Rechtsprofessorin Nora Markard und Journalist Ronen Steinke erzählen anhand von Fällen, wo Menschen unter Recht leiden und wie sie das ändern könnten. Hochaktuell und lesenswert – und ein Anstoß zum Aktivismus?
In der vergangenen Woche kommt es in Straßburg zu einer Sensation: Erstmals hat eine Klimaklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Erfolg. Die Straßburger Richter stellen fest, dass die Schweiz alte Menschen nicht ausreichend vor den Folgen des Klimawandels schützt. Zeitgleich lehnt er die Klimaklage von sechs portugiesischen Jugendlichen gegen 33 Staaten ab. Zwei Fälle sogenannter Klimaklagen, die sich auch in "Jura Not Alone" finden. Nur zwei von vielen Beispielen, die zeigen, wie hochaktuell das neue Buch der Münsteraner Rechtsprofessorin Nora Markard und des SZ-Rechtsjournalisten Ronen Steinke ist.
Es geht nicht nur um Klimaschutzrecht und die Frage: "Können wir mit Jura den Planeten retten?" Vielmehr wollen Markard und Steinke die Leser:innen auch in elf weiteren Rechtsbereichen "ermutigen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern". Das gelingt in weiten Teilen – aber nicht alle der zahlreichen Geschichten fügen sich gleichermaßen gut ein.
In den zwölf Kapiteln erzählen die Autoren mitreißende Geschichten von Menschen. Menschen, die das Recht erfolgreich verändern, die dabei scheitern, die unter Rechtsnormen oder ihrer Anwendung leiden. Aktuell ist das Buch dabei fast überall – weil es eben "garantiert woke" ist, wie Jurios schreibt.
Aktuelle Themen von Abtreibung bis Raubkunst
Das Timing der Veröffentlichung ist beinahe unheimlich: Sein Klimaseniorinnen-Urteil fällt der EGMR einen Tag vor Erscheinen des Buches am 10. April. Fünf Tage später stellt die von der Bundesregierung eingesetzte "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin" ihre Empfehlungen dazu vor, inwieweit Abtreibungen in Deutschland entkriminalisiert werden können. Auch diese Diskussion findet sich in "Jura Not Alone", Kapitel vier: "Strafrecht – was hilft gegen sexistische Paragrafen?"
Mitte der Woche legt das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf vor, der es Geschädigten erleichtern soll, NS-Raubkunst zurückzufordern. Verjährungsfristen anzupassen, wie dort vorgesehen, ist dringend notwendig. Aber reicht das? Müsste man nicht auch ans Sachenrecht ran? Das Kapitel "Eigentum – wem steht was zu?" regt in dieser Hinsicht zum Nachdenken an.
Natürlich fehlt auch die Diskussion nicht, wie man das Bundesverfassungsgericht vor Regierenden mit Alleinherrschaftsanspruch schützen kann. Die hatte 2019 der Journalist und Verfassungsblog-Gründer Maximilian Steinbeis angestoßen, indem er in der SZ ein "ziemlich beunruhigendes Szenario" entwarf, wie es im Kapitel "Demokratie" heißt. Markards und Steinkes Frage im Untertitel – "wie stabil sind wir gegen eine Übernahme von rechts?" – ist in den vergangenen Wochen immer wieder gestellt und beantwortet worden; Lösungsvorschläge nehmen konkretere Züge an.
Alle lernen etwas
Aktualität allein macht noch kein gutes Buch über geltendes Recht, Justiz und Regulierung. Es sind vor allem das Storytelling und der Sinn für das feine – hochrelevante, aber wenig bekannte – Detail, die eine absolute Leseempfehlung für "Jura Not Alone" rechtfertigen.
Man lernt viel – und mit "man" sind alle gemeint: Wer zu Privatrecht und Nachhaltigkeit forscht, weiß mehr über die Klage des peruanischen Bergführers Saúl Luciano Lliuya, als das erste Kapitel von "Jura Not Alone" schildert. Doch weiß die Person auch, wie und wo Refugee Law Clinics in Deutschland entstanden sind? Wer sich für "woke" Themen interessiert, verfolgt die Verfahren der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und weiß dann womöglich auch, was der Bundesnachrichtendienst damit zu tun hat, dass Bijan Moini zur GFF kam. Aber kennt er/sie auch Rechtsprofessorin Theresia Degener, die ihren Laptop mit dem Fuß bedient, weil sie keine Arme und Hände hat, und welchen Anteil Degener und ihr Vater daran hatten, dass 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat?
Insbesondere, wer den zahlreichen Endnoten nachgeht, wird belohnt. Dort finden sich nicht nur Quellennachweise und weiterführende Literatur, sondern auch Reformvorschläge fürs Jurastudium. So fragen sich die Autoren in Endnote sechs des fünften Kapitels: Ist es wirklich sinnvoll, das Sexualstrafrecht wegen möglicher Traumata komplett aus dem Studium herauszuhalten? "Wäre ein sensibler, aufklärender Unterricht zu dem Thema – wie es ihn im Rahmen des Strafrechts ja auch zu anderen grausigen Themen gibt – nicht auch vorstellbar?" Es lohnt sich, in dem gut 50-seitigen Verzeichnis ein zweites Lesezeichen zu platzieren; dafür bietet sich auch der praktische wie stylishe Buchumschlag an.
