"Gutes Sehen nützt – gutes Sehen schützt." Mit diesem Slogan wirbt die Polizei für regelmäßige Sehtests. Der BayVGH mag dagegen einem Einäugigen den Lkw-Führerschein nicht versagen. Es sei eine sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung behinderter Menschen, Sehkraft auf beiden Augen zu fordern. Nun liegt der Fall dem EuGH vor. Adolf Rebler hält die Diskussion für absurd.
Wer hat sich nicht schon über die genommene Vorfahrt im Straßenverkehr geärgert und den Fahrer - zumindest gedanklich - mit der rhetorischen Frage bedacht: "Bist du blind?"
In Süddeutschland könnte aus dieser Frage bald Ernst werden. Vor dem bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) bemüht sich derzeit ein Mann mit einer Sehschärfe von unter 0,1 auf einem Auge um einen Lkw-Führerschein. Die Fahrerlaubnisbehörde hatte den Antrag des Mannes unter Hinweis auf die Anforderungen an das Sehvermögen in der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) abgelehnt. Ebenso entschied das Verwaltungsgericht Regensburg in erster Instanz.
Der BayVGH scheint dem Wunsch des Klägers nun nicht abgeneigt. Die Richter holten Gutachten von zwei augenärztlichen Sachverständigen ein, die beide zu dem Ergebnis kamen, dass kein Anlass bestehe, Menschen mit einer einseitigen Sehschärfe unter 0,1, also mit weniger als 10 Prozent Sehschärfe eines normalsichtigen Menschen, die Lkw-Fahrerlaubnis zu versagen. Es müssten lediglich die folgenden drei Voraussetzungen erfüllt seien: Der Lkw-Fahrer müsse beidäugig sehen können, das heißt nicht anatomisch einäugig sein. Er müsse außerdem auf jedem Auge ein normales Gesichtsfeld haben und in der Lage sein, ein nicht vorhandenes räumliches Sehvermögen vollständig zu kompensieren.
Die Verwaltungsrichter witterten einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz sowie das Verbot, behinderte Menschen zu diskriminieren, und legten das Verfahren nun mit Beschluss vom 5. Juli 2012 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorabentscheidung vor (Az. 11 BV 11.1764).
Ein Wert von 0,1 darf nicht unterschritten werden
Dass man es im Straßenverkehr in der Regel nicht mit Blinden zu tun hat, dafür sorgen das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und die FeV. Nach § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StVG darf eine Fahrerlaubnis nur erhalten, wer zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist. Geeignet ist nach § 2 Abs. 4 S. 1 StVG, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder nicht wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat. Konkreter wird die FeV. § 12 Abs. 1 erläutert, dass "zum Führen von Kraftfahrzeugen die in Anlage 6 genannten Anforderungen an das Sehvermögen zu erfüllen" sind.
Dort werden Anforderungen an die zentrale Tagessehschärfe formuliert, also an die Fähigkeit, Gegenstände in Blickrichtung bei normalem Tageslicht gut zu erkennen. Dabei dürfen folgende Sehschärfenwerte nicht unterschritten werden: Sehschärfe des besseren Auges oder beidäugige Sehschärfe: 0,8; Sehschärfe des schlechteren Auges: 0,5.
An Lkw-Fahrer werden besondere Anforderungen gestellt: "In Einzelfällen kann unter Berücksichtigung von Fahrerfahrung und Fahrzeugnutzung der Visus des schlechteren Auges für die Klassen C, CE, C1E unter 0,5 liegen, ein Wert von 0,1 darf nicht unterschritten werden."
BayVGH: Völlig überzogene Anforderungen
Nach Meinung des höchsten bayerischen Verwaltungsgerichts ergibt sich aus den Gutachten, dass diese Voraussetzungen der FeV weit überzogen und sachlich nicht gerechtfertigt sind. Grundlage der hohen Anforderungen sei die Meinung, dass es notwendig sei, einen Lkw-Fahrer in die Lage zu versetzen, das Fahrzeug auch bei plötzlichem Ausfall des besseren Auges sofort abbremsen zu können. Hierzu wäre jedoch nach Aussage der Gutachter auch der Kläger in der Lage. Außerdem sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Sehkraft auf dem guten Auge abrupt nachlasse, so gering, dass auch in Anbetracht der erhöhten Gefahren, die mit einem Lkw verbunden sind, eine unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu Bewerbern um eine andere Fahrerlaubnisklasse nicht gerechtfertigt sei.
Da die FeV europäisches Recht umsetzt, kann der BayVGH die Vorschrift nicht einfach ignorieren, sondern muss den Fall dem EuGH vorlegen. Die Verwaltungsrichter stützen ihre Bedenken dabei auf die rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta, insbesondere wähnten sie in den Anforderungen an das Sehvermögen einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 21 Abs. 1) sowie die Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26). Gibt der EuGH dem deutschen Gericht Recht, wäre die Richtlinie insoweit nicht anwendbar, die Verwaltungsrichter bräuchten die Anlage 6 zur FeV nicht beachten und der einäugige Antragsteller dürfte endlich Lkw fahren.
Überzeugend ist die Argumentation des Gerichts nicht. Welche Anforderungen der europäische Richtliniengeber stellt, ist in weitem Umfang in sein Ermessen gestellt. Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz ist zudem absurd. Andernfalls würde jeder Durchschnittsbürger diskriminiert, der von einer Teilnahme am olympischen 100-Meter-Lauf nur deshalb ausgeschlossen ist, weil er – schon immer etwas fußlahm – für die Strecke wesentlich länger als zehn Sekunden braucht. Und immerhin geht es hier nicht um einen Kernbestand persönlicher Freiheit, also um eine Fahrerlaubnis an sich, sondern darum, ob jemand, der nicht optimal geeignet ist, den Beruf des Lkw-Fahres ausüben darf.
Der Autor Adolf Rebler ist Regierungsamtsrat in Regensburg und Autor zahlreicher Publikationen zum Straßenverkehrsrecht.
Adolf Rebler, Einäugiger will Lkw-Führerschein: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6761 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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