Wer muss zu Unrecht Sicherungsverwahrte entschädigen? Um diese Frage ging es am Donnerstag vor dem BGH. Die Karlsruher Richter entschieden sich wie die Vorinstanzen für das Land als Anspruchsgegner. Damit sollte der Bund aber noch nicht fein raus sein, meint Marten Breuer, schließlich hat zu offensichtlich er die rechtswidrige Verwahrung verursacht.
Am Donnerstag fand unter starker medialer Aufmerksamkeit am Bundesgerichtshof (BGH) die mündliche Verhandlung zur Entschädigung ehemaliger Sicherungsverwahrter statt. Das Thema hat das Zeug zum Aufreger an Stammtischen: Verurteilte Sexualstraftäter erhalten aus Steuermitteln Geld wegen zu Unrecht verbüßter Haft?!
Allein, darum ging es in dem Verfahren vor dem BGH nicht. Dass die Kläger überhaupt Entschädigung erhalten müssen, hatte die Vorinstanz bereits abschließend entschieden. In dem Verfahren vor dem BGH ging es nur noch um eine sehr technische Frage, die angesichts der Zahl möglicher Parallelfälle allerdings durchaus von finanzieller Bedeutung ist: Wer muss für den Schaden aufkommen, der Bund oder das Land? Der BGH antwortete, unisono mit den Vorinstanzen: das Land Baden-Württemberg (Urt. v. 19.09.2013, Az. III ZR 405 bis 408/12).
Ein verfassungsmäßiges Gesetz – und dann doch nicht
Dass es zu dieser Frage überhaupt kommen konnte, lag an der ungewöhnlichen Vorgeschichte der Sicherungsverwahrung. Straftäter, die ihre Strafe verbüßt hatten, jedoch nach Einschätzung der Behörden immer noch gefährlich waren, durften zunächst für maximal zehn Jahre in Sicherungsverwahrung genommen werden.
Im Jahr 1998 hob der Bundesgesetzgeber diese Höchstfrist auf, und zwar nicht nur für Neufälle, sondern auch für Täter, die noch unter der Altregelung in Sicherungsverwahrung genommen worden waren. Das war verfassungsrechtlich riskant, denn nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG) gilt im Strafrecht ein strenges Rückwirkungsverbot.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) winkte das Gesetz dennoch in einem ersten Anlauf im Jahr 2004 durch mit dem Argument, bei der Sicherungsverwahrung handele es sich nicht um eine "Strafe", so dass das weniger strenge allgemeine Rückwirkungsverbot gelte. Wäre es dabei geblieben, es gäbe heute nichts zu entschädigen.
Doch nun betritt ein weiterer Akteur die Bühne: der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Ende 2009 urteilte er, dass aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) die Sicherungsverwahrung sehr wohl als "Strafe" zu qualifizieren sei und die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung daher sowohl gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 7 EMRK) als auch gegen das Recht auf Freiheit der Person (Art. 5 EMRK) verstößt. Das BVerfG nahm den Ball auf und entschied 2011, dass sich aufgrund der Wertung von Art. 7 Abs. 1 EMRK "das Gewicht des Vertrauens der Betroffenen einem absoluten Vertrauensschutz annähert".
Art. 5 EMRK regelt Anspruchsgegner nicht
Diese Vorgeschichte muss man im Hinterkopf behalten, um die Pointe des Falles verstehen zu können: Als die Richter in den Ausgangsfällen auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist die Fortdauer der Sicherungsverwahrung anordneten, taten sie dies zunächst aufgrund der damals bestehenden und vom BVerfG für verfassungsgemäß befundenen Gesetzeslage.
Erst später stellte sich heraus, dass die nachträglich verlängerte Sicherungsverwahrung menschenrechts- und verfassungswidrig war. Daraus ergibt sich nun die Frage, wer die Zeche zu zahlen hat: der Bund, der die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung kraft Gesetzes angeordnet hat, oder das Land Baden-Württemberg, dessen Gerichte das Gesetz des Bundes ausgeführt haben?
Auf den ersten Blick ist man geneigt zu sagen: der Bund, weil er die Rechtsverletzung verursacht hat. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Die Vorinstanzen hatten einen Schadensersatzanspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK zugesprochen. Das Problem: die Vorschrift schweigt sich über die Frage aus, gegen wen der Anspruch zu richten ist.
Land könnte Bund in Regress nehmen
Die Antwort, die der BGH nun gegeben hat, ist gleichermaßen kryptisch wie unbefriedigend. In der Pressemitteilung heißt es: "im Rahmen der innerstaatlichen Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ist der Hoheitsträger verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt wurde". Man möchte antworten: quod erat demonstrandum – was zu beweisen war.
Dass es ganz so einfach dann doch nicht ist, zeigt folgende Überlegung: Als der EGMR im Jahr 2009 die deutsche Regelung für konventionswidrig erklärte, sprach er dem Beschwerdeführer eine immaterielle Entschädigung von 50.000 Euro zu. Wer kam hierfür auf? Der Bund. Und zwar allein deshalb, weil vor dem EGMR in Straßburg immer nur der Gesamtstaat, nie ein einzelnes Bundesland belangt werden kann.
Seit 2006 gibt es nun im Grundgesetz eine Bestimmung, die die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern bei der Verletzung supranationaler oder völkerrechtlicher Verpflichtungen regelt, Art. 104a Abs. 6 GG. Das hierzu ergangene Lastentragungsgesetz (LastG) geht von dem Grundsatz aus, dass die finanzielle Last nach dem Verursacherprinzip zu verteilen ist. Wer möchte bestreiten, dass letztlich der Bund die rechtswidrige Sicherungsverwahrung verursacht hat, dieser also auch haftungsrechtlich einstehen sollte?
Versetzt man sich in die Rolle der Kläger, ist den Urteilen des BGH dennoch zuzustimmen: Wie sollen die zu Unrecht Sicherungsverwahrten beurteilen können, wem die Rechtsverletzung letztlich zuzuschreiben ist? Unmittelbar gehandelt haben ihnen gegenüber die Richter des Landes Baden-Württemberg. Hätte der BGH allein den Bund für haftbar erklärt, die Kläger hätten Steine statt Brot erhalten.
Es bleibt allerdings ein gewisses Unbehagen, weil Verursacher zu offensichtlich der Bund ist. Eine Lösung könnte möglicherweise darin liegen, dass das Land den Bund wegen der Schadensersatzzahlung in Regress nimmt. Dadurch ließen sich Verursachung und Kostentragung in Einklang bringen. Denn eines kann wohl nicht sein: Dass das Land Baden-Württemberg endgültig die Suppe auslöffeln muss, die ihm der Bund eingebrockt hat.
Der Autor Prof. Dr. Marten Breuer ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit internationaler Ausrichtung an der Universität Konstanz.
Marten Breuer, Entschädigung für Ex-Sicherungsverwahrte: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9598 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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