Sich über kuriose US-Gesetze lustig zu machen, ist eine heikle Sache. Meist geht es um abgedrehte Verbraucherschutzrechte oder um puritanisches Sexualstrafrecht. Das mag komisch finden, wer will. Mit einer beim U.S. Supreme Court anhängigen Sache hat die juristische Publizistik der USA zurzeit aber selbst einen Heidenspaß. Gefunden, für witzig befunden und weitergesponnen von Martin Rath.
Ein Text über amerikanisches Recht hat stilecht natürlich mit zwei amerikanischen Begriffen zu beginnen, in diesem Fall mit einem Disclaimer zu einem Spoiler: Wer die sechste Folge der ersten Staffel der amerikanischen Anwaltsserie "Boston Legal" noch nicht kennt, aber zu sehen gedenkt, der will womöglich den folgenden Absatz überspringen, wenn auch um den Preis einer gekonnten Einleitung in die rechtliche Thematik.
Der Held der besagten Serie, Alan Shore, wird in der Folge mit einem Rechtsproblem konfrontiert, das sich für den Zuschauer nur deshalb befriedigend löst, weil Shore am Ende mit der zukünftigen Ex-Frau seines Mandanten intim wird. Der Mandant, Herausforderer des Bürgermeisters von Boston, wird im Wahlkampf unethischer ökonomischer Verstrickungen bezichtigt. Trotz der allgemein gewieften bis illegalen Taktiken Shores weist das Gericht das Unterlassungsbegehren ab, weil es – entsprechend der eindeutigen US-amerikanischen Rechtslage – im Wahlkampf nicht in die Rolle des Zensors von kandidatenbezogenen Tatsachenbehauptungen kommen möchte, auch nicht bei grober Polemik.
Wahl- und Wahlkampfrecht sind in den USA überwiegend Sache der Bundesstaaten. So kommt es, dass die in "Boston Legal" aufgegriffene Sache zurzeit beim Supreme Court of the United States (SCOTUS) anhängig ist. Im Staat Ohio zählt es zu den gesetzlichen Rechten der Wahlkommission, wahrheitswidrige Aussagen in Wahlkämpfen zu sanktionieren. Zugunsten des Kongressabgeordneten Steven Driehaus wurde die Wahlkommission aktiv, nachdem eine politische Vereinigung ihm vorgeworfen hatte, Staatsgelder für Abtreibungen bewilligt zu haben – eine Aussage, die im Fall dieses republikanischen Politikers bestenfalls als polemische Halbwahrheit bezeichnet werden kann.
Bis hierher ist die Sache noch nicht komisch, sie wird es aber im SCOTUS-Fall durch die Publikation eines Amici-Curiae-Schriftsatzes (No. 13-193, Susan B. Anthony List et al. v. Steven Driehaus et al.).
Amicus Curiae, eine ehrwürdige Form mit humoristischem Potenzial
Die Figur eines Amicus Curiae ("Freund des Gerichts") begegnete dem Verfasser zum ersten Mal in ihrer denkbar ehrwürdigsten Form, also in einer deutschen Festschrift: Max Rheinstein (1899-1977), ein jüdischer Jurist deutscher Nation mit äußerst bewegtem Leben – als junger Mann war er an der Niederschlagung der Münchener Räterepublik beteiligt, wurde Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und exilierte 1934 in die USA –, berichtet von seinem Dienst als Amicus Curiae in einem Fall aus den frühen 1960er-Jahren, in dem ein unehelich geborenes Kind gegen seinen Erzeuger klagte – über den Unterhalt hinaus auf Schadensersatz für jedweden Nachteil seines Lebens, wegen "wrongfull birth". Zum "Freund des Gerichts" wird bestellt, so jedenfalls die Vorstellung nach Rheinsteins Bericht, wer als Jurist überwältigenden Scharfsinn und Lebensweisheit mitbringt, um dem Gericht in einer besonders verzwickten Angelegenheit wie dieser auf die Sprünge zu helfen.
