Seit mehr als 50 Jahren wird über die Besteuerung von Arbeitszimmern gestritten. Martin Rath zum Unterschied zwischen einem Durchgang zum Zimmer und einem Durchgangszimmer und was Sandkörner mit Gesetzgebungslehre zu tun haben.
Dem ersten Anschein nach geht es hier nur ums Geld, weniger ums Prinzip, und das ist ja immer ein bisschen schade: Bereits seit den 1960er Jahren wird um die Frage gestritten, ob die Kosten für ein Arbeitszimmer in der eigenen Wohnung bei der Berechnung der Einkommensteuer überhaupt und, falls ja, in welchem Umfang steuermindernd zu berücksichtigen sind.
Angsichts der erdrückenden Masse an Entscheidungen und der juristischen Kommentare zu diesem Thema ist es auch wenig überraschend, wenn am Ende doch immer nur Antworten auf die Frage formuliert werden, ob und wie man denn nun die persönliche Steuerlast lindern könnte.
Seltener wird gefragt, wie es dazu überhaupt kommen kann: Dass intellektuelle Ressourcen von Generationen deutscher Juristen und Finanzbeamter (von Lehrern mit Rechtsschutzversicherung ganz zu schweigen) auf ein Problem wie die Absetzbarkeit der Arbeitszimmerkosten verschwendet werden mussten.
Die Entwicklung der Auseinandersetzungen kann hier nicht im Einzelnen geschildert werden – eine gängige Datenbank listet mehr als 3.500 relevante Entscheidungen, die Gipfel der juristischen Literatur hierzu sollen den Reinhold Messners des Steuerfachs überlassen bleiben.
Doch bietet das Arbeitszimmer-Problem Anlass, das Sandhaufen-Theorem vorzustellen und auf einen vergessenen Demokratie-Verlust im Steuerrecht hinzuweisen.
Langsam war es albern geworden: BFH-Urteil 1988
Ein Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19. August 1988 verdient, aus der Masse der Arbeitszimmerjudikatur herausgehoben zu werden – nicht allein, weil es etwas traurig-boshafte Vermutungen bestätigt, welche Dinge im Leben deutscher Lehrer wirklich wichtig sind.
Eine angehende Lehrerin hatte für das Jahr 1980 die Mietaufwendungen für einen Raum als Werbungskosten geltend gemacht, den sie zur Vorbereitung für den Unterricht und das Durchsehen der Klassenarbeiten ihrer Schüler benötige.
Das Finanzamt mochte den Raum deshalb nicht als Arbeitszimmer anerkennen, weil ihn die Lehrerin und ihr Gatte, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen, durchqueren müssten. Damit liege eine, "schädliche private Mitnutzung" des Raums als "Durchgangszimmer" vor.
Das Finanzgericht gab der Klage des Lehrer-Paares statt, der BFH musste über die Revision des Finanzamts befinden, hatten die höchsten deutschen Finanzrichter doch vier Jahre zuvor selbst geurteilt, dass Durchgangszimmer nicht als Arbeitszimmer im steuerrechtlichen Sinn in Betracht kommen.
Nun entschieden sie zugunsten der Lehrerin, indem sie zwischen einem Durchgang zum Schlafzimmer und einem Durchgangszimmer entschieden: Während ein Raum, von dem aus Wohn- und Schlafzimmer sowie Bad zu erreichen sei, nicht als Arbeitszimmer gewürdigt werden könne, gelte hier: "Wird ein häusliches Arbeitszimmer von einer verheirateten Lehrerin beruflich genutzt, so stellt das Durchqueren des Raumes, um in das eheliche Schlafzimmer zu gelangen, in der Regel eine private Mitbenutzung von nur untergeordneter Bedeutung dar."
Sandhaufentheorem: Wenn es zu viel wird
Die innere Komik eines Urteils, das sich in feine Unterscheidungen eines Durchgangs zum Wohn- und Schlafzimmer einerseits, zum bloßen Schlafzimmer andererseits verstieg, scheint seinerzeit keine Aufmerksamkeit erregt zu haben – die schiere Masse sowie die beständige Vermutung, im Steuerrecht verbiete sich jede Verzweiflung, trugen gewiss dazu bei, gar nicht erst mit dem Augenreiben anzufangen.
