Der BGH hat über drei Todesfälle durch Raser entschieden. Alle Angeklagten, auch die Raser vom Ku’damm, werden eher glimpflich davonkommen. Für Michael Kubiciel würden aber selbst harte Urteile deutsche Straßen nicht sicherer machen.
Auf deutschen Straßen sterben Jahr für Jahr rund 3.200 Menschen, fast 400.000 werden verletzt. Zwar gehen diese Zahlen dank der verbesserten Fahrzeugschutztechnik seit einigen Jahren zurück. Dennoch fordert der deutsche Straßenverkehr in einem Jahr immer noch fast doppelt so viele Todesopfer je hunderttausend Einwohner wie in Norwegen, Großbritannien und Schweden.
Der Grund dafür liegt in der täglich auf den Straßen zu beobachtenden und von Verkehrspolizisten und -richtern bestätigten zunehmenden Rücksichtslosigkeit deutscher Autofahrer. Der Sittenverfall ist zunächst Ausdruck einer egoistischen Gesellschaft, deren Mitglieder sich nicht mehr als Teil eines Ganzen – d.h. als Verkehrsteilnehmer – betrachten, sondern als Solisten, die ausschließlich eigene Ziele verfolgen: das eigene Fahrtziel, das es möglichst schnell zu erreichen gilt, oder schlicht den Kick beim Rasen. Der andere Auto- oder Radfahrer erscheint dann nicht als Mensch oder Rechtssubjekt, sondern als Hindernis oder Slalomstange, die es zu umfahren gilt.
Deutschlands mildes Straßenverkehrsrecht
Gefördert wird diese Haltung auch dadurch, dass Verkehrsverstöße in Deutschland vergleichsweise milde und eher selten geahndet werden, weil der Bußgeldkatalog täterfreundlich und die Kontrolldichte gering ist. Wer etwa innerhalb geschlossener Ortschaften 100 km/h anstatt 50 km/h fährt, muss in der Regel nur mit einem Bußgeld von 200 Euro und einem einmonatigen Fahrverbot rechnen. Dennoch können Strafrichter unzählige Geschichten von Kraftfahrern erzählen, die gegen derartige Sanktionen Einspruch einlegen und sich über die "Zumutung" eines – in der Regel: einmonatigen! – Fahrverbots beklagen. Zum Vergleich: Für dasselbe Fahrverhalten werden in manchen europäischen Staaten vierstellige Bußgelder fällig, während in anderen sogar ein Strafverfahren eingeleitet und das Fahrzeug eingezogen wird.
An der Milde des deutschen Straßenverkehrsrechts etwas ändern oder gar ein Tempolimit auf Autobahnen einführen zu wollen, ist in etwa so aussichtsreich wie es die zahllosen Initiativen in den USA gewesen sind, den Verkauf von Schusswaffen zu regulieren. Die Gründe für das Scheitern dieser Initiativen sind hier wie dort dieselben: Eine erfolgreiche Lobbyarbeit trifft mit der soziokulturell tiefverwurzelten, ja archaischen Auffassung zusammen, dass ein freier Mann das Recht auf einen möglichst unbegrenzten Zugang zu Waffen bzw., hierzulande, einer möglichst unbegrenzten Nutzung seines Autos haben sollte.
Wo aber Regelverstöße selten und milde geahndet werden, erodieren rechtliche und moralische Normen. Über die Konsequenzen wird inzwischen täglich berichtet: Diese reichen von Autofahrern, die durch Rettungsgassen den Stau durchfahren wollen bis hin zu Gaffern, die Handyaufnahmen von (tödlich verletzten) Unfallopfern machen.
