Heribert Prantl kritisiert in einem aktuellen Band die Art der und den Umgang mit den Corona-Maßnahmen. Kritik kann und muss man durchaus üben, findet auch Klaus F. Gärditz - aber bitte weniger aufgeregt und skandalisierend.
Die Pandemie fordert den demokratischen Rechtsstaat heraus. Vergangenes Jahr haben Jens Kersten und Stephan Rixen eine Zwischenbilanz vorgelegt, die mit Optimismus, nüchtern und unaufgeregt dem Verfassungsstaat ein differenziert positives Zeugnis ausstellt.
Nüchternheit und Unaufgeregtheit sind dagegen nicht das Genre, das Heribert Prantl bevorzugt bedient. Seine Qualitäten liegen vielmehr in der Zuspitzung und einer kompromisslosen Liberalität, die immer mehr aus der Zeit gefallen erscheint - aber als Kontrast zu den Ordnungssehnsüchten einer an der eigenen Freiheitskultur ermüdenden Gesellschaft umso mehr benötigt wird.
Prantl hat nun einen eigenen Band zur Verfassungslage in der Pandemie vorgelegt, der pessimistisch eine freiheitliche Kernschmelze im Gange sieht. Der Band ist eine Sammlung von vorherigen Meinungsbeiträgen zwischen Februar und Dezember 2020. Die Chance, die Artikel durch Nachweise und Ergänzungen anzureichern, nutzte er dabei nicht.
Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen
"Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung", schreibt Prantl. Dem wird niemand widersprechen. Ob die weitreichenden Freiheitsbeschränkungen zu Zwecken des Infektionsschutzes gerechtfertigt sind oder nicht, ist damit aber nicht entschieden. Dass Not das Gebot des Grundgesetzes braucht, dürfte heute als unangefochten gelten; die apokalyptische Staatserotik des Ausnahmezustands hat ausgedient.
Aber was fordert die Verfassung, was verbietet Sie? Prantl argumentiert hier durchweg volksnah als Verfassungspatriot der Emotionen, nicht als trockener Jurist. Appelle an die gefühlte Verfassung können durchaus wirkmächtig sein, in einem Verfassungsstaat mit funktionierenden Institutionen der Rechtsanwendung verpuffen sie aber meist, zumal dann, wenn schon die gesellschaftliche Mehrheit anders fühlt.
Scharfsichtige Kritik
Prantl ist Pamphleteer und seine scharfsichtigen wie scharfzüngigen Gesellschaftsanalysen machen keine Gefangenen. Er legt immer wieder den Finger in die Wunde, wo es um politischen Aktionismus mit Freiheitskosten ohne Wirkung geht. "Die Androhung für ein Verhalten, das nicht kontrolliert werden kann, ist undurchdachter Aktivismus", schreibt er dazu. Auch der Umgang mit Geflüchteten in der Pandemie markiert vielleicht das erbärmlichste Versagen der Europäischen Union und ihrer selbstgefälligen Werterhetorik, worauf Prantl mit Recht hinweist. Die deutsche Staatsrechtslehre, deren Empathie für das Freizeitleben zwischen Studentenfete, Schwimmbad und Shopping Mall für eine sonst detachierte Professorenkaste geradezu rührend ausfiel, hat sich hierzu im Übrigen kaum bemerkbar gemacht.
Dass die journalistische Covid-19-Berichterstattung "zu wenig Einordnung, zu wenig Recherche" geboten habe, wie Prantl schreibt, ist die Einsicht eines Urgesteins des deutschen Journalismus, die Hoffnung macht. Ein Pandemieproblem ist das freilich nicht. Schon lange wurden die Wissenschaftsredaktionen ausgedünnt. Und ein berufsethisch prekäres Verschwimmen von Journalismus und politischem Aktivismus, bei dem es vornehmlich auf die Haltung ankommt, Tatsachen in postmoderner Verspieltheit aber zu Nebensachen werden, hat schon vor Corona Glaubwürdigkeit gekostet.
"Die Presse ist nicht Lautsprecher der Virologie, sondern der Demokratie", heißt es in dem Werk. Aber ist sie das wirklich? Gar kein Lausprecher zu sein, wäre vielleicht auch eine Lösung. Viele Zeitungen scheinen dies erkannt zu haben, schon weil sie nur dann überleben werden, wenn sie mehr bieten als das schrille Dampfgeplauder der Social Media.