Die Feinarbeit zur Frage, was ein Arbeitszimmer sei, sollte dem deutschen Recht daher erhalten bleiben. Abhilfe in dieser, wie in vielen anderen Fragen hätte eine breitere Würdigung von Vorschlägen aus der damals noch jungen Gesetzgebungslehre leisten können.
So hatte Rolf Bender (1923–2007), der sich als Richter am Oberlandesgericht Stuttgart durch seine eigensinnige Praxis zur Reform des Zivilprozesses, vor allem aber mit Urteilen zum bis dahin fast unbekannten Verbraucherschutz in der Bankwirtschaft einen Namen machte, bereits 1978 das sogenannte Sandhaufentheorem vorgestellt:
"Stellen Sie sich vor, eine Polizeiverordnung verböte das Wegräumen von ‚Sandhaufen‘. Hier tauchten sofort drei Probleme auf. Einmal ein rechtsdogmatisches Problem: Wieviele Sandkörner muß eine Ansammlung Sand mindestens aufweisen, um als ‚Sandhaufen‘ im Rechtssinne zu gelten?"
Hinzu komme das rechtstatsächliche Problem: Angenommen, nach langem Streit hätten sich die Gerichte auf "in der Regel mehr als 280 Sandkörner eingespielt": Sei die richterliche Tatsachenfeststellung überhaupt exakt genug, noch nach Jahren zu entscheiden, ob 279 oder 281 Sandkörner vorlagen? Schließlich sei es fragwürdig, wenn von einem Tatbestand, der ein solches Kontinuum beschreibt – 279, 280, 281 –, eine Rechtsfolge abhänge, die alles oder nichts zuspreche.
Auf das Durchgangszimmer-Problem angewandt bedeutet das: Ein Raum kam als Arbeitszimmer nicht mehr in Betracht, wenn es Durchgangszimmer zum Wohn- und Schlafzimmer dient, wohl aber, wenn es nur zum Betreten des Schlafzimmers durchquert werden muss. Wie viele Finanzbeamte werden hier bis heute die "Sandkörner" zählen dürfen?
Gottlob war das Paar im Fall des BFH-Urteils vom 19. August 1988 ordentlich verheiratet. Dies ersparte dem Steuerrechtsdiskurs wenigstens die regressive Frage, ob nach Maßgabe von Artikel 6 Abs. 1 Grundgesetz womöglich Durchgangsrechte zu Schlafzimmern unverheirateter Paare weniger wert sein müssten.
Verlust demokratischer Steuer-Mitwirkung
Bender machte Vorschläge, wie sich die Sandhaufen-Probleme in der Gesetzgebung niederschlagen sollten. Durchgreifendes Interesse – beispielsweise als Teil der Juristenausbildung – hat die Gesetzgebungslehre eher nicht gefunden.
Für den rechtssuchenden Bürger und seinen Anwalt hat der Richter, einem bösen Witz des seinerzeit berühmten Zivilrechtslehrers Martin Wolff (1872–1953) zufolge, am Ende nur zwei Argumente: "Da könnte ja jeder kommen!" Und: "Das wäre ja noch schöner!" – Für eine Beschwerde an den Gesetzgeber, kein gutes Recht gesetzt zu haben, hat die Richterschaft hingegen kein ähnlich böses "Uns wird es langsam zu albern!" im Ärmel.
Dass der Streit um die Arbeitszimmerqualität möglicherweise auch teilweise nicht zum Arbeiten genutzter Wohnräume so lange anhalten konnte, beruht jedoch nicht allein an fehlender Freude der Richterschaft, dem Gesetzgeber die Leviten zu lesen – ein weitgehend unbekanntes Kapitel des Demokratie-Abbaus kommt hier noch hinzu.
