In der "Mollath-Affäre" stehen zurzeit die wenig glanzvollen Leistungen psychiatrischer Sachverständiger im öffentlichen Interesse. Doch das Verhältnis von Rechts- und richtigen Wissenschaftlern ist seit jeher kein einfaches. Martin Rath hat ihm anhand einer hoch aktuellen rechtshistorischen Untersuchung nachgespürt.
Mit einem "Tropfen technischen Öls" sollten Jurastudenten oder Referendare "gesalbt" werden. Diese Forderung, die Juristenausbildung um naturwissenschaftliche Aspekte zu ergänzen, kam beim Deutschen Juristentag auf, der 1910 in Danzig stattfand. Die "Deutsche Richterzeitung" berichtete damals von Vortragsreihen für die Herren Richter, die sich dem technischen Weltwissen ihrer Zeit stellten.
"Dampfmaschinenbau, Verbrennungsmotoren, Nahrungsmitteluntersuchung, Lokomotivtechnik, Münzfälschungen, Gerichtsmedizin und Kriminalpsychologie, Meteorologie", zählt Lorenz Franck in diesem Zusammenhang in seiner 2013 verteidigten Kölner Dissertation "Juristen und Sachverständige" auf. Darin untersucht er die Frühgeschichte des forensischen Sachverständigenwesens – zur Zeit des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des NS-Staats.
Beweisrecht trifft auf moderne Wissenschaft und Technik
Ein "Frühschoppen im Salzbergwerk 400 Meter unter der Erde" zeigte zwar, dass schon zu Kaisers Zeiten die heitere Seite beruflicher Fortbildung nicht zu kurz kam. Doch das juristische Interesse an naturwissenschaftlicher und technischer Bildung war nicht zuletzt eine Reaktion auf ein selbst wahrgenommenes Defizit, das über die Fachpublizistik hinaus unter dem Schlagwort der "Weltfremdheit der Juristen" öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr.
An die Stelle starrer Beweisregeln hatten die modernen Prozessordnungen seit Anfang des 19. Jahrhunderts die freie richterliche Beweiswürdigung gestellt. Dies wiederum stellte den Gesetzgeber und die gerichtliche Praxis vor die Frage, in welcher Form das überlegene wissenschaftliche und technische Wissen sachkundiger Personen für künftige Prozesse nutzbar gemacht werden könnte.
Spielarten des Beratungsparadoxons
In den zuweilen fragwürdigen gerichtspsychiatrischen Gutachten bzw. ihrer unkritischen Verwertung durch Gerichte zulasten weggesperrter Bürger in jüngster Zeit, eigentlich aber von jeher in jedem Gutachten, das in seiner Komplexität die Grenzen einer guten Schul- und Allgemeinbildung übersteigt, manifestiert sich das sogenannte Beratungsparadox. Ihm begegnet heute auch manches Management, das sich McKinsey & Co ins Haus holt: Wenn die herbeigerufenen Helfer alles, was relevant ist, besser wissen als jene, denen die Entscheidung formal zugewiesen ist, warum entscheiden sie dann nicht gleich selbst?
Juristen und Justizkritiker sprechen hier etwas schamhaft von der Abhängigkeit der Gerichte von den Gutachtern. Dass ein Wissens- und Machtgefälle zwischen Jurist und Arzt existiert, zum Beispiel wenn die Schuldfähigkeit des Beschuldigten in einem Strafprozess ex post zu bewerten ist, wurde schon zu Kaisers Zeiten so gesehen, im Gegensatz zur Gegenwart aber geradezu leidenschaftlich diskutiert.
Ausflug in die wilden Jahre unserer Gerichtsverfassung
Einer der führenden Köpfe der sogenannten Freirechtsschule, der badische Rechtsanwalt Ernst Fuchs (1859-1929) beispielsweise, nannte den in der Sache jeweils nur begrenzt kundigen Richter Spitz einen "Krypto-Zivilschöffen". Das muss in den Ohren des Berufsrichters ausgesprochen boshaft geklungen haben, denn schließlich hatten die zwölf Laienrichter, die bis 1924 in deutschen Geschworenengerichten über die Schuldfrage entschieden, nicht eben den Ruf, den intellektuell leistungsfähigsten Teil der deutschen Justiz zu bilden.
Im Spannungsfeld zwischen juristischem und naturwissenschaftlich-technischem Sachverstand sahen in den frühen Jahren der 1878 etablierten Gerichtsverfassung und der modernen Straf- und Zivilprozessordnung (StPO, ZPO) aber nicht nur die Juristen ihr Renommee gefährdet. Die Interessen der Gutachterseite vertrat unter den Reichstagsabgeordneten, die sich der Materie angenommen hatten, Friedrich Karl August Zinn (1825-1897).
