In "Terror" erhebt Ferdinand von Schirach das moralische Dilemma vom hintergründigen Problem zum eigentlichen Gegenstand der Handlung. Doch die Urteilsfindung per Abstimmung ist im TV eine genauso schlechte Idee wie im Theater.
Ferdinand von Schirachs Theaterpremiere "Terror" ist das Erfolgsstück des Jahres: Seit seiner Uraufführung vergangenen Oktober war es bereits an 39 deutschen Bühnen zu sehen, gut 164.000 Menschen haben es besucht. Wer nicht dazugehört, konnte den Gang ins Theater am Montagabend gewissermaßen von zu Hause aus nachholen, denn die in der ARD ausgestrahlte TV-Adaption des Stücks bewahrt die inszenatorische Schlichtheit ihrer Vorlage.
Das Geschehen entfaltet sich ausschließlich im Verhandlungssaal eines Gerichts, dessen minimalistischer Beton-Chic zu gleichen Teilen Nüchternheit und Kälte verströmt. Angeklagt ist Lars Koch, Major der Luftwaffe und verantwortlich für den Tod von 164 Passagieren einer von Terroristen gekaperten Lufthansa-Maschine, die Koch entgegen seiner Befehle in letzter Minute abgeschossen hat, bevor sie in die voll besetzte Allianz Arena stürzen und dort 70.000 Menschen in den Tod reißen konnte.
Großer Unterschied zwischen TV- und Theaterabstimmung
Der Sachverhalt ist bis ins Detail unstreitig, der Angeklagte vollauf geständig, gestritten wird nur über die Strafbarkeit seines Handelns. Das Urteil bestimmen die Zuschauer via Telefon und Internet: Abhängig von ihrem Votum wird am Ende eine Sequenz ausgestrahlt, in der Koch freigesprochen oder eine andere, in der er verurteilt wird (dann übrigens wegen Mordes mit einem gemeingefährlichen Mittel). Ebenso wie in der großen Mehrzahl der Theateraufführungen lautete die Entscheidung auch in der ARD auf "unschuldig" – allerdings mit weitaus größerer Mehrheit, was wohl vor allem zeigt, wie stark der Ausgang von den Sympathien für die Schauspieler und vom Modus der Darstellung abhängt.
Diese Form der Zuschauerpartizipation kann man im Jahr 2016 kaum ernstlich als innovativ bezeichnen; angesichts der Materie erscheint das Grand Prix d'Eurovision-artige Abstimmungsverfahren eher als geschmacklich fragwürdiges Gimmick. Auch ein Erkenntnisgewinn ist in Terror nicht unbedingt zu erwarten – jedenfalls nicht für den juristisch geschulten Teil der Zuschauer, die die Problematik aus der Ausbildung bestens kennen dürften. Für alle anderen werden die Argumente für und wider Kochs Strafbarkeit in einem Dialog zwischen Staatsanwältin und Angeklagtem sowie in den ausführlichen Schlussplädoyers referiert. Das Format eines Gerichtsverfahrens wirkt dabei zwar bisweilen nur wie ein Vorwand, um eine Reihe moralischer und philosophischer Gedankenspiele rund um die Problematik abspulen zu können, dennoch bilden diese insgesamt 30 Minuten des verbalen Schlagabtauschs den mit Abstand stärksten Teil von "Terror".
Zähe erste Hälfte
Um bis dorthin zu kommen, muss der Zuschauer zuvor jedoch eine Dreiviertelstunde durchstehen, die voll ist von Überflüssigem und Uninteressantem: Belehrungen der Zeugen über ihre Rechte, Angaben zu Familienstand und Erwerbstätigkeit, Details zu Kochs schulischem Werdegang und den Hierarchien innerhalb der Luftwaffe, all dies unterbrochen von den ständigen Nachfragen des Vorsitzenden, die mehr als einmal ins Einfältige kippen (O-Ton: "Was befahl Radke dann?" – "Die Lufthansa-Maschine abzudrängen und zur Landung zu zwingen." – "Können Sie das etwas genauer sagen?").
Für ein wenig Auflockerung sorgen unterdessen die Geplänkel des Verteidigers mit Gericht und Staatsanwaltschaft, auch wenn von Schirach sich dabei zur eher sinnfreien Verwurstung juristischer Bonmots hinreißen lässt (etwa Fritz Teufels legendär gewordenes "Wenns denn der Wahrheitsfindung dient", was diesmal – wahnsinnig clever – der Richter zum Verteidiger sagt, statt wie im historischen Original der Angeklagte zum Richter). Entbehrlich wirkt auch die Vernehmung der Nebenklägerin, der Witwe eines der von Koch getöteten Passagiere, die über zehn mitleidheischende Minuten ihre Schwierigkeiten in der Verarbeitung des Todes ihres Gatten schildert. Was genau soll das dem Zuschauer sagen? Dass es schlimm ist, den Ehemann und Vater seiner Kinder zu verlieren?
Gedankenspiel (fast) ohne praktische Relevanz
Diese Längen und Lässlichkeiten sind nicht einfach der angestrebten Spielzeit geschuldet, sondern beinahe unausweichliche Folge des Konzepts von "Terror". Denn dem Stück geht es um die Diskussion eines moralischen Dilemmas, und zwar nicht, wie sonst in der Kunst üblich, als hintergründiges Problem einer auch vordergründig packenden Handlung, sondern vielmehr als die Handlung selbst. Damit das Ganze zumindest ansatzweise wie ein Spielfilm daherkommt und nicht wie eine juristisch-philosophische Diskussionsrunde (für die ist im Anschluss Frank Plasberg verantwortlich), bedarf es aber einigen Zierrats. Und da das Format eines Gerichtsverfahrens parallele Handlungsstränge oder überraschende Wendungen kaum zulässt, bleibt dafür letztlich nur der gelegentliche Druck auf die Tränendrüse oder die Ausschmückung von Nebensächlichkeiten.
Zurück bleibt somit das Gefühl, die in "Terror" verhandelten Probleme könnten im Jurastudium tatsächlich besser aufgehoben sein als im Abendprogramm – umso mehr, als die Fragen nach objektiver Strafbarkeit einerseits und subjektiver Schuld andererseits dort recht munter durcheinanderpurzeln. Das Format wird auch nicht passender durch die Beteuerung des Autors, eine Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen sei angesichts der jüngsten Häufung von Anschlägen "richtig und notwendig". Denn für eine etwaige Neugewichtung von Freiheit und Sicherheit in diesem Zusammenhang gibt das hochgradig spezifische und in der Realität extrem seltene Dilemma des Kampfpiloten Koch – zum Glück – kaum etwas her.
Constantin Baron van Lijnden, Ferdinand von Schirachs "Terror" feiert TV-Premiere: . In: Legal Tribune Online, 18.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20890 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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