Kolonialismus und Völkerrecht: "Es ist zum Haareraufen"
Show, don't tell – so lautet eine Grundregel des Schreibens. Die beherrschen Markard und Steinke perfekt. In "Jura Not Alone" tragen die Geschichten der Protagonist:innen die Analyse. Um Missstände zu kritisieren, genügt es oft, die Einzelschicksale von Menschen darzustellen. Bei den Leser:innen wird Empathie mit den porträtierten Personen geweckt, die gar kein anderes Gefühl zulässt als: Hier geht es ungerecht zu. Die Wörter "ungerecht" und "unfair" müssen Markard und Steinke dabei gar nicht oft ausschreiben, mit expliziten Wertungen gehen sie sparsam um. Anders im Kapitel Völkerrecht. Hier zeigt schon der Untertitel an, dass es clashen wird: "Kann Recht gegen Macht gewinnen?"
Dieses elfte Kapitel ist eines derjenigen, die in "Jura Not Alone" etwas aus dem Raster fallen. Es geht los wie jedes andere, mit einem Fall. "La cour", "das Gericht" – so beginnt die Einführung in die UN-Institutionen. Gemeint ist der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag. Geschildert wird eine Anhörung vom März 2022: Die Ukraine geht gegen Russland vor, verlangt vom IGH, einstweilige Anordnungen zu treffen, um die Invasion zu stoppen. Denn ein Angriff auf einen souveränen Staat verbietet das Völkerrecht. Dazu stellen Markard und Steinke direkt die Frage aller Fragen: "Bringt es etwas, wenn so ein Verbot auf einem Stück Papier steht?"
Die Frage kann man nicht nur auf geschriebene Rechtsnormen beziehen, sondern auch auf den Text des Beschlusses, mit dem der IGH kurz darauf einen Stopp des Angriffskriegs anordnen wird. "Die Ukraine hat gewonnen. Doch es passiert: nichts", resümieren die Autoren. "Statt der Stärke des Rechts regiert weiter das Recht des Stärkeren." Der Frust ist deutlich zu hören, und er steigert sich im weiteren Verlauf dieser Analyse der Imperfektionen der UN-Institutionen – das deutlich längste Kapitel des Buches.
Leser:innen lernen hier erneut viel, womöglich selbst Expert:innen des Völkerrechts (wie es beide Autoren sind). Vor allem über den "kolonialen Geist des Völkerrechts" und über Vorschläge zur Demokratisierung der UN. Doch eine "Ermutigung" ist dieser Teil nicht, im Gegenteil: "Es ist zum Haareraufen."
Wen ermutigt das Buch wozu?
Danach folgt noch ein Kapitel über Menschenrechte, das Leser:innen auch eher skeptisch in die Zukunft blicken lässt. Und dann endet das Buch plötzlich auf Seite 226 – ohne Schlusskapitel.
"Es gäbe natürlich noch eine Menge mehr zu erzählen", geben die Autoren im Vorwort zu. Das stimmt. Etwa darüber, wie trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Personen unter dem Transsexuellengesetz (TSG) pathologisiert werden. Das hätte so perfekt in das Buch gepasst, dass man Ausführungen hierzu trotz des Disclaimers im Vorwort vermisst. Auch hierzu wäre das Buch hochaktuell gewesen: Zwei Tage nach seiner Veröffentlichung beschloss der Bundestag eine lange diskutierte und hochumstrittene Reform: Das TSG wird durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt. Auch Menschenrechtsklagen gegen Unternehmen wären ein spannendes Thema strategischer Prozessführung gewesen. Wie Steinke und Markard ihre Themenauswahl getroffen haben, sagen sie nicht. Anhand der Struktur des Buches erschließt es sich auch nicht. Die zwölf Kapitel sind alle für sich interessant, aber durch die lehrbuchartige Einteilung in Rechtsgebiete recht isoliert voneinander.
Über mehr als 200 Seiten wurde man als Leser:in fest an die Hand genommen, ohne es zu merken. Doch nach dem Ende ohne Schluss steht man, anders als der Buchtitel es will, doch ein wenig allein da. Wen soll das Buch wozu ermutigen?
Manche Kapitel lesen sich als Inspiration oder gar Aufforderung zu zivilgesellschaftlichem Engagement. Das könnte sich an Studierende wie Berufsanfänger richten und passt zum Verlagshaus, Layout und dem intenstiven Instagram-Marketing, das die Autoren betreiben. Andere Teile schildern eher Diskurse, die auf den höchsten politischen Ebenen geführt werden (müssen). Und wieder andere richten sich an die, die täglich das Recht anwenden. Ob aber der Kanzler, seine Ministerinnen und Staatssekretäre, UN-Botschafter sowie Berufsrichterinnen ein Buch mit dem Titel "Jura Not Alone" wirklich lesen?
Und damit noch ein Wort zum Titel: Das Wortspiel ist nicht nur von Stefan Klawitters Twitch-Kanal gemopst – worauf die Autoren im Dankeswort auch hinweisen. Es gibt dem Buch auch den Anstrich, ein Studienbuch zu sein, entweder eins zur Selbsthilfe oder ein alternatives Lehrbuch für Rechtssoziologie. Ob es das sein will, bleibt am Ende unklar. Vielleicht spielt das aber auch keine Rolle. Die Leseempfehlung geht an alle Personen, die dem Recht ausgesetzt sind. Also an alle.
Nora Markard, Ronen Steinke, "Jura not alone", 12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern, Campus Verlag, 282 Seiten, 25 Euro, ISBN 9783593518503.
Buchrezension "Jura Not Alone": . In: Legal Tribune Online, 20.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54377 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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