Vor deutschen Gerichten kommen Raser glimpflich davon
Dazu kommt jenes Phänomen, das sich vor einigen Jahren in deutschen Städten auszubreiten begann: illegale Autorennen im innerstädtischen Bereich. Diese haben in den vergangenen Jahren zu einer beträchtlichen Zahl von (Todes-)Opfern geführt. Dass sich dieses Phänomen gerade in Deutschland stark ausgebreitet hat, dürfte vor allem an der geschilderten Milde liegen, mit denen das deutsche Recht Regelverstöße im Straßenverkehr entgegen zu treten pflegt: In einem Land, in dem selbst eine erhebliche Geschwindigkeitsübertretung als Kavaliersdelikt bezeichnet und dementsprechend milde sanktioniert wird, stellt für manche selbst das Rasen durch eine Stadt keinen Tabubruch mehr dar, bei dem strenge Strafen einkalkuliert werden.
In der Schweiz und anderen Nachbarländern, die schon kleinere Geschwindigkeitsübertretungen konsequent verfolgen, gibt es hingegen keine vergleichbare Häufung von illegalen Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge. Stattdessen verabreden sich Franzosen und Schweizer immer öfter, um auf deutschen Straßen und Autobahnen Rennen zu fahren.
Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: ein fehlendes Tempolimit und der Umstand, dass Raser, die Menschen getötet haben, vor deutschen Gerichten häufig genug glimpflich davon gekommen sind. Traurige Berühmtheit hat dabei der Kölner Fall erlangt, bei dem zwei Männer in Folge einer rennähnlichen Fahrt den Tod einer jungen Studentin verursacht haben – und zu Bewährungsstrafen verurteilt worden sind.
Das Mord-Urteil aus Berlin und was der BGH daran kritisiert
Einen deutlichen und kontrovers diskutierten Kontrapunkt hat im vergangenen Jahr das Landgericht (LG) Berlin gesetzt, als es die extreme und tödlich endende Fahrweise zweier junger Männer als Mord bewertet hat.
Diese Verurteilung hat der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag aufgehoben, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen moniert der 4. Senat, nach den Urteilsfeststellungen hätten die Angeklagten die Möglichkeit eines für einen anderen Verkehrsteilnehmer tödlichen Ausgangs ihres Rennens erst erkannt und billigend in Kauf genommen, als sie in die Unfallkreuzung einfuhren. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Angeklagten jedoch keine Möglichkeit mehr gehabt, den Unfall zu verhindern. Daher sei das zu dem tödlichen Unfall führende Geschehen bereits unumkehrbar in Gang gesetzt, bevor die für die Annahme eines Tötungsvorsatzes erforderliche Vorstellung bei den Angeklagten entstanden war. Schon dies stehe einer Einstufung als vorsätzliches Tötungsdelikt entgegen.
Damit aber nicht genug: Der Senat kritisiert auch den Umgang des LG mit dem Einwand der Verteidigung, dass eine etwaige Eigengefährdung der Angeklagten im Falle eines Unfalls dagegen spreche, dass sie mit Tötungsvorsatz handelten. Diesem Einwand waren die Berliner Richter mit dem Argument entgegen getreten, die Angeklagten hätten sich in ihren Fahrzeugen absolut sicher gefühlt und eine Eigengefährdung ausgeblendet. Mit dieser Erwägung, so der BGH, sei es aber nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen, dass die Männer, wie das LG angenommen hat, bezüglich der tatsächlich verletzten Beifahrerin des einen von ihnen schwere und sogar tödliche Verletzungen als Folge eines Unfalls in Kauf genommen haben. Diesen Widerspruch habe die Kammer nicht aufgelöst.
Außerdem sei die Annahme, die Angeklagten hätten sich in ihren Fahrzeugen absolut sicher gefühlt, nicht in der erforderlichen Weise belegt.
Für rechtsfehlerhaft hält der 4. Strafsenat des BGH schließlich auch die Verurteilung des Angeklagten, dessen Fahrzeug nicht mit dem des Unfallopfers kollidiert ist. Aus den Urteilsfeststellungen ergebe sich nicht, dass die Angeklagten ein Tötungsdelikt als Mittäter begangen haben. Die Verabredung, gemeinsam ein illegales Straßenrennen auszutragen, sei, so der BGH, nicht mit einem gemeinsamen Tötungstatplan gleichzusetzen und reiche für die Annahme eines mittäterschaftlichen Tötungsdelikts nicht aus.
