Als wüsste sie, dass Verkehrsgerichtstag ist, denkt in einem Nest am Ende der Welt eine junge Staatsanwältin über die Grenzen der Polizeigewalt im Straßenverkehr nach. Weniger beruhigend findet Martin Rath die Überlegungen eines Staatsanwalts und eines Richters hierzulande über die juristischen Begrenzungen im Kampf gegen das Böse. Ein Versuch über zwei Arten Staats(anwalts)denken.
USA-Touristen, die mit dem Auto unterwegs sind und sich noch nicht an die lahme Höchstgeschwindigkeit gewöhnt haben, sind dann mitunter verwundert über das barsche Auftreten von Verkehrspolizisten im Land der Freien und Tapferen. Wenig souverän wirkt auch, was Film und Fernsehen vermitteln: Martialisch ist das Auftreten der Polizei, da werden Autofahrer angeherrscht, Papiere zu zeigen, ihr Fahrzeug stillzulegen und es zu verlassen – selbst wenn die Szene einmal ohne gezogene Waffen oder körperlichen Übergriff auskommt, liegt in ihr oft kaum verhaltene Aggression, eine Theatralik diffuser Angst.
Regeltreue Kfz-Insassen können allerdings von Verfassungs wegen im größten Bundesstaat der USA relativ sicher vor theatralischen Verkehrskontrollen sein, wie Patricia Haines, stellvertretende Staatsanwältin in Fairbanks (Alaska), in der Winterausgabe der Alaska Law Review (Dezember 2012, S. 261-287) festhält.
Verkehrspolizei zwischen Winter und Mückenschwarm
Unter dem Titel "Your papers, please: Police Authority to Request Identification from a Passanger During a Traffic Stop in Alaska" zeigt die junge Staatsanwältin der Staatsgewalt ihre Grenzen gegenüber unverdächtigen Verkehrsteilnehmern auf – im Vergleich zu anderen US-Bundesstaaten, über die juristisch weniger Tröstliches zu schreiben ist.
Die Überlegungen gehen von einer Standardsituation im Straßenverkehr aus: Das Nummernschild ist nicht vorschriftsmäßig beleuchtet, ein Polizist hält das Fahrzeug an. Fraglich ist, wie weit seine Kontrolle des Fahrers gehen darf. Noch fraglicher, ob er auch etwaige Fahrgäste in seine Überprüfung einbeziehen darf. Haines referiert dazu die Rechtslage in anderen US-Bundesstaaten sowie nach der US-Bundesverfassung, so wie sie der U.S. Supreme Court in Washington versteht.
Nach der US-Bundesverfassung sind der Autofahrer und seine Fahrgäste allein nach dem 4. Zusatzartikel ("The right of the people to be secure in their persons, houses, papers, and effects, against unreasonable searches and seizures…") vor unrechtmäßigem Festhalten und unrechtmäßiger Durchsuchung geschützt. Dass etwa bei einem Verkehrsverstoß nach der Fahrerlaubnis, dem Fahrzeugbrief und dem Versicherungsnachweis gefragt werden darf, ist unstrittig. Fraglich ist nach dem US-Bundesrecht indes, wann aus der Routinekontrolle ein unrechtmäßiges Festhalten beziehungsweise eine Durchsuchung wird, für die es eines richterlichen Befehls bedürfte.
Der U.S. Supreme Court gibt seit 1968 (Fall Terry v. Ohio) vor allem eine ungewöhnliche zeitliche Dauer des Stopps vor, die eine Routinekontrolle in eine unrechtmäßige Durchsuchung umschlagen lässt. Solange beispielsweise nur die Fahrzeugpapiere oder der Führerschein zügig elektronisch geprüft werden, verändert dies nicht die Qualität der Kontrolle – andere, offensichtliche Verdachtsmomente setzen den Polizisten ohnehin ins Recht. Das Bundesrecht erlaubt den "Beifang" dergestalt, dass etwa gesuchte Verdächtige in Haft genommen werden können. Das feinsinnige Argument von Beifahrerseite, in der geforderten Identifikation gegenüber dem Polizisten liege womöglich ein Verstoß gegen das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, findet so wenig Gehör wie das Anliegen, nicht zum Aussteigen aus dem Fahrzeug kommandiert zu werden. Hier akzeptiert das US-Bundesverfassungsrecht den Selbstschutz der Polizisten als hinreichenden vernünftigen Grund.
