2/2: Verbrecher in spe als Verteidiger der Rechtsordnung
Colombos Lösungsweg war unpopulär, populär war weitere Strafverfolgung. Aus den Parlamentswahlen im März 1994 ging Berlusconis "Forza Italia" erfolgreich hervor, die Beweislage gegen ihren Patron hatte sich zwischenzeitlich so weit verdichtet, dass Vorladungen und Haftbefehle folgten. Neben der vorteilhaften Immunität ergaben sich selbst für hartgesottene italienische Politiker allzu unappetitliche Einflussmöglichkeiten: Berlusconi versuchte, seinen Anwalt Cesare Previti zum Justizminister zu machen. Der Mann sollte später unter anderem wegen Richterbestechung rechtskräftig zu sechs Jahren Haft verurteilt werden. Die Ernennung scheiterte am Staatspräsidenten. Ersatzweise wurde Berlusconis Anwalt Verteidigungsminister – als Oberbefehlshaber der uniformierten Staatspolizei, der Carabinieri, und des militärischen Geheimdienstes eine einflussreiche Größe auch in der Innen- und Rechtspolitik.
Um Anklagen und Ermittlungen gegen das Umfeld des eigenen Unternehmens vorzubeugen, erließ die erste Regierung Berlusconi am 13. Juli 1994 eine Verordnung, die für eine Anzahl von Wirtschaftsdelikten die Ausstellung von Haftbefehlen untersagte, darüber hinaus verbot, Informationen dazu an die Presse weiterzugeben. Zu den direkt Begünstigten zählte Paolo Berlusconi, der Bruder – seit 1990 auch kartellrechtlicher Strohmann als Herausgeber einer Berlusconi-Zeitung.
Am 14. Juli 1994 drohten die Mailänder Staatsanwälte mit ihrem Rücktritt. Die Freilassung teils schon geständiger Korruptionsverdächtiger tat neben der Popularität von Staatsanwalt Antonio Di Pietro ein Übriges – siebeneinhalb Monate nach Amtsantritt war die erste Regierung Berlusconi am Ende.
Berlusconi schafft das Recht
"I didn’t really notice", gibt der Berlusconi-kritische, britisch-italienische Historiker Paul Ginsborg die Haltung von Zeitgenossen zum Mussolini-Regime wieder und meint, das Gleiche für die Regierungen Berlusconis festhalten zu dürfen: Ignoranz gegenüber dem permanent-latenten Bruch mit der bürgerlichen Rechtsordnung.
Das "Decreto salvaladri" ("Rettet-die-Diebe-Dekret") vom 13. Juli 1994 hatte schon zu einer Lage geführt, die eigentlich jedes Juristenherz bluten lassen sollte, grenzüberschreitend womöglich in Zeiten der Euro-Einführung. Alexander Stiller urteilt zum bald 20 Jahre zurückliegenden "Decreto"-Vorgang harsch: "Die einer Boulevardkomödie würdige Szene, wie der Premierminister/Großunternehmer und seine Minister/Manager sich mit den Verteidigern ihrer per Haftbefehl gesuchten Angestellten treffen, wirkt wie eine Lehrbuchillustration zum Thema Interessenskonflikt und seine Gefahren."
Die "Boulevardkomödie" setzte sich seither fort, ihr vermeintlicher "Clown" sollte 2001-2005, 2005-2006, 2008-2011 wieder Ministerpräsident werden, vor der Verfolgung durch die schrecklichen kryptokommunistischen Staatsanwälte durch Immunitätsgesetze geschützt, die immer wieder bis zur höchsten Instanz umstritten waren.
