2/2: Entgegen der Systematik des Gesetzes
Dabei sprach für die Ansicht der Klägerin die Systematik des Sozialrechts. Denn der Gesetzgeber hat das Präventionsverfahren in Teil 2, Kapitel 3 des SGB IX unter der Überschrift "Sonstige Pflichten der Arbeitgeber; Rechte der schwerbehinderten Menschen" platziert. Es handelt sich also quasi um einen kleinen allgemeinen Teil, der sowohl Arbeitgeber als auch schwerbehinderte Arbeitnehmer adressiert. Eine Begrenzung auf Arbeitsverhältnisse, die länger als sechs Monate dauern, sieht das Kapitel nicht vor.
Anders verhält es sich aber im folgenden Kapitel 4 unter der Überschrift "Kündigungsschutz" – und nur dort. § 90 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX regelt, dass die Vorschriften dieses (also des vierten) Kapitels nicht für schwerbehinderte Menschen gelten, deren Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht länger als sechs Monate besteht. Eine Anwendung auch auf das vorangegangene Kapitel 3, welches das Präventionsverfahren enthält, ist im Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen.
Dies erklärt das scheinbar widersprüchliche Klageverhalten der Betroffenen, die einerseits keine Kündigungsschutzklage erhob, weil weder das Kündigungsschutzgesetz noch das besondere Schutzrecht des Kapitels 4 gegriffen hätten. Stattdessen zog sie den vermeintlichen Joker des Präventionsverfahrens aus Kapitel 3.
Spaltet das BAG den Schwerbehindertenschutz auf?
Auch wenn das BAG mit seiner Entscheidung an bestehende Urteile anknüpft, bleibt die schriftliche Urteilsbegründung abzuwarten. Aus diesen könnte sich ergeben, ob auch andere Schutzvorschriften während der Probezeit mit dieser Anleihe aus dem Kündigungsschutzgesetz suspendiert werden sollen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass zukünftig das betriebliche Eingliederungsmanagement nach § 84 Abs. 2 SGB IX ebenfalls erst nach Ablauf der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses greifen soll.
Die Begründung ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil das BAG mit seiner Entscheidung nun offenbar den Schwerbehindertenschutz gerade im Bereich des öffentlichen Dienstes aufspaltet – und zwar völlig ohne Not.
Da die Frist des Kündigungsschutzgesetzes ebenso wie die Frist für den besonderen Kündigungsschutz nach dem Schwerbehindertenrecht ausschließlich für Arbeitnehmer gilt, das Präventionsverfahren aber ausdrücklich daneben auch alle sonstigen Beschäftigungsverhältnisse umfasst, könnte die Entscheidung aus Erfurt nun dazu führen, dass nebeneinander arbeitende Schwerbehinderte völlig unterschiedlich behandelt werden. Ein Arbeitnehmer könnte ohne Präventionsverfahren entlassen werden, ihm stünde auch kein Entschädigungsanspruch zu. Auch ein Beamtenanwärter oder ein Auszubildender in einem öffentlich-rechtlichen Ausbildungsverhältnis könnte aus diesem Dienstverhältnis entlassen werden. Die Entlassung selbst wäre wohl ebenfalls rechtmäßig, aber das Präventionsverfahren bliebe anwendbar. Ob dies zu einer Entschädigung führen kann, ist bislang in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Richtersenats beim Bundesgerichtshof nicht geklärt.
Der Autor Robert Hotstegs ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht in der Hotstegs Rechtsanwaltsgesellschaft, Düsseldorf. Die Kanzlei ist auf das öffentliche Dienstrecht, insbesondere Beamten- und Disziplinarrecht spezialisiert.
Robert Hotstegs, BAG verneint Schutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19180 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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