Die Unsicherheit über wirksame Maßnahme macht dem BVerfG sein Hauptgeschäft der Verhältnismäßigkeitsprüfung schwer. Für die künftige Pandemiepolitik buchstabiert die Entscheidung viel Raum, aber kaum Grenzen aus.
Während man im Spätsommer noch hatte hoffen können, dass die Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vor allem eine nachträgliche verfassungsrechtliche Abklärung der sog. "Bundesnotbremse" sein wird, verleiht das Pandemiegeschehen Stand November mit Rekordinzidenzen und einer neuen Virusvariante dem Karlsruher Beschluss von Dienstag gehörige Aktualität.
Die einstimmig ergangene Entscheidung des 1. Senats bewertet die Bundesnotbremse zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich dem ihrer Einführung Ende April. Eine Zeit, unter anderem geprägt von einer niedrigen Impfquote. Die Beschlüsse von Dienstag enthalten wenige Aussagen, die über eine nachträgliche verfassungsrechtliche Abklärung hinausgehen. Mehr hätten politische Entscheidungsträger über die Grenzen von Coronamaßnahmen erfahren können, wären die Entscheidungen anders ausgegangen und hätte das Gericht Teile der Bundesnotbremse für verfassungswidrig erklärt. Dann wäre es um Grenzmarkierungen nicht herumgekommen. Indem bei den zu überprüfenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschließungen - verkürzt gesagt - die Einschätzungen des Gesetzgebers für nachvollziehbar und tragfähig befunden wurden, fällt das Anschauungsmaterial für eine Grenzziehung bei nun neu zu aktivierenden Maßnahmen in der vierten Welle überschaubar aus.
Gegenstand der Entscheidung war der Maßnahmen-Katalog des Paragrafen 28b Infektionsschutzgesetz, der am 22. April 2021 eingefügt worden war und bis Ende Juni in Kraft blieb. Der Bund wollte damit sicherstellen, dass überall im Land dieselben Maßnahmen greifen, sobald sich die Corona-Lage in einer Region zuspitzt. Das hatte eine Klagewelle ausgelöst.
Viel Unsicherheit über Wirksamkeit ist schlecht für die Verhältnismäßigkeit
Bemerkenswert an der Entscheidung zur Bundesnotbremse erscheint auf den ersten Blick, dass die einzelnen Maßnahmen betont im Zusammenhang mit einem Gesamtkonzept geprüft werden, die Wirksamkeitsanteile der einzelnen Maßnahmen aber offenbleiben (müssen). Ein strukturelles Problem für das Kerngeschäft der Entscheidungsarbeit des BVerfG, der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Unter diesen Bedingungen lässt sich natürlich nicht sehr scharf erkennen, ob die eine oder andere Maßnahme aufgrund ihrer Kollateralschäden nicht mehr verhältnismäßig ist, weil ihre Wirksamkeit eher gering ausfällt, die Härte ihres Eingriffs aber beträchtlich ist.
Besonders deutlich wird das bei der nächtlichen Ausgangsbeschränkung. Schon bei der Einführung war kein Geheimnis daraus gemacht worden, dass es gar nicht um den Aufenthalt draußen ging, sondern darum, dass man nächtliche und möglicherweise ungehemmte Gruppentreffen drinnen unterbinden wollte. Da man solche aber für so gut wie nicht kontrollierbar hielt, setzte man auf die Stilllegung der nächtlichen Straße. Die Ausgangsbeschränkung war also eine Art Hilfsmaßnahme zu den Kontaktbeschränkungen, das Gericht spricht selbst von einer "unterstützende(n) Funktion" – allerdings mit schwerwiegenderer Eingriffstiefe.
Die der 1. Senat gleichwohl billigte: "Dass der Gesetzgeber sich angesichts seiner Erwägung, dass es zur Abend- und Nachtzeit gelöstes und geselliges Verhalten gibt, verbunden mit dem verstärkten Gefühl, im privaten Rückzugsbereich unbeobachtet zu sein, dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren, ist bei dieser Erkenntnislage nicht zu beanstanden."
Dabei bleibt der Wirksamkeitsanteil der Maßnahme für sich genommen vage: "Ungeachtet fachwissenschaftlich nicht abschließender Klärung, welchen genauen Beitrag Ausgangsbeschränkungen zur Eindämmung des Pandemiegeschehens leisten können, lassen die wissenschaftlichen Untersuchungen über die Wirkungen von nächtlichen Ausgangsbeschränkungen, auf die der Gesetzgeber ausdrücklich Bezug genommen hat […], die Maßnahme nicht als offensichtlich wirkungslos oder gar kontraproduktiv erscheinen."
