Mit der wachsenden Zahl von Elektroautos droht Gefahr, nicht allein für den sehbehinderten Fußgänger. Man hört die klimafreundlichen Gefährte schlecht, wenn sie durch die Straßen schleichen. Die Europäische Kommission denkt daher an künstliche Fahrtgeräusche. Ein Blick ins Reichsgesetzblatt zeigt, dass der deutsche Gesetzgeber längst die Lösung für dieses und andere Kfz-Probleme besaß. Ein Essay von Martin Rath.
Was würde den Fortschrittsglauben des deutschen Gesetzgebers besser unter Beweis stellen als die Tatsache, dass er zuerst an die Maschine und dann erst an die Menschen dachte, die mit den technischen Neuigkeiten zu tun bekamen?
Eine kleine Klagewelle sehbehinderter Menschen rollte deshalb nicht nur durch die preußischen Polizeibehörden bis hinauf zum Königlich Preußischen Verwaltungsgericht zu Berlin, nachdem der Bundesrat am 3. Februar 1910 die "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" (Reichs-Gesetzblatt S. 389) erlassen hatte. Diese Kfz-Verordnung des kaiserlichen Deutschland zeugt von fast ebenso viel Freude am technischen wie am bürokratischen Detail, hielt sich aber etwas bedeckt, welche Qualität man vom Führer eines Kraftfahrzeuges erwartet.
Halbblinde Führer in ihren rasenden Kisten
Das neue Kfz-Recht von 1909 traf beispielsweise einen "zuletzt als Führer einer Kraftwagendroschke" beschäftigen Kläger. Laut Urteil hatte der "am 2. Dezember 1867 geborene" Berufskraftfahrer – wir gratulieren vorsichtshalber nachträglich zum Geburtstag – im September 1910 beim Polizeipräsidenten um die Erteilung eines neuen "Führerzeugnisses" ersucht, weil die alten, nach Landesrecht ausgestellten Führerscheine zum 1. April 1911 ihre Gültigkeit verlieren würden (Preußisches Oberverwaltungsgericht, Urt. v.10.7.1911, Az. IV A. 53/11).
Die Polizeibehörde stellte fest, dass gegen den Mann – "von einer Bestrafung mit 10 Mark wegen Übertretung einer polizeilichen Vorschrift abgesehen" – nichts vorlag. Allerdings hatte der nach neuem Recht ebenfalls zu konsultierende Kreisarzt "in seinem amtsärztlichen Gutachten vom 5. September 1910 bemerkt, daß [der Kläger] auf dem rechten Auge normales Sehvermögen, auf dem linken dagegen ohne Glas 2/30 Sehschärfe, mit + 1/12 Rundgläsern 5/18 Sehschärfe besitze und daß ihm deshalb die Bedingung aufzuerlegen sei, im Dienste niemals ohne eine dementsprechende Brille zu fahren."
Der Polizeipräsident folgte dem nicht, sondern versagte das "Führerzeugnis" vollständig, wogegen der "Kraftwagendroschkenführer" vor Gericht erfolgreich vorging – wobei er angeben konnte, dass ihm ein Professor der Augenheilkunde vollständige Sehkraft beider Augen attestiert habe.
Damit konnte der Kläger eines weiteren Verfahrens vor dem Königlich Preußischen OVG, ein "am 22. September 1868 geborene(r) Kraftwagenführer" nicht argumentieren (Urt. v. 7.12.1911, Az. IV A. 54/11). Er legte dem notwendig gewordenen Antrag auf ein neues "Führerzeugnis" ein amtsärztliches Gutachten bei, das ihm attestierte "daß er ohne Glas auf dem linken Auge 1/2, auf dem rechten weniger als 1/12, mit Glas auf dem linken Auge 2/3, auf dem rechten 1/12 der normalen Sehschärfe besitze". Der Amtsarzt notierte zudem seine Ansicht, dass diese Werte mit Brille "ausreichend zur Führung von Kraftwagen mit einem betriebsfertigen Eigengewichte von bis zu 2,5 Tonnen und bis zu 10 PS" sei. Diesem Amtsarzt war neben den medizinischen Fakten bekannt, dass der Führer beruflich für eine Berliner Brauerei Bier per Lastkraftwagen kutschierte.
