Jeder kennt die Wendung, aber kaum einer weiß, weshalb sie sich durchgesetzt hat und was dahinter steckt. André Niedostadek auch nicht, aber er nähert sich dem Problem in klassisch juristischer Manier: Mit drei konkurrierenden Theorien.
Man kennt das: Wann immer Vertreter der juristischen Zunft durch mangelnde mathematische Fähigkeiten auffallen, ist das alte Sprichwort schnell zur Hand: "Judex non calculat", der Richter rechnet nicht. Aber was hat es mit dieser Redensart eigentlich auf sich? Sollen, wollen oder können Juristen wirklich nicht rechnen? Sind Sie zahlenscheu? Ganz sicher nicht. Zahlen spielen im Recht eine immense Rolle. Gerechnet wird in Kanzleien und Rechtsabteilungen, in Behörden und bei Gericht ständig – und es sind auch längst nicht alle so schlecht darin, wie der Spruch befürchten lässt. Doch was ist dann gemeint?
Die "Sich-keinen-Kopf-machen"-Theorie: Richter brauchen sich um die Rechenarbeit im Grunde keinen Kopf zu machen. Das zeigt schon ein Blick in die Zivilprozessordnung: Rechnungsfehler (sic!), so heißt es in § 319 Abs. 1 ZPO, sind wie Schreibfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die in dem Urteil vorkommen, jederzeit vom Gericht auch von Amts wegen zu berichtigen. Kurzum: dem Rechenergebnis im Urteil kommt keine Rechtskraft zu. Beruhigend für die Richterschaft.
Die "Über-den-Daumen-gepeilt"-Theorie: Als aus dem Römischen Recht überliefertem Sprichwort lässt sich aus dem "Judex non calculat" auch noch etwas anderes herauslesen: Jura ist keine "Zählwissenschaft". Entscheidungen lassen sich nicht mathematisch exakt ableiten. Es geht stets um Bewertungen – Jurisprudenz als Rechtsklugheit. Und wieder hilft ein Blick in die Zivilprozessordnung: Zwar entscheidet ein Gericht über eine Schadens- oder Forderungshöhe, wenn dies zwischen den Parteien streitig ist. Das erfolgt aber unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung (§ 287 Abs. 1 ZPO). Noch jedenfalls, möchte man hinzufügen. Denn ob diese freihändige Festlegung harter Zahlen ein paar weitere Jahre des ungebremsten LegalTech-Hypes überstehen wird? Man kann das bezweifeln.
Die-"Schnee-von-gestern"-Theorie: Zugegeben: Die bisherigen Theorien sind vor allem auf die Gruppe der (Zivil-)Richter zugeschnitten. Für die übrigen Rechtskundigen tragen sie eher wenig zur Klärung dieser hochbrisanten Frage bei.
Allerdings: Wir reden hier von einem Spruch, der im Römischen Recht seinen Ursprung nimmt. Das liegt ja nun doch schon etwas länger zurück. Genau genommen war es zwischenzeitlich sogar über mehrere hundert Jahre in völliger Versenkung verschwunden. Alles also Schnee von gestern? Immerhin können Begriffe und Redewendungen im Laufe der Zeit durchaus ihre Bedeutung verändern. Wer heute etwas "geil" oder jemanden "toll" findet, hätte dafür vor einigen Jahrzehnten vermutlich heftige Reaktionen oder zumindest ein Kopfschütteln geerntet. Und so lässt sich "Judex non calculat" ja vielleicht auch als mit einem Achselzucken vorgebrachte, scherzhafte Entschuldigung deuten – "Sorry, Zahlen sind nicht so mein Ding".
Welche Theorie die herrschende Meinung widerspiegelt? Nun, das kommt natürlich ganz drauf an. Wie heißt es doch gleich: Zwei Juristen – drei Meinungen. Aber das ist eine andere Floskel. Woher kommt die eigentlich?
Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M. lehrt Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht an der Hochschule Harz in Halberstadt. Folgen Sie dem Autor auf Twitter unter @niedostadek
André Niedostadek, Rechtssprichwörter kurz entschlüsselt: . In: Legal Tribune Online, 08.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22612 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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