Konkrete Lösungsangebote? Fehlanzeige
Konkrete Problemlösungsangebote sind dagegen nicht die Stärke des Buches. Prantl beschreibt gewiss einfühlsam die drastischen Folgen der Pandemiemaßnahmen, etwa für die schulische Bildung. Aber was wären praktische Alternativen gewesen? Und vor allem: Zu welchem Zeitpunkt? Allenthalben sieht man Grundrechte in Quarantäne, erfährt aber nicht, wie sich Prantl angemessene Pandemiebekämpfung positiv vorstellt. Wo sind die normativen Wertrelationen? Könnten die Grundrechte endlich aufatmen, wenn dann die Grundrechtsberechtigten wie in Bergamo zu Tausenden ersticken, weil das Gesundheitssystem zusammengebrochen ist? Ein Lernen von anderen Demokratien, die die Pandemie besser bewältigt haben (von Taiwan über Südkorea bis Australien und Neuseeland), wäre wichtig, trifft aber auf sehr unterschiedliche gesellschaftliche, infrastrukturelle, technische und geografische Gegebenheiten, die nicht ohne weiteres übertragbar sind.
Manches im Buch wirkt wie Trauerarbeit am lieb gewonnenen Lebensstil. Dass z. B. Videokonferenzen "keine wirkliche Begegnung" seien, mag stimmen. Vielleicht tut es aber nicht einmal das. Und wer mit Prantl vom Wert der Arbeitnehmerrechte in der Pandemie spricht, darf von den schikanösen Dienstreisen nicht schweigen, die rücksichtlose Arbeitgeber ihren Beschäftigten vor der Pandemie ständig bedenkenlos zugemutet haben, weil der "Chef" (wohl weniger die Chefin) die persönliche "Begegnung" einfach nur aus bierbäuchiger Gewohnheit zu brauchen meint – verpulverte Kohlendioxid-Emissionen hin, Reisestress und Familienabstinenz her.
Jedenfalls haben Zoom & Co. ganz wesentlich dazu beigetragen, Kommunikationsbedingungen einer freiheitlichen Gesellschaft im Rahmen dessen aufrechtzuerhalten, was (auch den Schwächeren) zuzumuten ist. Wären Sitzungen von Betriebsräten, Hochschulorganen oder Parlamentsausschüssen aufs volle Infektionsrisiko derjenigen, die sich dem Sozialdruck oder gar den Rechtspflichten zur Mitwirkung nicht entziehen können, freiheitsschonender? Gerade politischer Freiheit drohte nie ernsthaft der Erstickungstod. Dies zeigt sich schon daran, dass die Pandemie-Maßnahmen gerade zu einer erheblichen und streitbaren Politisierung geführt haben, die schon vor der Pandemie längst andere Formate und Foren okkupiert hat als die hier verklärte "Latsch-Demo".
Schiefe Freiheitsbilanz
Manches im Band bleibt ziemlich schiefe Rhetorik, etwa die Behauptung, die "Sicherheitsgesetze", die zur Terrorismusbekämpfung "verhängt" (?) wurden, fänden in der Pandemie "ihre willkommene Potenzierung" (S. 8). Das ist schlicht falsch, weil zum einen keine Anti-Terrorgesetze zur Anwendung kamen, zum anderen die einschlägigen Ermächtigungen zur Infektionsbekämpfung – bis zur Ergänzung um § 28a IfSG im November 2020 – ohnehin seit dem Bundesseuchengesetz jahrzehntelang bestanden. Von akustischer Wohnraumüberwachung, Rasterfahndung oder Sicherungshaft gegen mutmaßliche Quarantänebrecher oder die Corona-Partyszene ist auch nichts bekannt.
Gleichwohl meint Prantl: "Noch nie in der Geschichte" sei "das Leben von Menschen außerhalb von Gefängnissen so stark reguliert worden wie in der Corona-Zeit". Wohlwollend wird man dem Verfasser unterstellen müssen, dass er nur die Zeitgeschichte unter dem Grundgesetz meint. Wenn man Freiheitseinbußen nicht aus der komfortablen Sicht von Mehrheiten betrachtet, sondern vulnerable Minderheiten in Prantls Blick nimmt, bleibt selbst das eher der Zynismus einer aufgeschreckten Bürgerlichkeit, der das Flanieren im Park abhandenkommt.
Unterschätzte Verfassungsrechtsprägung
Prantl scheint mir aus Enttäuschung zudem die Verfassungsprägung der Pandemiemaßnahmen und ihres Zuschnitts zu unterschätzen. Gerade die Verfassungsrechtswissenschaft hat die Pandemie von Anfang an sichtbar, kritisch und energisch begleitet, was ihr großes Verdienst ist. Dass sich hierbei nicht immer der Standpunkt der Lautesten durchgesetzt hat, zeigt eher die Leistungsstärke des politischen Systems, dessen Vereinnahmung und Paralyse durch die Verfassungsdogmatik vor der Pandemie aus gutem Grund beklagt wurde – und zwar selbst von denen, die inzwischen den Bedeutungsverlust beweinen. Mit Recht wurde z. B. eine bessere Parlamentarisierung und damit Legitimation der Pandemiemaßnahmen gefordert.
