Auch das Tragen einer Dienstmütze ist ausreichend
Als übertriebene Freundlichkeit des Arztes gegenüber dem sehbehinderten Kraftfahrzeug-Führer muss man sein Attest aber nicht lesen. Denn die "Verordnung über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" von 1910 enthält eine ganze Reihe interessanter Normen.
Nicht allein ihr § 8, der bis auf die Dicke des Pinselstrichs der aufzumalenden Ziffern und Zeichen regelt, wie das Nummernschild auszusehen hat ("…Randbreite mindestens 10 Millimeter, Schrifthöhe 75 Millimeter bei einer Schriftstärke von 12 Millimeter, Abstand zwischen den einzelnen Zeichen und vom Rande 20 Millimeter…") – ein historisches Meisterwerk bürokratischer Detailverliebtheit – lässt den nachgeborenen Leser sprachlos.
Staunend blickt man auch auf § 18 Abs. 2 der Verordnung: "Innerhalb geschlossener Ortsteile darf die Fahrgeschwindigkeit von 15 Kilometer in der Stunde nicht überschritten werden. Bei Kraftfahrzeugen von mehr als 5,5 Tonnen Gesamtgewicht beträgt die überhaupt zulässige Geschwindigkeit 12 Kilometer in der Stunde; sie kann – […] – bis auf 16 Kilometer gesteigert werden, wenn wenigstens die Triebräder mit Gummi bereift sind."
Dass der Gesetzgeber des Jahres 1909/10 etwas von seinem Handwerk verstand, beweisen Normen wie § 20 Abs. 2: "Auf den Halteruf oder das Haltzeichen eines als solchen kenntlichen Polizeibeamten hat der Führer sofort anzuhalten. Zur Kenntlichmachung eines Polizeibeamten ist auch das Tragen einer Dienstmütze ausreichend."
Blinde Führer oder blinde Fußgänger? – Alles kein Problem
Es braucht vielleicht nicht mehr viel "Europaskepsis", um dem deutschen Gesetzgeber selbst so zweckdienliche Regelungen madig zu machen, wie jene, den modernen Elektroautos künstliche Fahrtgeräusche einzubauen, damit sehbehinderte und aufmerksamkeitsarme Fußgänger nicht unter die Räder kommen.
Um Mensch und Tier vor den neumodischen Kraftfahrzeugen zu schützen, ganz gleich ob diese von einem Explosions- oder Elektromotor auf die rasende Geschwindigkeit von 15 km/h getrieben wurden, schrieb § 19 der Verordnung vor: "Der Führer hat entgegenkommende, zu überholende, in der Fahrtrichtung stehende oder die Fahrtrichtung kreuzende Menschen sowie die Führer von Fuhrwerken, Reiter, Radfahrer, Viehtreiber usw. durch deutlich hörbares Warnungszeichen rechtzeitig auf das Nahen des Kraftfahrzeugs aufmerksam zu machen."
Innerhalb geschlossener Ortschaften hatte der Führer außerdem durchgängig zu hupen (zu Kaisers Zeiten: zu "huppen") – wovon nicht nur die seinerzeit durchaus verbreiteten Elektro-Automobile betroffen waren, sondern auch jene mit Explosionsmotor. Im Übrigen galt: "Außerhalb geschlossener Ortsteile kann das Warnzeichen (also das "Huppen", MR) auch mit einer Fanfarentrompete abgegeben werden; dies Signalinstrument darf auch lose im Kraftfahrzeuge mitgeführt und unter Verantwortung des Führers auch durch eine andere im Fahrzeug beförderte Person angewendet werden."
Gehässigerweise nahm die Verordnung die Mitglieder der herrschenden deutschen Fürstenhäuser von der Huppen- und Fanfarenpflicht aus, was zwanglos erklärt, warum der König von Preußen und deutsche Kaiser unbedingt eine überdimensionierte Kriegsmarine brauchte – als Automobilist bekam er eben nicht genug Aufmerksamkeit.
Wenn’s im Verkehr mal wieder langsam zugeht
Einen Beitrag zur Erklärung historischer Phänomene leistet die Verordnung auch an anderer Stelle. So ist ihr ein Muster für einen Führerschein beigegeben (Reichs-Gesetzblatt a.a.O. S. 411-413). Auf der Rückseite des Führerschein-Musters steht wörtlich: "Herr _______ ist auf Grund der vor dem amtlich anerkannten Sachverständigen Herrn _______ […] ermächtigt, einen Kraftwagen/ein Kraftrad mit (Motor) _______ zu führen." Historisch lässt sich also Gendermainstreaming erklären.
Im Übrigen lehrt das Kraftfahrtrecht des Kaiserreichs weise Voraussicht, nicht allein, was die Gefahren der Elektroautos betrifft: Da wurden die deutschen Städte über Jahrzehnte hinweg erst "autogerecht" umgebaut, bis kein Fußgänger mehr per "Huppen" vor den Gefahren des Automobilistentums zu warnen war. Mittlerweile sorgen Milliardenwerte an Blech und Plastik dafür, dass es oft auch nicht schneller zugeht als mit den 15 km/h, die Seiner Majestät Justizamt und Bundesrat per Verordnung ins Reichsgesetzblatt setzten.
Mit dem Recht von 1910 hätte man sich diesen Wahnwitz an Verkehrsinfrastruktur ebenso sparen können wie heute die Aufregung, wenn wieder irgendwo "Tempo 30" gefordert wird. Man bedenke, Kaisers Untertanen hätten sich gefreut, so schnell durch Berlin heizen zu dürfen, doppelt so schnell wie staatlich erlaubt.
Wenn an diesen kalten und dunklen Tagen vor Ihnen ein Kfz-"Führer" durch die Straßen schleicht, erkennbar besorgt wegen "der Schlüpfrigkeit des Weges" (§ 18), einen Hut auf dem Kopf und kaum schneller als die einst vorgeschriebenen 15 km/h – stellen Sie sich doch einfach vor, einer der beiden Kläger vor dem Königlich Preußischen Oberverwaltungsgericht habe überlebt und fahre vor Ihnen ins triste Dezembergrau.
Der Gedanke sollte Ihnen nicht schwerfallen, denn dass die Leute fahren wie 150-jährige, sicherheitsbewusste Preußen, könnte kein Ärgernis sein, sondern ein Modell für die nähere Zukunft.
Martin Rath, ist Fußgänger und Straßenbahnnutzer in Köln, mit Lektorat und Feuilletons beschäftigt.
Martin Rath, Straßenverkehr im Kaiserreich: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7737 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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