Medizinischen Sachverständigen war, wie sie in Petitionen an Zinn klarmachten, beispielsweise daran gelegen, dass Gutachten über strafrechtliche Zurechenbarkeit die Gerichte binden sollten. Koryphäen auf dem Gebiet der Psychiatrie, als Staatsdiener von der eigenen Würde überzeugt, wollten sich nicht der Schmach ausgesetzt sehen, dass ein medizinischer Laie in Richterrobe ihre Gutachten aus Gründen der "freien Beweiswürdigung" barsch verwerfen könnte. Doch ihr Anliegen blieb in der Gesetzgebungskommission, die bis auf Zinn nur aus Juristen bestand, erfolglos.
2/2: Gutachter an den Grenzen des Unfugs
Gegen starke Vorbehalte freiheitsliebender konservativer und Zentrums-Abgeordneter setzte sich der Liberale Zinn – im Hauptberuf Chefarzt und Direktor der "kurmärkischen Landes-Irrenanstalt" – immerhin erfolgreich dafür ein, dass potenziell Unzurechnungsfähige bis zu sechs Wochen zur psychiatrischen Begutachtung inhaftiert werden konnten.
Neben der unbehaglichen Frage, ob Sachverständige – gleich den gewöhnlichen Zeugen – zu einer Auskunft genötigt werden könnten, weckte auch die Sparsamkeit mancher Gerichtsbehörden den Unmut des intellektuell angezapften Expertentums. Ein Arzt, der gemäß einer Anekdote aus dem Jahr 1912 vor Gericht bloß als sachkundiger Zeuge statt als Gutachter befragt worden war, gab daraufhin nur die akustische Nachahmung eines Herzschlags zum Besten, weil er als Zeuge nur seine Beobachtungen, nicht aber seine sachkundige Bewertung abgeben müsse.
Sachkundige Gesetzgebung
Selbstverständlich bilden derartige Schnurren nur angenehm illustrative Einsprengsel in Francks Dissertation, die einen frischen Blick auf das bisweilen schwierige Verhältnis von rechtlichem und wissenschaftlichem Sachverstand liefert. In der historischen Entwicklung seines Themas zeichnet er die Entstehung des in wesentlichen Teilen bis heute geltenden deutschen Zivil- und Strafprozessrechts nach. Weil Franck auch auf die Rechtsgeschichte vor Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze von 1878 blickt, finden sich mitunter Ansätze zu juristischen Lösungen, die ohne Diskussion aus dem Prozessrecht ausgeschieden wurden – beispielsweise die ältere, römischrechtliche Konstruktion, nach der dem Gutachter (als "arbiter") eine eigene Entscheidungsgewalt und -verantwortung vom Richter (als "praetor") übertragen wird.
Allein für den Blick auf nicht nur kompetente, sondern sehr souveräne Gesetzgeber lohnt sich die Lektüre, abgesehen von der Aktualität der angesprochenen Gutachter-Problematik. Dass der sogenannte Hannover’sche Vorentwurf zur ZPO beispielsweise in über 300 Sitzungen beraten wurde, erstaunt. Mehr noch, dass der preußische Justizminister einen hunderte Paragraphen fassenden alternativen Entwurf höchstselbst redigierte, weil er im Winter des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 wohl nichts Besseres zum deutschen Einigungsprozess beitragen konnte.
Für das Verhältnis von Rechts- und echten Wissenschaftlern haben die Gründerväter unserer Rechtsordnung vielleicht, wie heutige Konfliktfälle zeigen, keine abschließende Lösung gefunden, aber es ist interessant, ihnen mit Franck bei der Gesetzgebungsarbeit zuzuschauen. Ob das für heutige Justizministerinnen und -minister auch gilt?
Man darf daran zweifeln. Vermutlich lassen sie aktuell viel Arbeit von Gutachtern erledigen.
Hinweis: Lorenz Franck: "Juristen und Sachverständige". Der Diskurs um die rechtliche Ausgestaltung des Verfahrens mit Sachverständigen während der Zeit des Deutschen Reiches. Baden-Baden (Nomos), zugleich Diss. Köln (Referent/Korreferent: Professores Haferkamp und Prütting).
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Sachverständige vor Gericht: Der Richter als "Krypto-Zivilschöffe" . In: Legal Tribune Online, 01.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9469/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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