Bei Urheberrechtsverletzungen im Internet können Netzsperren den Zugang zu ganzen Websites abschalten - sie sind aber umstritten. Wann sie zum Einsatz kommen, entscheidet nun der BGH. Christian Leuthner und Joana Becker geben einen Ausblick.
Es ist das drastischste Mittel bei Urheberrechtsverletzung im Internet: Das Sperren einer ganzen Internetseite. Am Donnerstag verkündet der Bundesgerichtshof (BGH) (Az. I ZR 111/21) seine Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen Rechtsinhaber von Internetzugangsanbietern wie zum Beispiel Deutsche Telekom oder 1&1 (sogenannte "Access Provider") eine solche Netzsperre beanspruchen können.
Worum geht es in dem Verfahren?
Wissenschaftsverlage aus Deutschland, den USA und Großbritannien verklagen Deutschlands größten Access Provider, die Deutsche Telekom und machen einen Anspruch auf Sperrung des Zugangs zu mehreren Internetseiten der Dienste "LibGen" und "Sci-Hub" geltend. Über diese Dienste können Nutzer verschiedene Bücher oder wissenschaftliche Aufsätze abrufen, die auf kostenpflichtigen Websites veröffentlicht werden. Bei den kostenfrei angebotenen Werken soll es sich überwiegend um urheberrechtlich geschützte Werke handeln. Das Geschäftsmodell der Dienste beschränkt sich daher wohl nahezu ausschließlich auf die Veröffentlichung von urheberrechtlich geschützten Werken.
Die Verlage behaupten, dass ihnen an verschiedenen dieser Werke, ausschließliche weltweite Nutzungsrechte zustehen, welche durch das kostenfreie Anbieten verletzt würden.
Die Verlage versuchten zunächst gegen die beiden Dienste selbst vorzugehen. Die Betreiber eines der Dienste konnte jedoch nicht identifiziert werden. Der Betreiber des zweiten Dienstes mit angeblichem Wohnsitz in Kasachstan, reagierte überhaupt nicht auf Kontaktversuche. Weitergehende Ermittlungen sowie Abmahn- oder Auskunftsersuchen hinsichtlich beider Dienste blieben erfolglos.
Ihr Glück versuchten die Verlage deshalb auch bei den Anbietern von Speicherplatz und Webleistungen, die für die Dienste eingesetzt wurden (sog. Hostprovider). Allerdings blieben auch diese außergerichtlichen Versuche erfolglos. Zumindest einer der Hostprovider hatte seinen Sitz in Schweden, war potentiell also erreichbar. Zum einen hätten die Hostprovider dazu verpflichtet werden können, die Inhalte der Dienste zu entfernen, was einen deutlich geringen Eingriff als die Netzsperre bedeutet hätte. Zum anderen hätten sie auch Informationen zu den Identitäten der Dienstebetreiber herausgeben können, was den Verlagen die Rechtsverfolgung ermöglicht hätte.
Da jedoch die oben genannten Versuche, gegen die Dienste oder die Hostprovider vorzugehen, erfolglos blieben, beantragten die Verlage deshalb die Einrichtung einer Netzsperre - vorgesehen in § 7 Abs. 4 Telemediengesetz (TMG) -, um die rechtswidrige Verbreitung der Inhalte zu verhindern.
Die Beklagte hält dem insbesondere entgegen, dass die Verlage nur unzureichend gegen die Dienste sowie die Hostprovider vorgegangen seien. Zumindest gegen den in Schweden ansässigen Hostprovider, hätten die Verlage gerichtliche Schritte ergreifen müssen, etwa Auskunftsansprüche geltend machen müssen.