Preußische Verwaltungsrichter gegen Gutachter-Selbstherrlichkeit
Im Fall des zweiten, auf dem rechten Auge stark sehbehinderten Kraftfahrers, fanden die preußischen Richter klare Worte zum Urteilsvermögen des Mediziners, der als Amtsarzt immerhin nicht weniger preußischer Beamter war als sie: "Insbesondere ist der beamtete Arzt, welcher das … geforderte Zeugnis ausstellt, nur als Sachverständiger tätig und tritt nicht etwa insoweit, als es sich um die Begutachtung der körperlichen Tüchtigkeit des Nachsuchenden handelt, an die Stelle der Genehmigungsbehörde."
Wiederholt dokumentieren die Richter, dass es bei der Beurteilung der Frage, ob eine Person "zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist, keinen Unterschied zwischen solchen Personen macht, die eigene oder fremde Kraftwagen führen oder als so genannte Berufs- oder Herrenfahrer tätig sind".
Nach dieser Klarstellung der Bewertungs- und Ermessensspielräume von Polizeibehörde und Verwaltungsgericht gegenüber dem medizinischen Gutachterwesen würdigen die Richter eine ganze Reihe von Indizien, die sie – ungeachtet der eingeschränkten Sehkraft – zur "Tauglichkeit" der Kläger für den Kfz-Verkehr leiten könnten.
Im Fall des am 2. Dezember 1867 geborenen Klägers würdigen sie den Umstand, dass gegen ihn von der 10-Mark-Strafe abgesehen nichts vorlag. Dem noch stärker sehbehinderten zweiten, am 22. September 1868 geborenen Kläger halten die königlich-preußischen Verwaltungsrichter neben seiner makellosen Strafakte – seinerzeit offenbar keine Selbstverständlichkeit – zugute, dass er vor der Tätigkeit als Kraftdroschkenfahrer bereits jahrelang fehlerfrei mit Pferd und Wagen gearbeitet hatte – fast scheint richterliches Bedauern durch, seinem Begehren aus formalen Gründen nicht abhelfen zu können.
Erst kommt die Maschine, dann der Führer
Ihre relative Freiheit, die Tauglichkeit von Führer-Anwärtern im motorisierten Individualverkehr zu bewerten, leiteten die Richter aus der juristischen Konstruktion der "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" vom 3. Februar 1910 her. Viel mehr als den Wunsch, dass die Führer der modernen Gefährte sehen und hören können, hatte der Verordnungsgeber nämlich nicht kundgetan – und dies normtechnisch auch eher verwinkelt und bescheiden. Das "Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" vom 3. Mai 1909 sprach in seinem § 2 nur davon, dass gegen den Führer keine Tatsachen vorliegen dürften, "die die Annahme rechtfertigen, daß er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist". Die im folgenden Jahr vom Bundesrat erlassene Verordnung wird in ihrem § 14 nicht deutlicher, was ein "ungeeigneter" Führer sein könnte.
Vorrangig behandelt die Verordnung technische Fragen. So schreibt beispielsweise § 3 vor, dass vom Fahrzeug keine "Feuers- und Explosionsgefahr" ausgehen dürfe sowie Mensch und Tier im Straßenverkehr keiner vermeidbaren Belästigung durch "Geräusch, Rauch, Dampf oder üblen Geruch" ausgesetzt werden sollten. Ausdrücklich vorgeschrieben wird, dass die Räder den Straßenbelag nicht beschädigen dürfen. § 4 ging mit Vorschriften über eine "zuverlässige Lenkeinrichtung", "zwei voneinander getrennten Bremseinrichtungen" oder zum Schutz vor dem Herunterrollen am Hang ins technische Detail.