Künftige Verurteilungen wegen vorsätzlicher Tötung bleiben möglich
Das ist eine beeindruckende Liste von Rechtsfehlern, die der 4. Strafsenat im Urteils des LG ausgemacht hat. Sie macht eine Antwort auf die Frage entbehrlich, über die in Wissenschaft und Gesellschaft intensiv diskutiert worden ist: Handelt bedingt vorsätzlich, wer mit hoher Geschwindigkeit über mehrere rote Ampeln in der Berliner Innenstadt rast (wie es der Großteil der zum diesem Fall erschienen strafrechtswissenschaftliche Beiträge meint)? Der BGH hat diese Frage – soweit sich dies nach den bislang vorliegenden Informationen sagen lässt – weder verneint noch bejaht. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass es in Zukunft zu einer Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes kommen wird.
Darauf deutet auch eine zweite Entscheidung vom heutigem Donnerstag hin: Diese hebt eine Verurteilung eines 20-jährigen Autofahrers wegen fahrlässiger Tötung auf. Auch dieser Fahrer war mit krass überhöhter Geschwindigkeit über eine rote Ampel gefahren und hatte dabei einen anderen Verkehrsteilnehmer getötet. Das Landgericht Frankfurt a.M. hatte darin "nur" eine fahrlässige Tötung gesehen.
Dies zieht der 4. Strafsenat in Zweifel. Der BGH vermisst eine überzeugende Begründung dafür, dass der Fahrer den Tod nicht billigend in Kauf genommen habe. Nach Auffassung des Senats reicht der schlichte Hinweis, dass der Fahrer ja kaum seine eigene Gefährdung durch eine Unfall gewollt haben könne, zur Verneinung des Vorsatzes nicht aus. Die Karlsruher Richter weisen damit zugleich einen Einwand, der gegen die Verurteilung der Raser vom Ku’damm erhoben worden ist, als zu pauschal zurück.
Keine einfachen Lösungen: Auch nur fahrlässige Tötung zweifelt der BGH an
Gleichwohl: Angesichts der vom BGH ausgemachten Rechtsfehler ist es höchst unwahrscheinlich, dass das LG Berlin bei einer neuerlichen Verhandlung ein zweites Mal wegen Mordes verurteilen wird. Somit können die Berliner Angeklagten mit vergleichsweise milden Strafen von deutlich unter 5 Jahren rechnen. Die zu erwartende Größenordnung lässt sich an dem dritten heute entschiedenen Fall gut ablesen: Hier hat der BGH die Verurteilung eines Motorradfahrers, der einen Fußgänger mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit erfasst und getötet hatte, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten aufrechterhalten.
Ist der heutige Tag daher ein Rückschlag bei der Zurückdrängung des Raserunwesens? Wer nur auf die Schlagzeilen zum Berliner Fall blickt und die Aussagen des BGH in der zweiten Entscheidung überliest, könnte dies meinen. Tatsächlich hat der BGH aber die Frage, ob Raser vorsätzlich handeln, wenn sie rote Ampeln überqueren, nicht verneint, sondern – umgekehrt – in dem Frankfurter Fall Zweifel an einer voreiligen Einstufung als bewusste Fahrlässigkeit zu erkennen gegeben.
Doch dürften solche Feinheiten weder die Angehörigen der Tuner- und Raserszene noch den midlife-crisis-geplagten Gelegenheitsraser erreichen. Diese sind nur für einfache Botschaften empfänglich. Diese müssen im Alltag ausgesendet werden. Die von heute lautet: Wer rast, mag kein potenzieller Mörder sein. Er sollte aber zumindest immer mit deutlich höheren Bußgeldern rechnen müssen, als sie heute in Deutschland üblich sind.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, BGH-Urteil zu Ku’Damm-Rennen: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27301 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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