Neben den strafprozessualen Extra-Nummern steht eine Anzahl medienrechtlicher Bonus-Regeln. Das "Decreto Berlusconi" von 1985, eine Verordnung, die später in Parlamentsgesetz überführt wurde, legalisierte die Normumgehung mit der Videokassette: Hatte der Bauunternehmer Berlusconi zunächst nur einen TV-Kanal in seiner Siedlung nahe Mailand, segnete sein Freund Craxi die von Gerichten beanstandete Parallelausstrahlung in räumlich getrennten Netzwerken ab. Die "Legge Mammi", benannt nach Postminister Oscar Mammi, sollte zwar 1990 die Medienmacht Berlusconis beschneiden, dass Italien nur über eine schwache kartellrechtliche Tradition verfügt, musste sich vor Gericht erweisen: Faktisch zementierte der Beschränkungsversuch ein Duopol von Berlusconi-Sendern und RAI, dem Staatsrundfunk, unter Ausschluss dritter Parteien. Die Legge Maccanico 1997 sollte wiederum Marktmacht beschränken, führte aber faktisch zur Ausdehnung der Berlusconi-Frequenzen. Ein ähnliches Spiel bot die Legge Gasparri, 2004: Eine Neudefinition von Medienmarktsegmenten erweiterte die Berlusconi-Volumina in den Teilsparten, indem etwa die Rundfunkgebühren des Staatsrundfunks als Vergleichsgröße eingerechnet wurden.
In seiner letzten längeren Nebentätigkeit als Regierungschef schützte Berlusconi ein Gesetz über die berechtigte Abwesenheit vor Gericht gegen die unangenehme Seite der Öffentlichkeit in eigener Sache, das zunächst höchstrichterlich kassiert werden musste, um den einen oder anderen Prozess in Gang zu bekommen. Einer endete am 26. Oktober 2012 mit einer Verurteilung zu vier Jahren Haft wegen Steuerbetrugs – der Schaden liegt bei 270 Millionen Euro –, die Anklage wegen Beschäftigung einer minderjährigen Prostituierten, die sogenannte "Ruby-Affäre", ruht wegen der jüngst stattgefundenen Parlamentswahlen.
Rechtskraft ist einstweilen nicht in Sicht.
Eine gute "Lex Berlusconi": EU-Klassenkeile de lege ferenda?
Im Verlauf der sogenannten Euro-Krise wurde oft geäußert, dass die Einführung der Gemeinschaftswährung ohne koordinierte Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Eurozonen-Staaten übereilt gewesen sei. Dass der griechische Staat seine Statistiken fälschte, um überhaupt teilnehmen zu dürfen, weiß inzwischen jedes Kind. Doch sollte es um Italien besser stehen? Ein Ex-Ministerpräsident, der tatsacheninstanzlich wegen Steuerhinterziehung in dreistelliger Millionenhöhe verurteilt wurde und nun wieder in der Senatskammer des Parlaments sperrminoritär die Strippen ziehen kann – und da sollen die Kassenbücher des Staats im Reinen sein?
Sollte sich das "Projekt Europa" aktuell nicht doch noch selbst zerlegen, wäre bei der nächsten großen Reform der europäischen Verträge wohl auch eine Möglichkeit vorzusehen, die "Peers" des europäischen Politiker-Adels vor einem europäischen Gericht erster Instanz auf Beseitigung aus ihren Machtpositionen verklagen zu können. Denn was nützt die angeblich der Währungsunion vorzuschaltende gemeinsame Haushaltspolitik, wenn "Cavaliere" wie Berlusconi die einzelstaatlichen Haushalte in Händen halten? Statt immer bloß über neofeudale Tendenzen zu polemisieren, könnte man das ja mal ernst nehmen: Noch im schlimmsten Feudalsumpf kannte der alte Adel Klassenkeile.
Bis dahin darf man einen Wunsch an die Adresse der fleißigen Nachbereiter der Schreibarbeiten von Ex-Doctrix Schavan und Ex-Doktor zu Gutenberg richten: Berlusconis juristische Diplomarbeit ist allem Augenschein nach ungeprüft. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn das gute Stück echte akademische Fleißarbeit gewesen sein sollte. Der Nachweis treibt ihn nicht aus, tröstet aber seriöse Juristen vielleicht ein wenig.
Martin Rath, Silvio Berlusconi: . In: Legal Tribune Online, 03.03.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8253 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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