Kommenden Donnerstag verhandelt der BGH über die Zulässigkeit von Werbung für einen digitalen Arztbesuch per App. Thomas Utzerath mit dem Überblick und zu den juristischen Kernfragen des Falls.
Es klingt verlockend: "Bleib einfach im Bett, wenn Du zum Arzt gehst". Mit dieser Aussage sowie der Ankündigung, dass die komplette ärztliche Versorgung inklusive "Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung" mittels einer App online erfolgen könne ("Alles per App"), hat ein Krankenversicherungsunternehmen im Internet seine Leistungen beworben. Zu diesen Leistungen gehört insbesondere auch ein sogenannter digitaler Arztbesuch bei in der Schweiz niedergelassenen Ärzten in nicht näher konkretisierten Behandlungsfällen.
Für dieses vollmundige Versprechen ist der Versicherer nun verklagt worden. Ein Wettbewerbsverband sieht in dieser Werbung für ärztliche Fernbehandlungen in Form eines digitalen Arztbesuchs, der den persönlichen Kontakt zum Arzt vollständig ersetzen soll, einen Verstoß gegen das in § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG) geregelte Fernbehandlungsverbot. Sowohl das Landgericht (LG) München in der ersten Instanz als auch das mit der Berufung des Versicherers angerufene Oberlandesgericht (OLG) München gaben dem Wettbewerbsverband Recht und haben die Werbung verboten.
Damit ist die Sache aber nicht erledigt, sie beschäftigt den Bundesgerichtshof (BGH) natürlich nicht ohne Grund:
Nach der bis zum 18. Dezember 2019 geltenden alten Rechtslage war die Werbung für Videosprechstunden zum Zwecke der Diagnose und Therapie von Krankheiten generell verboten. Der Arzt sollte sich vielmehr ein unmittelbares Bild durch eigene Wahrnehmung verschaffen. Das Verbot galt jedoch nach überwiegender Auffassung nicht für die Fernbehandlung an sich, sondern nur für die sich hierauf beziehende Werbung.
Im ärztlichen Berufsrecht galt indes lange Zeit der Grundsatz, dass auch die ärztliche Beratung und Behandlung selbst nur im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient, d.h. unter physischer Präsenz des Arztes, erfolgen soll.
Was nun?
Liberalisierungstendenzen im ärztlichen Berufsrecht und im HWG
Mit dem Beschluss des 121. Deutschen Ärztetages im Mai 2018 hat die Ärzteschaft jedoch auf den durch die Digitalisierung bedingten Wandel der Gesundheitsversorgung reagiert und das in § 7 Abs. 4 Musterberufsordnung für Ärzte (MBO-Ä) niedergelegte sogenannte Fernbehandlungsverbot gelockert. Im Einzelfall soll nunmehr auch die ausschließliche Fernbehandlung ohne vorherigen persönlichen Erstkontakt zwischen Arzt und Patient (also ohne eigene physische Wahrnehmung/Untersuchung des Patienten) unter bestimmten Voraussetzungen zulässig sein. Der "unmittelbare persönliche Kontakt" zwischen Arzt und Patient soll allerdings nach der klaren Festlegung der Bundesärztekammer weiterhin den "Goldstandard" bilden.
Der Gesetzgeber hat daraufhin mit dem am 19. Dezember 2019 in Kraft getreten Digitalen Versorgungs-Gesetz (DVG) nachgezogen und der bisherigen Regelung in § 9 HWG einen neuen Satz 2 hinzugefügt. Danach ist das Verbot in Satz 1 nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers für die Neuregelung war dabei die Stärkung des Einsatzes der Telemedizin.
In dem Rechtsstreit zwischen dem klagenden Wettbewerbsverein und dem beklagten Krankenversicherungsunternehmen ergab sich damit die Besonderheit, dass sich die Rechtslage in Bezug auf das Werbeverbot für Fernbehandlungen während des anhängigen Berufungsverfahrens geändert hat.
In solchen Fällen gilt nach der ständigen Rechtsprechung des BGH, dass das beanstandete Verhalten sowohl zum Zeitpunkt seiner Vornahme als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz rechtswidrig sein muss. Gleichwohl hat das OLG München trotz der Liberalisierung des Werbeverbotes für Fernbehandlungen während des Berufungsverfahrens im Ergebnis einen Verstoß sowohl nach alter als auch nach neuer Rechtslage bejaht.