Erst in den Anhängen zur Kfz-Verordnung findet sich ein Hinweis auf das Hören und Sehen. Wie viel Sehkraft für den Führer genügt, dazu rätselten die Behörden. Der in beiden Urteilen konsultierte Medizinprofessor hatte zwar an Verwaltungsrichtlinien mitgewirkt, die – als Faustformel – vorsahen, dass ohne Brille auf einem Auge mindestens zwei Drittel, auf dem anderen mindestens ein Drittel "Sehkraft" vorhanden sein müsse.
Bei der Frage, ob ein stärker behinderter Führer im Zweifel rechtzeitig auf die Bremse träte, gutachtete der akademische Augenarzt jedoch im konkreten Fall wörtlich: "Ich glaube aber, daß ein geschickter und aufmerksamer Chauffeur auch mit dem Sehvermögen des R. auskommen kann. Die mit freiem Auge vorhandene Sehschärfe (1/3 bzw. 1/20) dürfte den Kläger noch befähigen, bei vorsichtigem langsamen Fahren den Kraftwagen an einen sicheren Standort zu bringen, ohne daß hierbei Schädigungen von Personen oder Sachen der Voraussicht nach zu besorgen sind."
Auch das Tragen einer Dienstmütze ist ausreichend
Als übertriebene Freundlichkeit des Arztes gegenüber dem sehbehinderten Kraftfahrzeug-Führer muss man sein Attest aber nicht lesen. Denn die "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" von 1910 enthält eine ganze Reihe interessanter Normen.
Nicht allein ihr § 8, der bis auf die Dicke des Pinselstrichs der aufzumalenden Ziffern und Zeichen regelt, wie das Nummernschild auszusehen hat ("…Randbreite mindestens 10 Millimeter, Schrifthöhe 75 Millimeter bei einer Schriftstärke von 12 Millimeter, Abstand zwischen den einzelnen Zeichen und vom Rande 20 Millimeter…") – ein historisches Meisterwerk bürokratischer Detailverliebtheit – lässt den nachgeborenen Leser sprachlos.
Staunend blickt man auch auf § 18 Abs. 2 der Verordnung: "Innerhalb geschlossener Ortsteile darf die Fahrgeschwindigkeit von 15 Kilometer in der Stunde nicht überschritten werden. Bei Kraftfahrzeugen von mehr als 5,5 Tonnen Gesamtgewicht beträgt die überhaupt zulässige Geschwindigkeit 12 Kilometer in der Stunde; sie kann – […] – bis auf 16 Kilometer gesteigert werden, wenn wenigstens die Triebräder mit Gummi bereift sind."
Dass der Gesetzgeber des Jahres 1909/10 etwas von seinem Handwerk verstand, beweisen Normen wie § 20 Abs. 2: "Auf den Halteruf oder das Haltzeichen eines als solchen kenntlichen Polizeibeamten hat der Führer sofort anzuhalten. Zur Kenntlichmachung eines Polizeibeamten ist auch das Tragen einer Dienstmütze ausreichend."
Blinde Führer oder blinde Fußgänger? – Alles kein Problem
Es braucht vielleicht nicht mehr viel "Europaskepsis", um dem deutschen Gesetzgeber selbst so zweckdienliche Regelungen madig zu machen, wie jene, den modernen Elektroautos künstliche Fahrtgeräusche einzubauen, damit sehbehinderte und aufmerksamkeitsarme Fußgänger nicht unter die Räder kommen.
Um Mensch und Tier vor den neumodischen Kraftfahrzeugen zu schützen, ganz gleich ob diese von einem Explosions- oder Elektromotor auf die rasende Geschwindigkeit von 15 km/h getrieben wurden, schrieb § 19 der Verordnung vor: "Der Führer hat entgegenkommende, zu überholende, in der Fahrtrichtung stehende oder die Fahrtrichtung kreuzende Menschen sowie die Führer von Fuhrwerken, Reiter, Radfahrer, Viehtreiber usw. durch deutlich hörbares Warnungszeichen rechtzeitig auf das Nahen des Kraftfahrzeugs aufmerksam zu machen."
