Bisher wurde der Bundeszwang noch nie angewandt. Doch wenn ein Bundesland verfassungsfeindlich agiert, könnte Artikel 37 Grundgesetz plötzlich große Bedeutung bekommen. Christian Rath skizziert die Möglichkeiten.
Angesichts der Wahlerfolge einer sich seit Jahren stetig weiter radikalisierenden AfD wird derzeit viel über Szenarien nachgedacht. Wie können die demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen vor Missbrauch und Blockade geschützt werden? Wie kann der Bund reagieren, wenn ein Bundesland, z.B. Thüringen oder Sachsen, beginnt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen.
Ein mächtiges Mittel kann hier der Bundeszwang gem. Artikel 37 Grundgesetz sein. Er wurde seit 1949 zwar noch kein einziges Mal angewandt. Konflikte zwischen Bund und Länder wurden eher über Verfassungsklagen ausgetragen. Es gibt daher keine Staatspraxis zum Bundeszwang, keine Rechtsprechung und damit auch keine Diskussion der Rechtsprechung. Da die Reichsexekution (als Vorläufer des Bundeszwangs) in der Weimarer Republik mehrfach angewandt wurde, wurde der Bundeszwang in der Anfangszeit der Bundesrepublik dennoch lebhaft diskutiert.
Gerade der Preußenschlag, bei dem eine autoritäre Reichsregierung 1932 das noch demokratisch regierte Land Preußen unter Reichsverwaltung stellte, weckt ungute Assoziationen. Allerdings wäre die Konstellation heute wohl eher umgekehrt. Der freiheitlich-rechtsstaatlich regierte Bund könnte den Bundeszwang nutzen, um ein auf autoritäre Abwege geratenes Land auf Kurs zu halten.
Wahlsieg der AfD reicht für Bundeszwang nicht aus
Dabei geht es natürlich nicht darum, jede politische Änderung nach einem AfD-Wahlsieg in einem Bundesland zu blockieren. Wahlen müssen Wirkung haben. Ein Wahlsieg ist aber kein Freibrief, die freiheitlich-demokratische Grundordnung – also Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde – zu beeinträchtigen. Hier hat der Bund eine Garantiefunktion.
Artikel 37 besteht aus zwei relativ kurzen Absätzen: "(1) Wenn ein Land die ihm nach dem Grundgesetze oder einem anderen Bundesgesetze obliegenden Bundespflichten nicht erfüllt, kann die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die notwendigen Maßnahmen treffen, um das Land im Wege des Bundeszwanges zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten.
(2) Zur Durchführung des Bundeszwanges hat die Bundesregierung oder ihr Beauftragter das Weisungsrecht gegenüber allen Ländern und ihren Behörden."
Die Voraussetzungen des Bundeszwangs
Der Bundeszwang ist anwendbar, wenn das Land Bundespflichten verletzt. Artikel 37 steht deshalb im Grundgesetz-Abschnitt "Der Bund und die Länder". Seine Bedeutung geht aber weit über Föderalismus-Fragen hinaus. Dies ergibt sich schon aus Artikel 28 Abs. 3 GG: " Der Bund gewährleistet, daß die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht." Es geht also um das große Ganze: die Bewahrung des "republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates" (Art. 28 Abs. 1 GG). Der Bundeszwang gem. Art. 37 GG ist ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen.
Konkret sind zum Beispiel folgende Anwendungsfälle denkbar:
- Ein Bundesland weigert sich, bestimmte Bundesgesetze umzusetzen, zB. die Unterbringung von Asyl-Antragsteller:innen, die im Asylgesetz geregelt ist.
- Ein Bundesland ignoriert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, obwohl diese gem. § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz bindend sind.
- Ein Bundesland verletzt seine grundgesetzlichen Schutzpflichten, indem es tatenlos zusieht, wenn Personen mit Migrationshintergrund durch rechtsextremistische Gruppen schikaniert und angegriffen werden, um diese zu vertreiben.
Die Mittel des Bundeszwangs
Laut Art. 37 GG kann die Bundesregierung beim Bundeszwang die "notwendigen Maßnahmen" ergreifen. Diese Bestimmung ist denkbar weit und soll es auch sein.
So kann der Bund zeitweise treuhänderisch die Staatsgewalt in den Ländern übernehmen. Im Wege der Ersatzvornahme kann er so ausnahmsweise Landesgesetze beschließen oder Entscheidungen im Namen von Landesbehörden treffen.
Er kann eine Person als Beauftragte benennen, die die Staatsgewalt im Land zeitweise übernimmt, eine Art Staatskommissar:in. Diese Beauftragte ist in Art. 37 Abs. 2 GG ausdrücklich erwähnt. Der Bund und/oder die Beauftragte können Weisungen erteilen, die im Land umzusetzen sind. Auch dies ergibt sich aus Art. 37 Abs. 2 GG.