OLG München: Grundsätzlich eine persönliche Untersuchung durch den Arzt
Das OLG München hat seine Entscheidung damit begründet, dass nach altem Recht jegliche Werbung für Fernbehandlungen schon a priori unzulässig sei - und zwar unabhängig davon, ob die beworbene Behandlung selbst unzulässig ist.
Auch nach neuem Recht sei die Werbung im Ergebnis unzulässig, so das OLG. Der Gesetzgeber habe trotz der Gesetzesänderung an der grundsätzlichen Wertung festgehalten, dass eine Werbung für Fernbehandlungen wegen der Gefahren für die Gesundheit im Regelfall untersagt sei. Lediglich in dem Fall, dass "nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist", sei die Werbung mit Fernbehandlungen gesetzlich ausnahmsweise erlaubt. Ein allgemein anerkannter fachlicher Standard sei in dem Streitfall, der nun beim BGH liegt, jedoch nicht erkennbar.
Im Gegensatz zu den Vorgaben im ärztlichen Berufsrecht, die den jeweiligen Einzelfall im Blick haben, sei im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung eine abstrakt-generalisierende Bewertung erforderlich, da sich die Werbung unabhängig von einer konkreten Behandlungssituation an eine Vielzahl individuell nicht näher bestimmbarer Personen richte. Grundsätzlich erfordere jeder Krankheitsverdacht nach allgemeinen fachlichen Standards eine Basisuntersuchung durch Funktionsprüfung und Besichtigung des Patienten bzw. der Patientin, was insbesondere für Krankschreibungen gelte, schloss das OLG seine Begründung ab.
Wie wird nun der BGH entscheiden?
Das OLG München hat im Ergebnis die neue Ausnahmeregelung in § 9 S. 2 HWG auf Werbemaßnahmen für Fernbehandlungen beschränkt, die in jedem Einzelfall zulässig sind. Dies aber lässt sich nur schwer mit dem Ziel des Gesetzgebers in Einklang bringen, den Einsatz der Telemedizin zu stärken.
Dass der BGH deshalb gleich anders als das OLG entscheiden wird und die Entscheidungen der Vorinstanzen aufheben wird, ist im konkreten Fall gleichwohl nicht zu erwarten. Denn letztlich erscheint die werbliche Aufforderung an die Patientinnen und Patienten, bei allen nicht näher spezifizierten Krankheiten einfach im Bett zu bleiben und "alles per App" zu erledigen doch etwas zu pauschal.
Spannend dürfte aber sein zu sehen, ob der BGH zum Begriff der "allgemein anerkannten fachlichen Standards" detailliertere Ausführungen macht und gegebenenfalls auch klarstellt, dass hierunter nicht nur fachliche Leitlinien zur ausschließlichen Fernbehandlung fallen.
Für die Praxis bedeutet das nun erst einmal nicht, dass Arztbesuche in Kürze überflüssig werden und vollständig durch Videosprechstunden ersetzt werden können. Der "unmittelbare persönliche Kontakt" zwischen Arzt und Patient wird weiterhin der "Goldstandard" sein. Dementsprechend wird auch künftig nur für solche Fernbehandlungen oder -diagnosen eine Werbung erlaubt sein, die sich auf Krankheiten beziehen, die sich durch visuellen oder akustischen Eindruck des Arztes relativ zuverlässig einschätzen lassen. Das kommt beispielsweise für einige Hauterkrankungen in Betracht, aber auch für leichtere saisonale Erkältungen wie Husten oder Schnupfen – wenngleich auch hier nicht zuletzt mit Blick auf Covid-19 mit einer voreiligen Diagnose Zurückhaltung geboten ist.
Im Übrigen bleibt die Entwicklung neuer Leitfäden der ärztlichen bzw. medizinischen Fachgesellschaften zur (ausschließlichen) Fernbehandlung abzuwarten. Doch auch dann gilt: Für Krankheiten, bei denen eine körperliche Untersuchung erforderlich ist, dürfte es auch künftig beim persönlichen Arztkontakt bleiben.
Der Autor Dr. Thomas Utzerath ist Rechtsanwalt in Düsseldorf. Er berät und vertritt insbesondere Unternehmen aus der Arzneimittel- und Medizinproduktebranche.
BGH zur Werbung für den Arztbesuch per App: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46221 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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