Innerhalb geschlossener Ortschaften hatte der Führer außerdem durchgängig zu hupen (zu Kaisers Zeiten: zu "huppen") – wovon nicht nur die seinerzeit durchaus verbreiteten Elektro-Automobile betroffen waren, sondern auch jene mit Explosionsmotor. Im Übrigen galt: "Außerhalb geschlossener Ortsteile kann das Warnzeichen (also das "Huppen", MR) auch mit einer Fanfarentrompete abgegeben werden; dies Signalinstrument darf auch lose im Kraftfahrzeuge mitgeführt und unter Verantwortung des Führers auch durch eine andere im Fahrzeug beförderte Person angewendet werden."
Gehässigerweise nahm die Verordnung die Mitglieder der herrschenden deutschen Fürstenhäuser von der Huppen- und Fanfarenpflicht aus, was zwanglos erklärt, warum der König von Preußen und deutsche Kaiser unbedingt eine überdimensionierte Kriegsmarine brauchte – als Automobilist bekam er eben nicht genug Aufmerksamkeit.
Wenn’s im Verkehr mal wieder langsam zugeht
Einen Beitrag zur Erklärung historischer Phänomene leistet die Verordnung auch an anderer Stelle. So ist ihr ein Muster für einen Führerschein beigegeben (Reichs-Gesetzblatt a.a.O. S. 411-413). Auf der Rückseite des Führerschein-Musters steht wörtlich: "Herr _______ ist auf Grund der vor dem amtlich anerkannten Sachverständigen Herrn _______ […] ermächtigt, einen Kraftwagen/ein Kraftrad mit (Motor) _______ zu führen." Historisch lässt sich also Gendermainstreaming erklären.
Im Übrigen lehrt das Kraftfahrtrecht des Kaiserreichs weise Voraussicht, nicht allein, was die Gefahren der Elektroautos betrifft: Da wurden die deutschen Städte über Jahrzehnte hinweg erst "autogerecht" umgebaut, bis kein Fußgänger mehr per "Huppen" vor den Gefahren des Automobilistentums zu warnen war. Mittlerweile sorgen Milliardenwerte an Blech und Plastik dafür, dass es oft auch nicht schneller zugeht als mit den 15 km/h, die Seiner Majestät Justizamt und Bundesrat per Verordnung ins Reichsgesetzblatt setzten.
Mit dem Recht von 1910 hätte man sich diesen Wahnwitz an Verkehrsinfrastruktur ebenso sparen können wie heute die Aufregung, wenn wieder irgendwo "Tempo 30" gefordert wird. Man bedenke, Kaisers Untertanen hätten sich gefreut, so schnell durch Berlin heizen zu dürfen, doppelt so schnell wie staatlich erlaubt.
Wenn an diesen kalten und dunklen Tagen vor Ihnen ein Kfz-"Führer" durch die Straßen schleicht, erkennbar besorgt wegen "der Schlüpfrigkeit des Weges" (§ 18), einen Hut auf dem Kopf und kaum schneller als die einst vorgeschriebenen 15 km/h – stellen Sie sich doch einfach vor, einer der beiden Kläger vor dem Königlich Preußischen Oberverwaltungsgericht habe überlebt und fahre vor Ihnen ins triste Dezembergrau.
Der Gedanke sollte Ihnen nicht schwerfallen, denn dass die Leute fahren wie 150-jährige, sicherheitsbewusste Preußen, könnte kein Ärgernis sein, sondern ein Modell für die nähere Zukunft.
Martin Rath, ist Fußgänger und Straßenbahnnutzer in Köln, mit Lektorat und Feuilletons beschäftigt.
Martin Rath, Straßenverkehr im Kaiserreich: Juristische Orientierung für sicherheitsbewusste Preußen . In: Legal Tribune Online, 09.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7737/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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