Mehr als die "Methodenlehre" von Karl Larenz oder die "bewährten" Auslegungsmethoden braucht der Feld-Wald-und-Wiesen-Jurist selten. Und Rhetorik ist so eine Sache aus der VHS oder ein "soft skill" für Autohändler und Schuhverkäufer. Der belgisch-polnisch-jüdische Rechtsphilosoph Chaim Perelman (1912-1984) lässt Zweifel an der schlichten Perspektive zu. Ein Aufriss von Martin Rath.
Rhetorik hat bis heute einen gewissen Ruf, oft keinen guten, auch unter Juristen: Nur zur Dekoration von Erkenntnissen taugt sie, bestenfalls auch dazu, an sich schon guten Sachargumenten Gehör zu verschaffen. Weil sie zum Programm der allgemeinbildenden Schulen nicht wirklich zählt, wird sie an eher klandestinen Orten vermittelt: in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung, an Volkshochschulen gleich neben den neuesten Methoden der Astrologie, in "Toastmaster"-Treffen oder auf Schulungen für den in seiner Sprache einheitlich konfektionierten Nachwuchs der politischen Parteien. Gelegentlich wird sogar Kritik an den "Moot Courts" geäußert, in denen sich Jurastudenten argumentativ messen – meist hinter vorgehaltener Hand, weil niemand diesen Perlen im Staub der Massenuniversität den Glanz absprechen will.
An der Rhetorik klebt der Ruf, dem Schuhverkäufer zu dienen, seine Ware an den Fuß des Kunden zu bringen. Um erfolgreich zu sein, müsse man sich aber schon anderweitig in die Sache hineinknien. Der Jurist verbeugt sich vor stupender Gesetzes- und Kommentarkenntnis, vor schönen Formularen im Computer oder dem Geschick in der Auslegung, wenn es einmal auf sie ankommt. Gern verbeugt er sich dabei auch vor seinem eigenen Vermögen in diesen "eigentlichen" Fähigkeiten. Rhetorik ist da nur noch "soft skill".
Chaim Perelman und die Neue Rhetorik
Der belgische Jurist und Rechtsphilosoph Chaim Perelman gehörte zu den Vertretern einer Lehre, die der Rhetorik einen Platz im Herzen der Jurisprudenz zuweist – eine Entwicklung, die Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt und längst nicht abgeschlossen ist.
Chaim Perelman wurde am 20. Mai 1912 in Warschau geboren, der Hauptstadt des Generalgouvernements Polen, das zum russischen Zarenreich zählte. Seine Familie wanderte 1925 nach Belgien aus, Perelman studierte an der Freien Universität Brüssel und schloss 1934 als Doktor der Rechte ab. 1937 folgte ein Studienjahr in Warschau, wo ihm seine belgische Staatsangehörigkeit zugutekam: Die polnischen Universitäten beschränkten den Zugang jüdischer Studenten mit einem Numerus clausus. 1938 folgte die Promotion zum Doktor der Philosophie. Nach der Besetzung Belgiens durch die deutsche Wehrmacht 1940 gehörte Perelman dem Leitungsgremium der vom NS-Verfolgungssystem geschaffenen Zwangsvereinigung der Juden in Belgien an (AJB, Association des Juifs en Belgique), zugleich auch der jüdischen Widerstandsbewegung, dem Comité de défense des Juifs (CDJ).
Die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft in Belgien ist relativ unbekannt. Perelmans Verdienst scheint unter anderem darin gelegen zu haben, Mittel der von Seiten der Militärverwaltung kontrollierten AJB für die Widerstandstätigkeit des CDJ abzuzweigen – Verfolgte, die in den "Untergrund" abtauchten, konnten so unterstützt werden. In Belgien wurden 4.000 jüdische Kinder gerettet, ein Lichtblick in einer insgesamt sehr depremierenden Geschichte. 1944 ging Perelman selbst in den Untergrund, bis zur Befreiung des Landes im September.
Unter den Verantwortlichen auf der Seite der Militärverwaltung findet sich übrigens, sozusagen am Rande der Perelman-Recherche, ein bekannter Name der deutschen Rechtsgeschichte: Martin Drath (1902-1976), sozialdemokratischer Jurist in der Weimarer Republik, später von 1951 bis 1963 einer der ersten Richter des Bundesverfassungsgerichts, diente in der Brüsseler Treuhandverwaltung für beschlagnahmtes "Feind- und Judenvermögen", einer Schlüsselstelle der Raub- und Mordkampagne.
Adam pflügte, Eva spann – wo war der Edelmann?
Perelmans erste Publikation nach dem Krieg, die noch während der Besatzungszeit entwickelte Schrift "Über die Gerechtigkeit", erschien 1945. Er definierte "die formale und abstrakte Gerechtigkeit als ein Handlungsprinzip, demgemäß die Gegebenheiten derselben wesentlichen Kategorie auf die gleiche Art und Weise behandelt werden sollen". In dieser formalen, inhaltsleeren Definition sollen die konkreten Formen der Gerechtigkeit aufgehen, also: "Jedem die gleiche Sache"; "Jedem gemäß seiner Verdienste"; "Jedem gemäß seiner Werke"; "Jedem gemäß seiner Bedürfnisse"; "Jedem gemäß seiner Stellung" und "Jedem gemäß dem, was das Gesetz ihm zuschreibt".