Weil es beim Bundeszwang um Zwang geht, braucht der Bund starke Zwangsmittel. So kann er sich die Polizei des Landes unterstellen, aber auch die Bundespolizei einsetzen. Auch die Landespolizeien anderer Länder kann er für den Bundeszwang einsetzen.
Möglich sind auch Boykottmaßnahmen, um den Widerstand des Landes zu brechen, etwa die Abriegelung der Grenzen des Landes oder die Unterbindung bestimmter Warenverkehre.
Grenzen des Bundeszwangs
Nicht möglich ist der Einsatz der Bundeswehr. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur Rechtslage in der Weimarer Republik. Die Regelungen des Grundgesetzes zum Einsatz der Bundeswehr im Innern gem. Art 87a Abs. 2 - 4 GG sind abschließend und sehen grundsätzlich keine Maßnahmen gegen unwillige Landesregierungen vor.
Maßnahmen gegen die Gerichte des Landes gelten wegen Art. 97 GG (Unabhängigkeit der Richter:innen) auch als ausgeschlossen. Das kann aber wohl nicht gelten, wenn das bundespflicht-widrige Verhalten des Landes darin besteht, dass es die Besetzung und Zuständigkeit der Gerichte nach eigenen ideologischen Zwecken verändert.
Alle Maßnahmen des Bundeszwangs müssen vorübergehender Natur sein. Eine Landesregierung kann daher nicht abgesetzt, sondern nur vorübergehend suspendiert werden. Ein Land kann deshalb auch nicht aufgelöst oder mit einem anderen Land fusioniert werden.
Im Bund-Länder-Verhältnis gilt zwar kein Verhältnismäßigkeitsprinzip. Allerdings spricht das Grundgesetz selbst von den "notwendigen" Maßnahmen, was auch als Beschränkung zu lesen ist. Wenn sich das Land weigert, Flüchtlinge aufzunehmen, kann der Bund nicht die Verwaltung der Schulen an sich ziehen.
Die Maßnahmen des Bundeszwangs sind auch strikt auf die Erreichung des Ziels auszurichten, d.h. das Land soll sich wieder bundesrechts-konform verhalten. Strafmaßnahmen können mit dem Bundeszwang nicht rechtfertigt werden.
Das Verfahren des Bundeszwangs
Die Bundesregierung muss den Bundeszwang nicht zwingend anwenden, wenn ein Land seine Pflichten nicht erfüllt. Sie hat hier politisches Ermessen. So kann sie stattdessen auch auf Verhandlungen setzen oder das Bundesverfassungsgericht anrufen. Doch Bundeszwang wird insbesondere dann in Betracht kommen, wenn sich ein Land eindeutig und konfrontativ gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes stellt.
Für die Anwendung des Bundeszwangs benötigt die Bundesregierung die Zustimmung des Bundesrats. Auch dies ist eine Konsequenz aus den Vorgängen der Weimarer Republik. Die Zustimmung des Bundesrats bezieht sich nicht nur auf das "Ob" des Bundeszwangs, sondern auch auf die einzelnen Maßnahmen, etwa die zeitweise Übernahme der gesetzgebenden Gewalt des Landes durch den Bund. Zwar sollen einzelne Weisungen gem. Art. 37 Abs. 2 GG nicht die Zustimmung des Bundesrats benötigen. Da der Bundesrat seine Zustimmung zum Bundeszwang aber jederzeit zurückziehen kann, kann die Länderkammer dennoch großen Einfluss auf die Ausübung der Zwangsmaßnahmen nehmen.
Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts
Eine Kontrollfunktion hat auch das Bundesverfassungsgericht. Denn das betroffene Land kann ab Zustimmung des Bundesrats Verfassungsklage gegen den Bundeszwang oder einzelne Maßnahmen erheben. Das BVerfG kann auf Antrag auch einstweilige Anordnungen erlassen.
Da es noch keinen Rechtsprechungs-Pfad zur Auslegung von Art. 37 GG gibt, hat das Bundesverfassungsgericht noch große Gestaltungsmöglichkeiten. Anders gesagt: Die Bundesregierung hat bei der erstmaligen Anwendung des Bundeszwangs noch große Rechtsunsicherheit. Es ist aber damit zu rechnen, dass das BVerfG als besonders verantwortungsvolles Verfassungsorgan seine Rechtsprechung auch daran orientieren wird, wie groß die vom jeweiligen Land ausgehende Gefahr für die Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde ist.
Der Bundeszwang ist also ein mächtiges Instrument, das mit seinen Checks and Balances aber auch kein Fremdkörper im Grundgesetz ist. Dass der Bund hiermit eine beeindruckend starke Reservefunktion hat, sollte die Sorge vor möglichen AfD-Wahlsiegen auf Landesebene etwas reduzieren. In der Diskussion, ob ein AfD-Verbotsverfahren sinnvoll oder kontraproduktiv wäre, spricht die starke Reservefunktion des Bundeszwangs für einen Verzicht auf voreilige Präventivmaßnahmen.
Schutz der Demokratie: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54237 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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