Das LG München hielt eine Netzsperre für gerechtfertigt
In der ersten Instanz gab das Landgericht (LG) München den Verlagen Recht. § 7 Abs. 4 TMG gewährt Rechteinhabern einen Anspruch auf Sperrung von Informationen, um die Wiederholung der Rechtsverletzung zu verhindern, wenn ein Telemediendienst (z.B. eine Website) durch einen Nutzer für die Rechtsverletzung verwendet wurde und für den Rechteinhaber keine andere Möglichkeit besteht, die Verletzung zu beenden. Die Sperrung muss außerdem zumutbar und verhältnismäßig sein. Dieser Anspruch ist nicht nur gegen WLAN-Betreiber durchsetzbar, sondern auch gegen andere Access Provider und stellt einen echten Leistungsanspruch auf Sperrung dar, wie der BGH bereits 2018 entschieden hat.
Nach Ansicht des LG München dürfen die Anforderungen, hinsichtlich alternativer Maßnahmen nicht überspannt werden. Das Tatbestandsmerkmal dürfe nicht dazu führen, dass der Anspruch durch umfassende Nachforschungs- und Rechtsverfolgungspflichten ins Leere laufen würde und sei daher unionrechtskonform eng auszulegen.
Die Verlage seien ihren Nachforschungspflichten nachgekommen und waren insbesondere nicht verpflichtet, gerichtliche Maßnahmen gegen den Hostprovider in Schweden einzuleiten, bevor sie gegen die Beklagte als Access Provider in Deutschland vorgehen konnten.
Die Tatsache, dass die streitgegenständlichen Webseiten auf zahlreichen Servern gehostet waren, spreche dafür, dass ein Hostproviderwechsel für die Webseiten Betreiber jederzeit unschwer möglich wäre, sodass ein vollstreckbarer Auskunftsanspruch gegen den Hostprovider ohnehin kaum Wirkung entfalten könne.
Das Landgericht München führte zudem aus, dass die Einrichtung einer Netzsperre auch effektiv, zumutbar und verhältnismäßig sei. Die Gefahr, dass mit einer Netzsperre auch legale Inhalte von Webseiten blockiert würden (sog. "Overblocking") sei nicht gegeben, da die streitgegenständlichen Webseiten fast ausschließlich illegale Inhalte enthielten.
Das OLG München war anderer Meinung
Das Oberlandesgericht (OLG) München hob das vorinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab.
Nach Ansicht des OLG München hatten die Verlage gerade keine hinreichenden Bemühungen vorgenommen, um gegen die Rechtsverletzung vorzugehen. Der Anspruch auf Netzsperre solle nur dann greifen, wenn der eigentliche Rechtsverletzer nicht vorrangig verfolgt werden könne.
Die Verlage hätten darlegen und beweisen müssen, dass ihnen keine anderen Abhilfemaßnahmen, wie zum Beispiel die gerichtliche Auskunfts- und Beseitigungsansprüche, zur Verfügung standen, als den Access Provider in Anspruch zu nehmen. Insbesondere seien die Verlage auch nicht zumutbar gegen die Betreiber der beanstandeten Webseiten vorgegangen, die die Rechtsverletzung selbst begangen oder die Hostprovider, die durch die Erbringung von Dienstleistungen jedenfalls zu der Rechtsgutsverletzung beigetragen haben.
Anders als das LG München, sah das OLG die den Verlagen im Einzelfall zumutbaren Maßnahmen hier als nicht ausgeschöpft an, um die Identität der Dienstebetreiber "LibGen" und "Sci-Hub" zu klären und diese in Anspruch zu nehmen. Nach Ansicht des OLG sei es zumutbar gewesen, vorrangig gegen den von beiden Diensten genutzten und teilweise in Schweden ansässigen Hostprovider vorzugehen. Die Verlage hätten sich insofern nicht darauf beschränken dürfen, Informations- und Abmahnschreiben an die Hostprovider zu versenden, sondern hätten vielmehr gerichtlich gegen einen in der EU ansässigen Hostprovider vorgehen müssen.