Beifahrer sein: Am besten in Alaska
Weil die US-Verfassung kein explizites Recht auf Privatsphäre enthält, steht und fällt die Unterscheidung zwischen Routinekontrolle und unrechtmäßiger Durchsuchung mit der Dauer des Eingriffs. Da sich seit 1968 manch verdächtiger Kfz-Lenker samt seinen Crack-konsumierenden Beifahrern aus dem Verkehr fischen ließ, entfiel auch das Bedürfnis, insoweit allzu feinsinnig zwischen Fahrer und seinen Fahrgästen zu unterscheiden.
Anders in Alaska. Als Reaktion auf die beginnende Computer-gestützte Erfassung (krimineller) Bürger wurde 1972 die im Jahr 1959 erlassene Verfassung des Bundesstaats um einen Artikel 1 § 22 ergänzt: "The right of the people to privacy is recognized and shall not be infringed. The legislature shall implement this section." Damit tickt für den Verkehrspolizisten in Alaska nicht allein die Uhr: Nicht die außergewöhnliche Dauer der Kontrolle macht aus ihr ein unrechtmäßiges Festhalten von Fahrer und Fahrgästen – diesen steht auch ein positives Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre zu.
Patricia Haines hält – etwas frei übersetzt – fest: "Die Verfassung von Alaska erlaubt es Exekutivbeamten nicht, von den Beifahrern eines Fahrzeugs während einer Routinekontrolle den Beleg der Identität abzuverlangen, ohne dass der Verdacht einer Straftat vorliegt oder sonstige rechtfertigende Gründe. […] Obwohl ein solches Verlangen unter U.S. Verfassungsrecht oder dem Recht anderer Bundesstaaten rechtmäßig sein kann, sieht die Verfassung von Alaska einen Schutz der Privatheit sowie vor Durchsuchung und Beschlagnahme vor, der Fahrgäste vor einem solchen Verlangen ohne besondere Rechtfertigung schützt."
2/2 Legendierende Kontrollen und andere Märchen
Für USA-Reisende mag die alaskische Rechtslage wenig tröstlich sein, gehört der mit 1,7 Millionen Quadratkilometern flächenmäßig größte US-Bundesstaat ja nicht eben zu den touristischen Hauptzielen. Auch die besondere Freiheit der Bürger ist vergleichsweise wenig wert – das Städtchen Fairbanks, in dem Haines arbeitet, ist ein Nest von rund 30.000 Einwohnern, der Staat insgesamt zählt nur etwas über 700.000 Menschen.
Und doch hat es etwas Beruhigendes, zu lesen, dass eine US-amerikanische Staatsanwältin von den Bürgerrechten ausgehend denkt und es nicht der nordischen Eiseskälte im Winter und den subarktischen Mückenplagen im Sommer überlässt, Polizeigewalt am Straßenrand zu limitieren.
In ihrem Beitrag "Legendierende Kontrollen – Die gezielte Suche nach dem Zufallsfund" (Neue Zeitschrift für Strafrecht 2012, S. 543-547) lassen sich der Leitende Oberstaatsanwalt Wolfgang Müller und der Richter am Landgericht Dr. Sebastian Römer von einer recht anderen Denkungsart leiten als ihre entfernte Kollegin in Fairbanks (Alaska).
