Nachruf auf Ronald Dworkin: Normen drehen und wenden mit Witz und Verstand

23.02.2013

2/2: Camouflage durch Camouflage austreiben?

Dworkin erkannte nun, dass der klassische angelsächsische Juristenkonservatismus in präzedenzfreien Fällen wie "Spartan Steel" so unoriginell wie möglich zu urteilen, zwar eine Barriere gegen die Bindestrich-Einflüsse, also gegen eine allzu nassforsche Indienstnahme des Rechts durch eine außerrechtliche "Policy" wie die "Ökonomische Analyse des Rechts" bildet, die im "Spartan Steel"-Fall etwa nach der volkswirtschaftlichen Effizienz der Haftungsverteilung fragen würde.

Er kritisierte aber, dass dieser Konservatismus auf einer Täuschung des Publikums beruhe: In "hard cases" wie "Spartan Steel" werde die unterlegene Partei nach einer Regel bestraft, die zum Zeitpunkt des Sachverhalts, hier: des Schadensereignisses, noch nicht anerkannt gewesen sei. Der juristische Sprachgebrauch diene nur der Camouflage der nachträglichen Normsetzung.

Dagegen setzte Dworkin die These der "einzig richtigen Entscheidung". Holzschnittartig formuliert: Das Sein enthält eine regulative Idee von Richtigkeit. Richter orientieren sich an ihr, wenn sie ein neues Problem vor sich haben und sie für die Lösung zur Methodenwahl kommen. Je nach Methodenwahl – z.B. zwischen Analogiebildung und Orientierung am historischen Gesetzgeber – werden höchst unterschiedliche Ergebnisse ausgeworfen. Im Werkzeugkeller der juristischen Methoden leuchtet derweil allein das schwache Licht der "einzig richtigen Entscheidung" verbunden mit einer Mahnung Dworkins' an den Richter, beim Gang in den Keller die Grundrechte und das ängstliche Gefühl, als ernannter, demokratisch nur schwach legitimierter Entscheider nicht über die Grundrechte zu stolpern. Mehr Beleuchtung gibt es nicht.

Volker Rieble vermerkt in seiner Staudinger-Kommentierung zum Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), die Verwandtschaft zwischen Dworkins "einzig richtiger Entscheidung" und der alten Phrase des "iustum pretium", des "gerechten Preises", von dem viele Leute reden seit der griechische Philosoph Aristoteles ihn dogmatisierte, zu dessen methodischer Ermittlung seit 2.500 Jahren aber noch kein überzeugendes Modell vorgelegt werden konnte.

Proof of the pudding? Eating.

Ehrfurcht vor den Grundrechten gleichsam ins Seelenleben der Richterschaft einzufädeln, um sie bei der Methodenwahl in eine ontologisch "richtige" Richtung zu bewegen, ist ein interessanter Gedanke. Fragt sich nur, wie das hierzulande funktionieren soll, wo Grundrechte in Kommentarliteratur überreich dogmatisch zementiert, sozusagen "außerseelisch" greifbar sind. Aber auch in der angelsächsischen Justizgeographie blieb, wie es scheint, bei Dworkin arg viel Puddingheuristik: "The proof of the pudding is the eating." – Man sieht die Urteile und hat ein Gefühl für ihre Stimmig- oder Unstimmigkeiten.

Konsequenterweise ist Dworkin einer breiten Öffentlichkeit als Erklärer, Kritiker und Kommentator höchstrichterlicher Rechtsprechung bekannt geworden. Nachdem der SCOTUS im vergangenen Jahr die Pflicht der US-Bürger, sich gegen Gesundheitsrisiken zu versichern, gegen alle Erwartung weitgehend für verfassungsgemäß erklärte, interpretierte Dworkin das beispielsweise in seinem populärsten Forum, dem Blog von "The New York Review of Books", aus der Sorge von Chief Justice John Roberts, der SCOTUS werde – demoskopisch abgesichert – von einem wachsenden Teil der Öffentlichkeit als nur ein weiteres von vielen zerstrittenen Gremien der US-Demokratie wahrgenommen, statt als unparteiischer Tempel der Justitia.

Ein Witz von Dworkin zum Schluss

Trotz dieser etwas mageren Einsicht, finden sich in Dworkins Blog-Publizistik auch hübsche Beispiele für einen etwas abgründigen Witz, der nicht auf die Verschrobenheit seiner deutschen Übersetzer zurückzuführen ist. Einige SCOTUS-Richter hängen bekanntlich einer stark konservativen Denkungsart an, die im Fall des Richters Antonin Scalia (geb. 1936) auch einen leichten Zug ins Reaktionäre haben mag. Scalia möchte, so die populäre Karikatur, Verfassungsvorschriften nach dem Verständnishorizont ihrer Entstehungszeit auslegen, was insbesondere die Kompetenzen des Bundes gegenüber den US-Staaten extrem zurückschneiden müsste.

In den laufenden Streitigkeiten um die einfachgesetzliche "Schuldenobergrenze", zu der US-Regierung und Repräsentantenhaus regelmäßig medienstarke Raufereien inszenieren, schlug Dworkin noch jüngst einen Ansatz vor, den man "Taking Scalia Seriously" nennen könnte: Ein weitgehend vergessener Teil des 14. Zusatzartikels zur US-Verfassung verbot es 1868, die Kriegsschulden der rebellischen Südstaaten zu akzeptieren und formulierte gegen die Abgeordneten gerichtet, die aus den Südstaaten nun wieder in den gemeinsamen Kongress einzogen, zugleich ein Verbot, die (Kriegs-)Schuldenaufnahme der siegreichen US-Bundesregierung zu torpedieren.

Dworkin spekulierte damit, etwas schräg, auf eine Ermächtigungsgrundlage zur Schuldenaufnahme gegen einen Kongress, der nach Partisanenart Bundesschulden blockiert. Sein Vorschlag zur Auslegung der Worte "debt shall not be questioned" war immerhin etwas vorwitzig.

Witz und Verstand beim Drehen und Wenden von Normen und ihrer Geschichte, das darf Juristinnen und Juristen positiv in Erinnerung bleiben. Selbst dann, wenn dem rechtsphilosophischen Betrieb Dworkins an wohl entscheidender Stelle früh das Stromkabel gekappt wurde.

Weiterlesen:

Sollte jemals in Deutschland eine an Carl Schmitt geschulte Feministin das Licht der akademischen Welt erblicken, ist ihr Dworkins "Die Grenzen des Lebens" (1994) anempfohlen. Man wird ihre Augen leuchten sehen. Allen anderen, also den wahrscheinlicheren Leserinnen und Lesern sei angedient: "Die These der einzig richtigen Entscheidung" von Tobias Herbst, Juristenzeitung 2012, Seiten 891-900.

Zitiervorschlag

Nachruf auf Ronald Dworkin: . In: Legal Tribune Online, 23.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8211 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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