Nächtliche Ausgangsbeschränkungen helfen, Kontakte zu reduzieren – ganztägige oder 24-Stunden-Beschränkungen hätten auch und noch mehr Kontakte reduziert – aber die grundrechtliche Frage für das BVerfG muss schließlich tiefenscharf lauten: Halten sich die Eingriffshärte für die Bürgerinnen und Bürger und der verbundene Pandemiebekämpfungserfolg bei jeder einzelnen Maßnahme in einem hinnehmbaren Verhältnis? Und wäre nicht, wenn die Unsicherheit über die Wirksamkeitsanteile der Maßnahme groß ist, die Gewissheit über die Eingriffsschwere aber ziemlich sicher, daran zu denken, dass eine solche scharfe Maßnahme im Zweifel nicht verhängt werden darf? Wäre nicht anderen milderen Mittels und ihrem Zusammenwirken der Vorzug zu geben?
Die Entscheidung fasst zusammen: "Den Beitrag von nächtlichen Ausgangsbeschränkungen im Schutzkonzept zur Verminderung des Sterberisikos und des Risikos schwerer Krankheitsverläufe durfte er als quantitativ und qualitativ erheblich veranschlagen. Da er die gegenläufigen gewichtigen Individualinteressen bei der Ausgestaltung des Gesamtschutzkonzepts und der Einzelmaßnahme der Ausgangsbeschränkungen berücksichtigt hat, war der von ihm vorgenommene Interessenausgleich verfassungsgemäß." An einigen Stellen liest sich die Entscheidung so, als habe das Gericht eine Art Gesamtrechnung für das Maßnahmenpaket angestellt – das ist grundrechtsdogmatisch jedenfalls neu.
Über Detailfragen in der dogmatischen Konstruktion dieser Entscheidungen dürfte in den nächsten Tagen in der Rechtswissenschaft viel diskutiert werden – wobei die BVerfG-Entscheidung zur Notbremse entgegen sonstiger Praxis bemerkenswert wenige Stimmen aus der Wissenschaft zitiert. Nicht wenige dieser Stimmen dürften sich auch fragen, inwiefern das Prüfungskonzept auf andere Rechtsbereiche übertragen werden könnte.
Schulschließungen als letztes Mittel?
In einem Interview mit dem ZDF-heute journal hatte der BVerfG-Präsident Stephan Harbarth Mitte November noch angekündigt, aus den ausführlichen Begründungen der Karlsruher Entscheidungen würden sich üblicherweise "Hinweise für Folgefragen, die sich stellen werden, etwa für kommende Pandemien oder für Maßnahmen in der gegenwärtigen Pandemie für die kommenden Monate" ergeben. Diese Hinweise sind recht subtil ausgefallen.
Insgesamt räumt die Entscheidung viel Handlungsspielraum ein, betont zugleich die Verantwortlichkeit des Gesetzgebers, während die verfassungsgerichtliche Kontrolle zurückgenommen wird: "Dieser Spielraum gründet auf der durch das Grundgesetz dem demokratisch in besonderer Weise legitimierten Gesetzgeber zugewiesenen Verantwortung dafür, Konflikte zwischen hoch- und höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden." Konkrete Aussagen für die nähere Zukunft der Pandemiebekämpfung in Deutschland finden sich kaum. Am deutlichsten fallen sie noch zum Thema Schulschließungen aus.
Mit ihrer Entscheidung zu den Schulschließungen erkennen die Richter erstmals ein "Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" an und stärken damit die Stellung dieser Gruppe auch im weiteren Verlauf der Pandemie. Das Verbot von Präsenzunterricht beeinträchtige dieses Recht schwerwiegend. Der Gesetzgeber habe angesichts der Situation im Frühjahr aber annehmen dürfen, "dass zwischenmenschliche Kontakte an den maßgeblichen Kontaktorten umfassend 'heruntergefahren' werden müssen".
Den Schulen war im April vorgegeben, ab dem Schwellenwert 100 auf Wechselunterricht umzustellen, ein Teil der Schüler musste also zu Hause bleiben. Ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 war Präsenzunterricht ganz untersagt, es gab aber eine Notbetreuung und Ausnahmen, zum Beispiel für Abschlussklassen. Das ist für die Verfassungsrichterinnen und -richter ein wichtiges Kriterium. Außerdem sei Distanzunterricht "im Grundsatz gewährleistet" gewesen. Die zusätzlichen Belastungen der Eltern seien "nur eine ungewollte Nebenfolge". Finanzielle Einbußen seien außerdem abgefedert worden.
Neuauflage der "Bundesnotbremse"?