Denn zum einen sei innerhalb der EU davon auszugehen, dass in allen Mitgliedstaaten eine gleichwertige Rechtsprechung existiere und zum anderen aufgrund der Harmonisierung des Urheberrechts durch die Enforcement-RL (RL 2004/48/EG) auch ein gleichwertiger Auskunftsanspruch als effektiver Rechtsbehelf verfügbar sei.
Bereits 2015 hatte der BGH für zwei Fälle entschieden, dass Access Provider prinzipiell zur Sperrung von Webseiten verpflichtet werden können. Auch in diesen Fällen betonte der BGH, dass dies aber nur dann gelten könne, wenn der Rechteinhaber zuvor alle ihm zumutbaren Maßnahmen, wie die Beauftragung einer Detektei, eines Unternehmens, das Ermittlungen im Zusammenhang mit rechtswidrigen Angeboten im Internet durchführt, oder Einschaltung der staatlichen Ermittlungsbehörden, gegen den Betreiber der Webseite bzw. die Hostprovider unternommen hat. Der BGH soll nun über die Frage zu entscheiden, ob die durch die Verlage ergriffenen Maßnahmen bereits ausreichend waren, um eine Netzsperre gegen Access Provider durchsetzen zu können oder ob auch insbesondere die gerichtliche Anspruchsverfolgung (zumindest innerhalb der EU) erforderlich ist.
Folgen der BGH-Entscheidung für die Praxis
"Eine Sperrung ist das letzte Mittel", betonte der Vorsitzende Richter Thomas Koch in der mündlichen Verhandlung im Juni. Es bestehe die Gefahr, dass auch der Zugang zu legalen Inhalten gesperrt würde, drückte Koch seine Besorgnis aus. Was das aber konkret für die Voraussetzungen der Sperrung heißt, ist offen.
Die Entscheidung des BGH wird mit Spannung erwartet. Sollte der BGH die ergriffenen Maßnahmen bereits als ausreichend ansehen, könnte dies für die Praxis weitreichende Folgen haben.
Die Bejahung des Anspruchs gegen den Access Provider könnte dazu führen, dass Netzsperren nicht mehr nur das letzte Mittel zur Beseitigung von Rechtsverletzungen sind, sondern bereits bei mangelnder Identifizierbarkeit der Rechtsverletzer oder fehlender Kontaktmöglichkeiten zu diesen eingesetzt werden könnten. Access Provider könnten sich einer Vielzahl von Ansprüchen ausgesetzt sehen. Schon die erfolglose Abmahnung sowie Nachforschungen wären bereits ausreichend. Und das trotz eines im Land des Sitzes des Host Providers im Vergleich zu Deutschland gleichwertigen Rechtsschutzes und harmonisierten Urheberrechts.
Davon abgesehen werden durch Netzsperren regelmäßig auch der Zugang zu legalen Inhalten für Nutzer blockiert, sodass geringere Anforderungen an die Durchsetzbarkeit einer Netzsperre auch eine größere Gefahr des "Overblockings" und des Eingriffs in Grundrechte Dritter bedeuten. Nicht immer ist der Sachverhalt so eindeutig, dass nur illegale Inhalte vorhanden sind.
Eine Bestätigung der Entscheidung des Berufungsgerichts durch den BGH hingegen, würde seine Rechtsprechung aus 2015 fortschreiben, wonach eine Netzsperre nur das letzte Mittel sein darf, um Rechtsverletzungen zu beseitigen. Insbesondere muss das Kriterium der Ausschöpfung aller zumutbaren Maßnahmen gegen den jeweiligen Rechtsverletzer für den jeweiligen Einzelfall beurteilt werden. Jedenfalls bei einem in der EU ansässigen Rechtsverletzer wären dann also zunächst gerichtliche Schritte zu unternehmen, bevor der Internetzugangsanbieter in Anspruch genommen werden darf.
BGH vor Urteil: . In: Legal Tribune Online, 12.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49867 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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