Müller/Römer fragen in ihrem Aufsatz, "ob eine einschlägige Ermächtigungsgrundlage für ein legendierendes Handeln der Polizeibeamten gefunden werden kann". Sobald man weiß, was "legendierendes Handeln" ist, kann der Leser am Grad seiner Gänsehaut die eigene Liberalität und sein Staatsverständnis abmessen.
Luftablassen – und dann kommen die Kollegen von der Verkehrspolizei
Den Richter und den Staatsanwalt treibt das Problem um, dass bei "der Bekämpfung organisierter (Rauschgift-) Kriminalität … häufig umfangreiche technische oder personale Ermittlungsmaßnahmen, wie etwa eine Telekommunikationsüberwachung … oder der Einsatz eines verdeckten Ermittlers … durchgeführt [werden]" und es dabei darum geht "in das Innere der kriminellen Organisation einzudringen und belastbare Beweismittel sowohl gegen die Kuriere und Verkäufer der Drogen, aber gerade auch gegen die Hintermänner zu sammeln und beim Eintritt in die offene Phase der Ermittlungen möglichst die gesamte Organisation 'auszuheben'."
Notwendig ist es aus Staatsperspektive also, gegen das einfache Fußvolk der "Organisierten Kriminalität", Drogenkuriere beispielsweise, vorgehen zu können, ohne preiszugeben, dass eine Ermittlung gegen die obskure Organisation im Hintergrund läuft. Dazu kann etwa eine "legendierte" Verkehrskontrolle stattfinden. Müller/Römer geben das Beispiel, "einer legendierten (Verkehrs-) Kontrolle, bei der den Ermittlungsbehörden aus der vorangegangenen verdeckten Observation eines gesondert Verfolgten bekannt war, dass der Beschuldigte Kokain in seinem Fahrzeug bei sich führte. Auf der Autobahnraststätte ließen die Ermittlungsbeamten Luft aus einem Fahrzeugreifen ab und baten Kollegen der hinzu gerufenen Schutzpolizei um eine Fahrzeugkontrolle."
Bei der vorgeblichen "Routinekontrolle" wurde das Kokain im Fahrzeug entdeckt, in den Ermittlungsakten wurde aber zunächst nur der Hinweis auf diesen vermeintlichen "Zufallsfund" dokumentiert. Die deshalb verkürzten Möglichkeiten der Verteidigung bemängelte der Bundesgerichtshof (BGH) offenbar allein wegen der auch sonst erdrückenden Beweislage nicht.
Im Übrigen deute, so monieren Müller/Römer, der BGH aber gelegentlich Bedenken an, weil es einen "allgemeinen Grundsatz, der die aktive Täuschung des Beschuldigten in allen denkbaren Konstellationen gestatten würde, … im Strafverfahrensrecht nicht gibt".
Täuschung von Verdächtigen durch "legendierte" Durchsuchung
Müller/Römer kommen zu dem Ergebnis, dass die polizeirechtlichen Normen nicht zur Legitimation "legendierter" Ermittlungen ausreichen.
So erlaubt zwar beispielsweise § 40 Absatz 1 Nr. 3 des Polizeigesetzes für Nordrhein-Westfalen (PolG) der Staatsgewalt, ein Fahrzeug zu durchsuchen, wenn "Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich in ihr eine andere Sache befindet, die sichergestellt werden darf", was für Kokain zweifellos der Fall ist.
Jedoch, würde der Beschuldigte nun in dem Glauben belassen, es habe sich um eine gewöhnliche Verkehrskontrolle gehandelt, werden also die "Tatsachen", die zur Durchsuchung führten, in der Ermittlungsakte nicht dokumentiert und damit der Verteidigung offengelegt, im Beispielsfall also der Tipp der "Drogenermittler" an die Verkehrspolizei, geriete der Prozess in eine Schieflage, die daran zweifeln lässt, ob es sich noch um ein "fair trial" handelt.