Als sich der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 28. Oktober 1964 (Az. IV 168/63 S) erstmals grundlegend zur Arbeitzimmerproblematik äußerte, legte er einerseits den Keim aller späteren Streitigkeiten: 1. Die tatsächliche Nutzung des Raums sei "unter Berücksichtigung aller Umstände" zu würdigen. 2. Eine private Nutzung, die von nicht untergeordneter Bedeutung sei, verbiete die Anerkennung von Betriebsausgaben.
Dieses erste prominente Urteil stand einmal ersichtlich vor dem Hintergrund einer gerade erst abflauenden, uns heute schier unvorstellbaren Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch 1960 lag der Wohnraum pro Kopf in Westdeutschland bei rund 15 Quadratmetern, heute sind es über 40. Der BFH hatte damals darüber zu entscheiden, ob ein Komponist, der bei Film und Fernsehen offensichtlich sehr gut verdiente, die Kosten für zwei Räume von je 24 Quadratmetern steuerlich geltend machen sollte. Während das Finanzamt ihm den Arbeitszimmerbedarf anerkennen wollte, sah der Steuerausschuss hier keinen Raum für Werbungskosten.
Der Untergang der Bürgerbeteiligung
Diese Gremien sind ganz vergessen: Den Steuerausschüssen, die bei den Finanzämtern zu bilden waren, gehörten sachkundige Bürger an, die nicht nur bei Widersprüchen gegen gewisse Steuerbescheide anzuhören waren.
Nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG) vom 6. September 1950 hatten sie auch das Recht, jederzeit "bei der Festsetzung der Steuern vom Einkommen und bei der Festsetzung der Vermögensteuer" mitzuwirken.
Für größere Einkommen, die nicht – wie die Lohnsteuer – automatisiert zu erheben waren, hatte der Staat des Jahres 1950 seine Finanzverwaltung noch mit diesem Tropfen demokratischen Öls gesalbt. Statt ihre entsprechende Legitimation auszuweiten, beseitigte der Gesetzgeber die bürgerschaftlichen Mitwirkungsrechte der Steuerausschüsse allerdings 1965 bzw. 1971.
Im Fall des ersten prominenten Arbeitszimmerfalls intervenierte der Steuerausschuss womöglich im Angesicht der allgemeinen Wohnungsnot. Der BFH hatte sein Urteil dann jedenfalls mit Blick auf den intellektuellen Horizont der an den Steuerveranlagungen potenziell beteiligten sachkundigen Bürger formulieren müssen.
Vielleicht liegt hier eine starke Quelle einer Unzufriedenheit beim Steuernzahlen: Einerseits ist das limitierende, altliberale Element der bürgerschaftlich-demokratischen Beteiligung bei bewertungsbedürftigen Tatbeständen vom Typ "Sandhaufen" sang- und klanglos beseitigt worden.
Andererseits wird der parlamentarische Gesetzgeber, so mag der Eindruck sein, seinen Aufgaben nicht gerecht, sobald er denn durch Sandhaufenprobleme staatliche Datenbestände generiert hat. Wenn denn schon seit über 50 Jahren Sandhaufen-Streit-Anreize geschaffen wurden, dem Staat private Räume als Arbeitszimmer zu melden, warum wird dann heute nicht z.B. ordnungspolitisch zwischen Leerstands- und urbanen Wohnungsmangel-Gebieten unterschieden?
Bei jeder neuen Volte, die von Finanzämtern, vom Gesetzgeber und den Gerichten in Sachen Arbeitszimmer geschlagen wird, darf man sich sich also an Defizite in der Bürgerbeteiligung, Ordnungspolitik und Gesetzgebungstechnik erinnert fühlen.
Lesehinweis: Rolf Bender, "Das 'Sandhaufentheorem'. Ein Beitrag zur Regelungstechnik in der Gesetzgebungslehre", ist erschienen in der Gedächtnisschrift für Jürgen Rödig (1942–1975), Berlin etc. 1978, S. 34–42.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Streit um Absetzbarkeit des Arbeitszimmers: . In: Legal Tribune Online, 19.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30395 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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