Nun kann sich – nach gewissen Leitlinien – in den USA jeder rechtskundige oder sich für rechtskundig haltende Interessent mit einem Amicus-Curiae-Schriftsatz an einem Verfahren beteiligen, in dem er selbst nicht Partei ist. Mit der Idee, dass hier nur die großen alten Männer und Frauen ihre überlegene Weisheit einbringen, hat das nicht zwingend zu tun.
Regelrecht heiter wird es nun mit einer Intervention des libertären Cato-Instituts, einer 1977 gegründeten Lobby-Einrichtung, die aus deutscher Perspektive etwas grobschlächtig auf einen für weniger Steuern, weniger Wohlfahrt und weniger Umweltschutz kämpfenden Think Tank reduziert wird. Das Cato Institut legte im genannten Fall den SCOTUS-Richtern seine Antwort auf die Frage vor: "Kann der Staat politische Äußerungen kriminalisieren, die weniger als 100% der Wahrheit entsprechen?"
"Truthiness" ist der Wahrheit in der Politik vorzuziehen
Der Schriftsatz des Cato-Instituts bringt den Richtern in Erinnerung, dass US-amerikanische Wahlkämpfe stets mit harten Bandagen ausgefochten worden seien. Schon Thomas Jefferson musste sich beispielsweise mit dem Vorwurf herumschlagen, "der Sohn einer Halbblut-Indianerin, gezeugt von einem Mulatten-Vater" gewesen zu sein, woran man sich seinerzeit weniger des Rassismus als der Unwahrheit wegen störte.
Zum Repertoire heutiger Wahlkämpfe zählt laut Cato-Institut das "Wissen", dass "die Demokraten rosa-kommunistische Flaggenverbrenner seien", die die Steuerfreiheit von Kirchen nur abschaffen wollten, "um Abtreibungen zu finanzieren, damit die Stammzellen genutzt werden können" aus denen "Hasch-rauchende Lesben erzeugt“ würden. Unschätzbar sei auch der Einfluss der Überzeugung, dass die Republikaner "waffenschwingende Irre" seien, die daran glaubten, "George Washington und Jesus Christus" hätten die USA erschaffen und das einzig schlechte an der Todesstrafe sei, dass sie nicht schnell genug an linksliberalen Nordstaaten-Intellektuellen vollzogen würde.
Solcherart politische Ein- oder Ansichten bezeichnet der Verfasser des Amicus-Curiae-Schriftsatzes als "Truthiness", also als eine Qualität von "Wahrheit", die den Menschen gleichsam aus dem Gedärm argumentieren lasse – in Deutschland seit den 1980er-Jahren als politisches "Bauchgefühl" bekannt. Ein Argument müsse sich "richtig anfühlen", "ohne Rücksicht auf Beweiskraft, Logik, intellektuelle Durchdringung oder die Tatsachen".
2/2: Satiriker bestellt sich selbst zum "Freund des Gerichts"
Der Verfasser des Cato-Instituts verteidigt diese "Truthiness" gegen das Recht der Wahlkommission von Ohio, offensichtliche Unwahrheiten zu zensieren. Die Wähler hätten einen Anspruch darauf, "Wahrheit" mehr zu fühlen als zu denken, Politiker einen Anspruch darauf, das Publikumsbedürfnis an Unsinn zu befriedigen.
Die gutachterliche Großzügigkeit gegenüber politischem Unfug kommt nicht von ungefähr. Das Cato-Institut präsentiert den höchsten Richtern der USA als Amicus Curiae den scharfzüngigen Patrick Jake O’Rourke (geb. 1947), der sich im Schriftsatz selbst ironisch überhöht, aber wohl nicht ganz zu Unrecht als "führenden politischen Satiriker" der USA bezeichnet.