Das Ganze polizeirechtlich zu legitimieren, das gehe folglich nicht. Einschlägig sei, soweit ein Anfangsverdacht besteht, auch bei einer "legendierten" Maßnahme vielmehr § 102 Strafprozessordnung (StPO), der die Durchsuchung unter Richtervorbehalt setzt und bei "fingierter" Eilbedürftigkeit der Durchsuchung ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht. Im Ergebnis seien bei formal korrektem Vorgehen dann aber die "Hintermänner" des Drogenkuriers gewarnt, was dem Kampf gegen die "Organisierte Kriminalität" nicht gut zu Gesicht stünde.
Warme Schutzpflicht des Staates statt kalter Freiheit des Bürgers
Unter ermittlungstaktischen Gesichtspunkten leuchtet die Argumentation von Müller/Römer ein und doch bekommt sie einen leicht unangenehmen Beigeschmack, wenn der Richter und der Staatsanwalt schreiben: "Dem Interesse an der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten kommt damit [mit einer Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz] neben dem Interesse an der Verhinderung von Straftaten eine eigenständige verfassungsrechtliche Bedeutung zu."
Das leichte Unbehagen, das solche Formulierungen hinterlassen, rührt vom Staatsverständnis her: Der Staat erscheint als überzeitliche, ja ein wenig göttlich über "den Menschen" (um die schlimmste Politikerphrase zu zitieren) stehende Größe, die aus dunklen Quellen weiß, dass dem Bürger beispielsweise durch Drogenhandel eine Gefahr droht, vor der er zu schützen ist. Der Kampf gegen die mächtigen Hintermänner im 'Krieg gegen Drogen' rechtfertigt es, bei der Strafverfolgung gegen die einfachen Soldaten des Feindes nicht mit ganz offenen Karten zu spielen, also formal und klar darzulegen, woher sich der strafprozessuale Verdacht zum Beispiel gegen den Drogenkurier herleitet.
Bei der Gelegenheit bleibt nicht nur offen, woher der Staat sein überlegenes Wissen bezieht (man könnte ja auch auf den naiven Gedanken kommen, dass es sich erst in Strafprozessen bewahrheiten und aktualisieren muss), zu allem Überfluss muss eine "warme" Schutzpflicht des Staates auch stets grundrechtsdogmatisch gegen die "kalten" Abwehrrechte des mutmaßlich kriminellen Bürgers in die Waagschale der Abwägung geworfen werden.
FDP und Liberale, Wohnungen und Autos
Mag sein, dass Staat und Gesellschaft der deutschen Republik von dunklen Mächten bedroht sind – allein, wie viel sympathischer ist es, wenn eine stellvertretende Bezirksstaatsanwältin einmal die Grenzen der Polizeigewalt formuliert, formalistisch und im schlichten Rahmen positiven Rechts, statt bei der Gelegenheit von Gefahr und "staatlicher Schutzpflicht" zu unken, nebst baldmöglichst neuen Eingriffsbefugnissen?
Wie auch immer die deutsche Gänsehautempfindlichkeit aussieht: Angesichts der aktuellen Wahlergebnisse bzw. -umfragen für die FDP wird hierzulande ja wieder häufig nach dem Verbleib der Liberalen gefragt (auch wenn man da keinen Zusammenhang sehen muss). Womöglich machen die Freiheitsfreunde ja in Alaska Urlaub und freuen sich auf die nächste Polizeikontrolle. Wer einen empörten Autofahrer darüber aufklären muss, dass sein Gefährt als bloß geschlossene Kiste nicht unter dem Schutz der Wohnung nach Artikel 13 Grundgesetz steht, Anlässe gibt dazu es für Juristen sicher nicht selten, möge dem in seiner Intimsphäre Gestörten einfach den Weg nach Alaska weisen.
Martin Rath, Straßenverkehr, seine Kontrolle und das diffus Böse: Legen Sie Ihre Hände gut sichtbar aufs Lenkrad! . In: Legal Tribune Online, 27.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8041/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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