Briefwähler konnten ihre Stimme bereits etwa vier Wochen vor der Wahl abgeben. Das TV-Duell war da noch nicht gelaufen, die Pädophilie-Vorwürfe gegen die Grünen hatten noch nicht die Parteispitze erreicht, das Foto mit Peer Steinbrücks Stinkefinger war noch nicht veröffentlicht. Grundlos per Brief zu wählen ist zwar bequem, aber verfassungsrechtlich unhaltbar, meint Alexander Thiele.
Dieses Jahr durfte man das erste Mal bei der Bundestagswahl per Brief wählen, ohne dafür besondere Gründe glaubhaft machen zu müssen. Jeder Wähler konnte frei entscheiden, ob er sich erst am 22. September in die Wahlkabine begibt oder seinen Stimmzettel bereits sehr viel früher (und in den eigenen vier Wänden) ausfüllt. Die Zahl der Briefwähler hat denn auch – wie kaum anders zu erwarten – erneut deutlich zugenommen.
Aus der Perspektive des Bürgers ist eine solche "bequeme" Form der Stimmabgabe sinnvoll und praktisch – die Teilnahme an dem die Demokratie prägenden Wahlakt wird ihm dadurch ohne Frage erheblich erleichtert. Im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 ist die Wahlbeteiligung auch tatsächlich und erfreulicherweise (wenngleich geringfügig) gestiegen.
BVerfG hält "grundlose" Briefwahl für zulässig
Gleichwohl ist diese Neuregelung verfassungsrechtlich außerordentlich problematisch. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die parallele Bestimmung zur Europawahl unlängst als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft. Karlsruhe prüfte die Regelung allerdings allein an den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sowie dem Erfordernis der Öffentlichkeit der Wahl (Beschl. v. 09.07.2013, Az. 2 BvC 7/10).
Dabei ging das BVerfG davon aus, dass eine "grundlose" Briefwahl in die genannten Wahlgrundsätze eingreift. Das Ziel, eine möglichst umfassende Wahlbeteiligung zu erreichen, rechtfertige diesen Eingriff jedoch. Auch weil die Bereitschaft zu wählen schwinde, sei eine "grundlose" Briefwahl verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das ist zweifellos gut vertretbar.
Gleichzeitigkeit der Abstimmung wichtig
Unerwähnt ließ das BVerfG jedoch ein anderes, wesentliches Erfordernis für eine demokratische Mehrheitsentscheidung: die Gleichzeitigkeit der Abstimmung, ein Gebot, das unmittelbar im Demokratieprinzip wurzelt.
Meinungen und Ansichten sind einem ständigen Wandel unterworfen und hängen nicht zuletzt vom jeweiligen Kenntnis- und Diskussionsstand ab. Erstreckt sich die Mehrheitsentscheidung aber über einen längeren Zeitraum, wie dies bei der Briefwahl der Fall ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich einige Briefwähler am eigentlichen Tag der Wahl vielleicht anders entschieden hätten. Die erst am Wahlabend festgestellte Entscheidung gibt dann möglicherweise die wirklichen Mehrheitsverhältnisse schon nicht (mehr) zutreffend wieder.
Auch bei der Bundestagswahl 2013 sind einige möglicherweise für den Einzelnen entscheidende Dinge erst relativ spät bekannt geworden. Erwähnt seien nur die Pädophiliedebatte bei den Grünen oder der berühmte "Stinkefinger" von Peer Steinbrück. Wer bereits abgestimmt hatte, konnte diese Entwicklungen zwangsläufig (und anders als alle anderen) nicht mehr berücksichtigen. Diese Ereignisse mögen eher belanglos erscheinen. Was aber, wenn sich "Fukushima" nur wenige Tage vor dieser Wahl ereignet hätte?
Wahlgrundsätze stehen nicht zur Disposition des Wählers
Zwar entscheiden sich Briefwähler letztlich frei für diesen Informationsnachteil. Indes: Das Gebot der Gleichzeitigkeit ist essentiell für eine demokratische Mehrheitsentscheidung, wenn diese tatsächlich das aktuelle Meinungsspektrum widerspiegeln soll. Sie steht daher – wie im Übrigen die anderen Wahlgrundsätze auch – nicht zur Disposition des einzelnen Wählers.
Andererseits wird man aus diesem Grundsatz kein generelles Verbot der Briefwahl ableiten können. Am Wahltag verhinderten Bürgern eine Beteiligungsmöglichkeit einzuräumen, um so eine möglichst hohe Wahlbeteiligung zu sichern, erscheint zunächst einmal unbedenklich.
Zumindest zwei Dinge wird man jedoch festhalten können. Zum einen darf der Zeitraum, innerhalb dessen eine Briefwahl möglich ist, nicht zu groß sein, also nicht über einige wenige Wochen hinausgehen. Bereits heute seine Stimme für die Bundestagswahl 2017 abzugeben, wäre offenkundig unzulässig. Zum anderen muss die Briefwahl die Ausnahme bleiben, um eine Verfälschung des Abstimmungsergebnisses nach Möglichkeit zu verhindern.
Erfordernis eines normativen Regel-Ausnahme-Verhältnisses
Gerade deshalb aber muss der Gesetzgeber dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis zum Ausdruck bringen. Eine "grundlose" Briefwahl wird dem nicht gerecht. Denn dadurch animiert der Gesetzgeber nachgerade dazu, per Brief zu wählen, und erhöht unnötig das Risiko eines verfälschten Wahlergebnisses.
Bei kommenden Wahlen sollte die Briefwahl also zumindest wieder nur in besonderen Fällen zulässig sein, auch wenn die Stimmabgabe damit erneut etwas unbequemer würde.
Die Wiedereinführung der bisherigen Regelung wäre dazu ein erster Schritt in die richtige Richtung. Sollte die Zahl der Briefwähler gleichwohl weiter steigen, müsste sie allerdings eventuell sogar verschärft werden.
Der Autor Priv.-Doz. Dr. Alexander Thiele ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Allgemeine Staatslehre und Politische Wissenschaften der Universität Göttingen. Im WS 2013/2014 vertritt er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum.
Alexander Thiele, "Grundlose" Briefwahl: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9686 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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