O’Rourke verteidigt das Recht, in Wahlkämpfen den größtmöglichen Unsinn vom Gegner behaupten zu dürfen, nicht zuletzt damit, dass eine Zensur durch Kommissionen und Gerichte ihm und seinen Satiriker-Kollegen das Geschäft verderben würde. Doch kann er sich darüber hinaus auch auf gewichtige Argumente und Präjudizien stützen: Den inkriminierten Vorwurf an den republikanischen Abgeordneten Driehaus, dieser habe mit seiner Unterstützung für Obamas Krankenversicherungssystem eine staatliche Abtreibungsfinanzierung gefördert, könne man je nach rechtlicher, ökonomischer oder theologischer Perspektive für mehr oder weniger unwahr bzw. unsinnig halten. Auf welches Kriterium könnte sich ein Gericht schon verbindlich stützen?
Zudem belegt O’Rourke den etablierten Grundsatz, wonach die Rechtsprechung zur Redefreiheit ebenso dazu diene, scharfzüngig kluge Dinge zu äußern und damit den frei geäußerten Unsinn zu bekämpfen – sie habe nicht den Zweck, Unsinn zum Schweigen zu bringen.
Politiker haben das Recht zu lügen, um Satiriker zu ernähren
Den US-Politikern möge das Herumferkeln in offensichtlichen Lügen, irrsinnigen Halbwahrheiten und polemischen Zuspitzungen nicht mit den Mitteln eines "Verbraucherschutzes für Wähler" madig gemacht werden – als Plädoyer eines hochkarätigen US-amerikanischen Satirikers liest man das gern.
O’Rourkes deutschen Kollegen gönnt man den Spaß an den Verlogenheiten der Politik weniger: Sind deutsche TV-Kabarettisten, die aus der Rundfunksteuer entlohnt werden und es damit vermutlich zum ARD-/ZDF-Vermögensmillionär bringen, glaubwürdig darin, die mehr langweilige als verlogene Rhetorik des deutschen Parlamentarismus zu geißeln?
Wie groß derweil auch das Bedürfnis des deutschen Publikums ist, nicht mit den ewig gleichen Phrasen bedient zu werden, lässt sich anhand der Ukraine-Krise in den sozialen Netzwerken beobachten: Unabhängig davon, wie interessengeleitet abweichende Standpunkte sind, herrscht die helle Freude vor, einem angeblich antirussischen Mainstream am Zeug zu flicken.
Gedankenexperiment: "Bundestagskanzel der Wahrheit"
Der Markt der Meinungsbildung, wie von O’Rourke für die USA verteidigt, ist hierzulande ineffizient. Es geht nicht allein um den Unterhaltungswert, fraglich ist auch, ob die Probleme der Gesellschaft hinreichend klar identifiziert werden.
Kabarettisten mit erwartbaren Einsichten und Sendeplatz bei ARD und ZDF helfen nicht. Die Politiker selbst sind in Talkshows zu finden, was auf ewige Übungen in der Kindergartenrhetorik hinausläuft, dem Gegner ins Wort zu fallen, ohne selbst beim Ausreden behindert zu werden. Politische Willensbildung sieht anders aus.
Helfen könnte in diesem institutionellen Setting eine "Bundestagskanzel der Wahrheit", ein räumlich etwas abgesondertes, in Ausnahmefällen zu nutzendes Rednerpult. Die Spielregel könnte lauten: Wer hier spricht, steht unter Eid, falsche Tatsachenbehauptungen führen ohne Umwege zur Anklage eines Meineids, Verbrechen nach § 154 Strafgesetzbuch.
Sinn eines solchen Gedankens ist es nicht, die Ermittlungsbehörden damit zu beschäftigen, Politiker beim Schwindeln zu erwischen. Die preußische Idee, Berliner Staatsanwälte könnten im Besitz höherer Wahrheiten sein als gewählte Volksvertreter, ist tot. Der Witz liegt vielmehr darin, die stark bürokratisch formalisierte Debatte zu zergliedern: ein neues Rednerpult für die staatsnotwendigen Tatsachenbehauptungen, das alte für den Schlagabtausch in der Rhetorik der "truthiness".
Man mag das Gedankenexperiment schräg finden. Das bestehende Korsett scheint jedenfalls ein wenig eng.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, "Truthiness" im amerikanischen und deutschen Recht: Wider die gefühlte Wahrheit . In: Legal Tribune Online, 09.03.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11269/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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