wien angereiste Zeugen auch pünktlich wieder zum Flughafen müssten. Daher stelle er zur Debatte, keine Mittagspause zu machen. Schon allein aufgrund der im Gerichtssaal herrschenden stickigen Luft wäre dies durchaus eine Leistung für alle Beteiligten gewesen, vom inhaltlich in der Luft hängenden Programm ganz abgesehen. Dem Einwand des Verteidigers Dr. Betz, aufgrund bestehender Probleme mit seiner Halswirbelsäule zumindest zum Aufstehen und Laufen eine Pause zu benötigen, entgegnete der Vorsitzende, er dürfe auch gern während der Verhandlung herumlaufen.
Möglicherweise ist Zeitdruck nicht die förderlichste Variante für das Verfahren. Trotz knapp einstündiger Mittagspause schien die Konzentration nach fast sechs Stunden intensiver Verhandlung im Laufe des Nachmittags nachzulassen. Die Verteidigung bezieht sich zweimal auf falsche Aktenfundstellen und sorgt so für kurze Verwirrung.
"Wir sind so furchtbar im Verzug", stellt der Vorsitzende auch nach der Mittagspause nochmal fest. Eine Zeugin sei erneut, wie schon am zweiten Verhandlungstag, aufgrund der fortschreitenden Zeit wieder nach Hause geschickt und vertagt worden.
Neue Fährte oder trügerische Wichtigtuerei?
Zusätzlich zu diesen bereits geplanten Zeug:innen könnte sich derweil ein neuer Zeuge angekündigt haben. Ein Mann habe sich bei Staatsanwalt Ricken gemeldet. Er habe in der Schlange hinter Ofarim gestanden, nach ihm eingecheckt und keine antisemitischen Äußerungen wahrgenommen. Der Vorsitzende Richter Dr. Stadler gab zu bedenken, dass es auf den Aufnahmen der Überwachungskameras nur eine noch nicht identifizierte Person gäbe, bei der er im Hinblick auf das angegebene Alter des Anrufers – wohl 85 Jahre – Zweifel habe, dass es sich bei dem Anrufer um sie handele. Er schlägt daher vor, der neuen Fährte zunächst im Freibeweisverfahren nachzugehen.
"Es kann natürlich jemand sein, der einfach nur seine paar Minuten Ruhm möchte", so Müller. Dennoch würden sie sich gern einen persönlichen Eindruck verschaffen. Ob sich Zeugenliste und Verfahren um einen weiteren Zeugen verlängern oder sich der Anrufer doch möglicherweise nur als verwirrter älterer Herr herausstellt, bleibt abzuwarten.
Insgesamt ist denkbar, dass das Programm nicht wie geplant geschafft und das Verfahren doch länger dauern wird als ursprünglich geplant bis zum 7. Dezember 2023. Weiter geht es am kommenden Tag, dem 15. November 2023, mit weiteren Zeugenvernehmungen. Zudem steht die Auswertung des Gutachtens, das ein Sachverständiger über die Aufnahmen der Überwachungskameras angefertigt hat, auf dem Tagesplan.
Prozess-Chronologie im Überblick:
Tag 3 – Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen erschüttert? Hitzige Stimmung kommt auf, ein Zeuge verharmloste den Holocaust und der Vorsitzende Richter gibt zur Vermeidung von Verhandlungspausen Ratschläge gegen Rückenschmerzen.
Dritter Verhandlungstag im Prozess gegen Gil Ofarim: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53168 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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