Die geschäftsführende Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz (SPD) schalteten sich am Mittag mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder zusammen, um im Lichte der Karlsruher Entscheidungen über die Krise zu beraten. Außerdem sollte über die aktuelle Lage angesichts der drohenden Überlastung der Kliniken und der Ausbreitung der neuen Omikron-Variante des Virus gesprochen werden. Scholz zeigte dabei Sympathien für eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus.
Zahlreiche Politikerinnern und Politiker beriefen sich am Dienstag auf den Ausgang der Karlsruher Hauptsachentscheidung. Der Noch-Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) pocht als Reaktion auf eine bundesweit einheitliche Notbremse im Kampf gegen die grassierende vierte Pandemiewelle. "Wir brauchen jetzt eine Notbremse, die bundesweit nach einheitlichen und für die Bürger nachvollziehbaren Regeln funktioniert". Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) fordert nach der Karlsruher Entscheidung nun dringend eine neue "Bundesnotbremse".
Der noch amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn sah nach den Corona-Beschlüssen des BVerfG Klarheit für weitere Krisenmaßnahmen. Spahn betonte, der Richterspruch sei jedoch auch kein Freibrief für willkürliche Eingriffe in Grundrechte. Bundesweite Einschränkungen des öffentlichen Lebens müssten zeitlich befristet sein, regional ausdifferenziert werden und sich am Pandemiegeschehen orientieren.
"Das Urteil (sic) des Bundesverfassungsgerichts ist ein wichtiges Grundsatzurteil, das die Rahmenbedingungen für die Gesetzgebung in der Pandemiebekämpfung setzt. Es stuft die ergriffenen flächendeckenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen als mit dem Grundgesetz vereinbar und verhältnismäßig ein", sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Dirk Wiese. "Wir werden die Urteilsbegründung prüfen und kommende Maßnahmen, wie zum Beispiel regionale Lockdowns, daran orientieren. "Die erheblichen Bedenken, die das Bundesverfassungsgericht gegen die Schulschließungen aufzeigt, werden wir ernst nehmen", ergänzte Johannes Fechner, rechtspolitischer Sprecher der SPD im Bundestag.
Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen schrieb bei Twitter, das Urteil (sic) gebe Rechtssicherheit für zusätzliche Schutzmaßnahmen. Zuvor hatte er der dpa gesagt: "Wir brauchen einen einheitlichen Teil-Lockdown in vielen Regionen des Landes." Schulen und Kitas sollten mit Masken und täglichen Tests aber möglichst geöffnet bleiben.
Der designierte Justizminister Marco Buschmann (FDP) sieht keine Notwendigkeit für eine Kurskorrektur der Ampel-Parteien. Für die zur FDP gehörenden Beschwerdeführer sagte er aber, dass "wir uns natürlich insbesondere mit Blick auf die Ausgangssperren ein anderes Ergebnis gewünscht hätten."
Wieder Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes?
Der Deutsche Lehrerverband hat die Entscheidung des BVerfG zur Rechtmäßigkeit von Schulschließungen während der Geltungsdauer der sogenannten Bundesnotbremse begrüßt. "Schulschließungen sind demnach als 'Ultima Ratio' verfassungskonform, wenn sie dem höherrangigen Schutzauftrag des Staates für Leben und Gesundheit dienen und es keine milderen Maßnahmen mit gleicher Wirkung gibt", sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger.
Aus dem Gespräch von Scholz, Merkel und den Ministerpräsidenten ließ sich am späten Nachmittag vernehmen, dass die SPD-Seite bereit sei, das erst kürzlich geänderte IfSG wieder zu verschärfen. Dazu könnten zum Beispiel auch "zeitlich befristete Schließungen von Restaurants" gehören. Flächendeckende Schließungen von Gastronomie, Handel oder Schulen sind laut dem von SPD, Grünen und FDP geänderten Infektionsschutzgesetz derzeit nicht mehr möglich. Neu soll laut SPD-Seite die 2G-Regel auf den Einzelhandel ausgeweitet werden - also Zugang nur für Geimpfte und Genesene. Ausgenommen werden sollen Geschäfte des täglichen Bedarfs. Clubs, Diskotheken sollen nach den Vorschlägen der unions- oder Grünen-geführten Länder geschlossen beziehungsweise unterbunden werden, laut dem SPD-Papier in Gebieten mit hohen Inzidenzen.
Großveranstaltungen wollen beide Seiten deutlich einschränken - auch volle Fußballstadien seien nicht akzeptabel. In den Schulen soll nach den SPD-Vorschlägen generell wieder die Maskenpflicht gelten.
Nach BVerfG-Entscheidungen: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46796 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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