Dass diese konkreten Formen als Aspekte des Alltags zueinander im Widerspruch stehen können, ist eine Binsenweisheit: "Als Adam pflügte und Eva spann", rühmten beispielsweise die englischen Puritaner die Verdienste der produzierenden Landwirtschaft, um nach der Gerechtigkeit zu fragen, die im Vielfresserkonsum kraft gesellschaftlichen Vorrangs lag: "wo war da der Edelmann?".
Perelman stellte die möglichen Gegensätze, die zum Beispiel zwischen dem Satz "Jedem gemäß seiner Werke" und "Jedem gemäß seiner Bedürfnisse" bestehen, nicht bodenständig-konkret dar, sondern entwickelte sie weitgehend abstrakt – im Vergleich zu Gerechtigkeitsdiskussionen, wie sie heute in der philosophischen Fachpresse geführt werden, vernebelt sich seine Darstellung aber noch nicht in den mitunter absurd-esoterischen Formen der mathematischen Logik.
Traditionen öffnen Rhetorik, nicht "soft skills"
Wie drängend und konkret Gerechtigkeitsfragen in Zeiten der Not sind, dürfte Perelman während der vier Verfolgungsjahre in extremer Form erfahren haben. Der Perspektivwechsel von der logischen Form akademischer Diskussion zur moralischen Alltagsempörung hätte also nahegelegen: Darf es von den zufälligen Umständen abhängen, welcher Mensch gerettet wird?
Doch um zu illustrieren, dass sich bei konkreten Fragen nach gerechter Verteilung soziale Vorverständnisse als logische Axiome einschleichen, zog Perelman wiederholt ein weniger dramatisches Beispiel heran: Nachdem die erste Frau mit juristischem Doktortitel in die Anwaltskammer aufgenommen worden war, erklärte der belgische Kassationsgerichtshof 1889 in seiner Argumentation zum Einspruch des Generalanwalts: Der Gesetzgeber habe in der formalen Regelung zur Aufnahme von Juristen in die Anwaltschaft Frauen nicht explizit ausschließen müssen, da es seinerzeit ein zu offensichtliches Axiom gewesen sei, dass die juristischen Berufe nur von Männern ausgeübt würden.
Das Beispiel illustriert nicht allein, das ist heutiges Empörungsdenken, den Machismo belgischer Richter im vorletzten Jahrhundert, vornehmer ausgedrückt also die Bedeutung von "sozialen Zuweisungskontexten" für den Rang, den ein Argument in der Entscheidung findet.
Das Befremden nach 120 Jahren zeigt auch, dass es genügt, wenn eine Aussage der Form nach als Argument anerkannt wird, um als solches zu funktionieren. Um die Beliebigkeit einzuschränken, benötigt die juristische Rhetorik ein "Suchsystem". Perelman unterscheidet drei Ontologien, die über eine schlichte Rechtsquellenlehre hinausgehen: Das anglo-amerikanische Richterrecht, die erste "Ontologie", behaupte zwar, dass dem einzelnen Richterspruch ein "ewiges" Common Law vorgegeben sei, bleibe aber dadurch dynamisch, dass die Vorgabe jeweils aus den Präjudizien "erforscht" werde.
Für die kontinentaleuropäische "Ontologie" und Tradition nennt Perelman stellvertretend den Gesetzgeber der französischen Revolution, der – um den Vorbehalt des Gesetzes zu unterstreichen – überlegt habe, dass der Richter Zweifelsfragen dem Parlament vorlegen müsse, zugleich bei Strafe verbot, unter dem Vorwand "des Schweigens, der Unklarheit oder des Ungenügens des Gesetzes" den Parteien das Recht zu verweigern. Weil es zur Vorlagepflicht der Judikative an die Legislative nicht kam, blieb nur das Ideal des Gesetzesvorbehalts mit seinem weiten Vorfeld möglicher rhetorischer oder – vermeintlich – axiomatischer Argumente.
Talmudistische Verwirrung statt orthodoxer Axiome
Die reichste, aber auch unordentlichste "Ontologie" fand Perelman in der jüdisch-talmudischen Tradition: Eine anerkannte sei einer weniger anerkannten Autorität vorzuziehen, eine begründete Meinung einer weniger begründeten (solange die weniger begründete nicht von Moses oder den Propheten stamme). Eine neue Autorität sei einer überholten vorzuziehen. Schließlich seien alle Regeln aus dem geschriebenen Recht enger auszulegen als jene aus der Kommentierung.
Man kann sich an dieser Stelle der Verwirrung hingeben. Aber ein gemeinsamer Nenner lässt sich für diese drei Ontologien der westlichen Rechtstraditionen angeben: Alle eröffnen einen Raum für rhetorische Auseinandersetzungen, für das beste Argument jenseits fundamentalistischer Axiome.
Unter heutigen deutschen Rechtsgelehrten professoralen Gewichts wird gerne darüber gestritten, ob die Methoden der Gesetzesinterpretation, etwa die examensrelevante grammatische, systematische, historische sowie teleologische Auslegung, eine hinreichende Bindung des Richters an das Gesetz gewährleisten.
Leben und Werk von Chaim Perelman, der heute vor 100 Jahren geboren wurde, legen nahe: Dem ist, möglicherweise, gar nicht so.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Logik und Rhetorik: . In: Legal Tribune Online, 20.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6231 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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