Der Deutsche Bundestag, der sich unter Corona-Bedingungen als beeindruckend leistungsfähig erwiesen hat, normierte nach, freilich mit umstrittener Qualität. Rechtsstaatliche Abwägung ist aber nicht schon deshalb schlecht, weil das Abwägungsergebnis den Geschmack des Betrachters verfehlt. Die Wirksamkeit von Rechtsprechung lässt sich nicht nach Punkten für kassierte Allgemeinverfügungen oder Rechtsverordnungen bemessen, sondern maßgeblich auch an der Orientierung, die Entscheidungsgründe für das künftige Verwaltungshandeln stiften. Dass verfassungsrechtliche Bedenken in eine Ecke mit Verschwörungstheoretiker verbannt worden wären (S. 15), war jedenfalls mir bislang nicht aufgefallen.
Überabstraktion des Verfassungsrechtsdiskurses
Wo Verfassungsdiskurse verpuffen, trägt nicht zwingend die Politik die Schuld. Ein typisches Problem juristischer Corona-Debatten ist ihre Überabstraktion. Das gilt für die Staatsrechtslehre, aber auch für die Popularisierung von Verfassungsrecht durch Prantl, der über allgemeine Appelle an das Maßhalten nicht wirklich hinausgelangt.
Die Verhältnismäßigkeit bewährt sich im Konkreten. Die elektrisierenden Diskurse über Staat, Freiheit, Ausnahmezustand oder "die Stunde" von irgendwas lösen keine Probleme, Infektionsschutzmaßnahmen zugleich wirksam und freiheitsverträglich zurechtzuschneidern.
Man bräuchte weniger Kant, Hegel und Platons Politeia, dafür mehr Landratsamt. Hierfür war die deutsche Staatsrechtslehre nie gut aufgestellt. Entweder sie abstrahiert ins Fundamentale oder sie verliert sich im "Klippklapp" (Oliver Lepsius) der Grundrechtsdogmatik. Institutionell geerdete middle range theories, methodischer Umgang mit Tatsachen und Pragmatismus im Problemlösungszugriff fehlen weitgehend.
Wo bleibt die Nachdenklichkeit?
Gerade weil westliche Gesellschaften unter einem neuen Systemdruck stehen, sich gegen scheinbar erfolgreichere autoritäre Technokratien behaupten zu müssen, ist es wichtig, dass es kritische Stimmen wie Heribert Prantl gibt, die dem Staat beharrlich diejenigen Rechtfertigungen für Freiheitsverluste abverlangen, die jedem Menschen geschuldet sind. Dass solche Texte geschrieben werden und auf fruchtbaren Boden fallen, ist daher ein gutes Zeichen.
Freiheit im demokratischen Rechtsstaat erschöpft sich aber nicht in Abwesenheit von Zwang, sondern bewährt sich auch dadurch, praktische Entscheidungen zu ermöglichen, wie wir freiheitlich miteinander leben wollen. Dass sich unsere Institutionen hier so schlecht geschlagen haben, wie Prantl meint, vermag ich nicht zu erkennen.
Spiegelt die Hinnahme der einschneidenden Pandemiemaßnahmen wirklich die Renaissance eines autoritären Etatismus wider? Oder vielleicht schlicht zunächst einmal Fähigkeit zu Solidarität? Ist es für den Zustand selbstbewusster Liberalität einer Gesellschaft beunruhigender, dass man einen Lockdown aus vernünftigen Gründen erduldet oder larmoyant den ausgefallenen Abiball betrauert? Kann die Erduldung von Einschränkungen nicht auch zunächst einmal urliberales Vertrauen in die Institutionen sein, die wir demokratisch gewählt sowie legitimiert haben und die justizieller Kontrolle unterliegen?
Etwas mehr Nachdenklichkeit und weniger aufgeregte Skandalisierung hätten dem Buch gutgetan.
Der Autor Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz lehrt Öffentliches Recht an der Universität Bonn.
Das Buch: Heribert Prantl, Not und Gebot. Grundrechte in der Quarantäne, C. H. Beck, München 2021, 200 S., € 18,00.
"Not und Gebot" von Heribert Prantl: . In: Legal Tribune Online, 06.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44438 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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