Rechtssoziologie: Übungen in Entlarvungen

von Martin Rath

19.01.2014

2/2: Erfrischende Korps-Geistlosigkeiten

Ein studierter, gar promovierter Jurist, der sich – mit Zustimmung der Gerichtspräsidenten und gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – in Spruchkörper der ordentlichen Gerichtsbarkeit einschleicht und ihre Geheimnisse preisgibt, das hätte 1974 ohne Weiteres den Vorwurf des Linksradikalismus nach sich ziehen können. Dieser jedoch blieb bei Seibert aus.

Ein Beispiel, das für eine "Selektivität arbeitssparender Strategien" in der Justiz spricht, rechtfertigt Zurückhaltung: "Ein 39jähriger Mann ist in einer Heilanstalt untergebracht worden. Die Mutter legt hiergegen 'Einspruch' ein. Darf sie das (Ermessensfrage)? Richter F. rät: 'Die Mutter hat kein Beschwerderecht. Nur für einen Ehegatten haben wir einmal das Beschwerderecht bejaht. Am besten wir sparen uns erst einmal die Schreiberei über eine Vollmacht des Sohnes für die Mutter. Wir können also die Beschwerde zurückweisen; sie kann ja jederzeit neu erhoben werden.' Und so geschieht es."

Lautmann polemisiert nicht dagegen. Im Gegenteil, er erklärt, dass die Strategie, arbeitsökonomisch zu entscheiden, erst dann kritisch zu sehen sei, wenn sich nachweisen lasse, dass sie "etwa zu Lasten bestimmter Kategorien von Verfahrensbeteiligten" geht. Kritik an "Klassenjustiz", die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in der Bundesrepublik hoch im Kurs stand, sieht anders aus. Das ist nett, hinterlässt aber eine Leerstelle: Dass die zum Beispiel in "herbeifingierten Tatsachen" verborgene Unfairness unabdingbar zum Justizbetrieb dazugehöre möchte Lautmann zwar nicht billigen, entwickelt aber auch keine Alternative.

Erweiterte Gerichtsöffentlichkeit als Bequemlichkeitsbremse

Mehr oder weniger subtile Strategien der Arbeitsökonomie – und vielleicht ein Dutzend weiterer Routinen juristischer Entscheidungsfindung, die Lautmann beschreibt – könnten das Ansehen der Justiz beschädigen, zumal dann, wenn sie nur soziologisch aufgedeckt werden, Abhilfe aber nicht formuliert wird.

Ausgerechnet Claus Seibert, der Rezensent von 1974, scheint dieses Defizit gespürt zu haben. Denn Seibert schließt – nachdem er sich über die vermeintliche Schlüpfrigkeit einer getarnten Feldforschung im Spruchkörper ausgelassen hat – mit der überraschenden Aussage: "Wenn es bei uns einmal zur Einführung öffentlicher Beratung käme, so hätte diese Studie wenigstens  e i n e n  begrüßenswerten Erfolg gehabt."

Die alle Jahre wieder hochkochende Diskussion, ob Kameras und Mikrophone im Gerichtssaal zugelassen werden sollten, könnte angesichts der von Lautmann dokumentierten und interpretierten Pathologien in der "Blackbox", dem Beratungszimmer, von einer "begrüßenswerten" Innovation ablenken: der Ausweitung der Gerichtsöffentlichkeit auf die Beratungen zwischen den Richterinnen und Richtern. Nennen wir sie, spaßeshalber, die Lautmann-Seibert-Innovation.

Einzusehen ist es jedenfalls nicht, warum man heutzutage Sicherheit vor der Staatsgewalt einfordert, indem vielstimmig Polizei-Drohnen und Überwachungskameras im öffentlichen Raum abgelehnt werden, statt Kameras und Mikrophone in Rathäusern, Vergabekammern oder Beratungszimmern der Gerichte einzufordern.

Literatur: Das Gedankenspiel, zu dem am Schluss eingeladen wird, ist – je nach Geschmack – vermutlich arg utopisch oder dystopisch. 1974 schien die Aufhebung des Beratungsgeheimnisses jedenfalls nicht völlig utopisch (oder dystopisch) zu sein. Dazu gekommen ist es trotzdem nicht. Der Beratung einer gerichtlichen Entscheidung werden junge Juristinnen und Juristen daher erst im Referendariat begegnen - von normalsterblichen Bürgern ganz zu schweigen. Rüdiger Lautmanns Feldforschungsarbeit "Justiz – die stille Gewalt", die vor allem die informelle Kultur der Gerichtsarbeit decouvriert, ist daher immer noch reizvoll (ungeachtet aller Zweifel, die man sonst an ihrem Autor haben mag). 2011 erschien sie als Neuauflage (bei VS-Springer). Studierende, die insbesondere prüfen möchten, ob sie die informellen Gepflogenheiten des Justizwesens wirklich miterleben wollen, können über viele Universitätsbibliotheken auf das Werk zugreifen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtssoziologie: . In: Legal Tribune Online, 19.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10705 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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