Die Justiz wirft ihren Nachwuchs nicht selten ins kalte Wasser. Matthias Hucke weiß das aus Erfahrung, findet aber auch: Früh Verantwortung für komplexe Fälle zu übernehmen, hat für Jungrichter einen Reiz – auch wenn es makaber werden kann.
Sind Sie schon mal einem waschechten Prinzen begegnet? Nein? Dann sollten Sie Richter oder Rechtsanwalt werden! Statistisch gesehen steht jeder Deutsche einmal im Leben vor Gericht. Auch Hochwohlgeborene sind davon nicht ausgenommen – jedenfalls in unserer demokratischen Republik. Die Chancen, einem Blaublütigen gegenüberzusitzen, stehen also gar nicht so schlecht, wenn man für Justitia arbeitet.
Auch ich hatte schon eine Begegnung der adligen Art, allerdings mit einem Prinzen aus einem fernen Land. Sein Wunsch war genauso außergewöhnlich wie er selbst: Er wollte eine Leiche. Doch eins nach dem anderen.
Würdevoller Glanz im kargen Kämmerlein des Jungrichters
Wir befinden uns an einem überschaubar beschaulichen Amtsgericht im Herzen unserer Hauptstadt. Ich schildere hier, was mir dort in meiner Zeit als Proberichter in der Berliner Justiz widerfahren ist.
Vor Überraschungen ist man als Richter nie gefeit, wie ich schnell lernte. So betraten eines Tages fünf Menschen mein Büro, die ich mein Lebtag nicht vergessen werde. Eine Frau und vier Männer standen dort, alle in Trauerflor gekleidet. Die Dame trug einen opulenten Hut und verbarg ihr Gesicht hinter einem dunklen Schleier. Es war eine sehr würdevolle Erscheinung und seltener Glanz in meinem kargen Büro, für das ich mich in dem Moment ein wenig schämte. Auffällig war auch, dass alle meine Gäste nicht nur dunkle Kleidung, sondern auch dunkle Haut hatten, und die Schubladen in meinem Kopf ordneten sie ihrer Herkunft nach dem afrikanischen Kontinent zu.
Ein Mann trat auf mich zu, sprach mich höflich auf Englisch an und meinte, man habe ein "urgent matter".
Nun ist es so, dass nur sehr selten Parteien eines Rechtsstreits das Büro eines Richters betreten. Man lernt sich zunächst übers Papier kennen (Klage und Klageerwiderung) und begegnet sich später in einem Sitzungssaal, um über das Geschriebene zu verhandeln. Doch man kann sein Begehr auch direkt im Gericht vorsprechen, etwa weil man nicht schreiben kann oder nicht weiß, wie eine Klage zu formulieren ist. Schließlich braucht man vor dem Amtsgericht ja keinen Anwalt. Vor allem in eiligen Angelegenheiten (etwa wenn im Winter die Heizung abgestellt wird) kommt es also vor, dass Recht suchende Bürger den direkten Weg ins nächste Amtsgericht nehmen – und das ist ja gut so, denn die Justiz ist für die Menschen da.
Auch meinem Besuch schien es eilig zu sein. Besagter Herr mit dem “urgent matter” überreichte mir seine Visitenkarte, die ihn in goldenen Lettern als nichts Geringerem als einen Prinzen auswies!
Aufwartung von der Elfenbeinküste
Nun haben Richter stets Zweifel (Bin ich wirklich zuständig? Ist er wirklich der Mörder?). Das ist quasi unsere Berufskrankheit – und zwar eine sehr gesunde, denn wir sollten erst urteilen, wenn wir uns ganz sicher sind. Außerdem wird nirgends - außer im Parlament vielleicht – so viel gelogen wie in einem Gerichtssaal. Deshalb hegte ich erst einmal Zweifel daran, ob es wohl ein echter Prinz war, der da vor mir stand. Eine Visitenkarte kann schließlich viel behaupten, vor allem, wenn das Papier schön bedruckt ist.
Doch die Geschichte des jungen Mannes überzeugte mich, dass hier tatsächlich ein Regentensohn meine Hilfe ersuchte. So lernte ich, dass es an der Elfenbeinküste heute noch Gebiete gibt, die von Regenten geführt werden. Diese sogenannten Chiefs stehen ihrem Volk vor und auf lokaler Ebene sind sie mit Bürgermeistern vergleichbar. Hier hatte ich den Sohn eines solchen Chiefs vor mir.
Der Prinz teilte mir mit, dass er die Leiche seines Vaters ("the body of my father") haben wolle. Ein nicht sehr alltäglicher Wunsch. Was war passiert? Vor einiger Zeit hatte der Chief Deutschland besucht – und war gleich hiergeblieben, bis er schließlich in Berlin verstarb. Sein Sohn, der nun vor mir stand, war gleich mit seiner Entourage aufgebrochen, nachdem ihn diese traurige Nachricht ereilt hatte. Dem Chief solle ein traditionelles Begräbnis im Land seiner Ahnen zuteil werden, meinte der Prinz. Deswegen wollte er den Leichnam gleich mit nach Hause nehmen.
Exkurs: Warum das Sachenrecht (zu Unrecht) unbeliebt ist
Nun ist die Juristerei mitunter eine detektivische Arbeit, was sie gerade so spannend macht. Es geht fast immer darum, die Wahrheit herauszufinden: Der Kläger sagt "Hü", der Beklagte sagt "Hott"; der Ankläger sagt "er war’s", der Verteidiger sagt "er war’s nicht". Die Spurensuche fängt aber nicht erst im Gerichtssaal mit der Befragung von Zeugen an. Denn es gibt Tausende von Gesetzen mit Hunderttausenden Paragrafen. Es ist ein Labyrinth und ein neuer juristischer Fall ist fast immer ein Rätsel, dessen Lösung am Ende dieses Irrgartens liegt.
Da der Prinz den Besitz am Leichnam seines Vaters begehrte ("possession of the body"), lag es nahe, im Dickicht des bürgerlichen Rechts zu suchen, das eben jenen Besitz regelt. Und damit kommen wir gleich zur Sache beziehungsweise zum Sachenrecht. Das ist eine Disziplin in der Juristerei, die im Studium eher unbeliebt ist. Ich finde, zu Unrecht, denn schon das zehnte Gebot besagt: "Du sollst nicht Begehren Deines nächsten Haus, Hof, Vieh und alles, was sein ist!"
Das Recht der Sachen im BGB wiederum beschreibt im Einzelnen, was "mein" und "dein" bedeutet, und zwar in Form von Besitz und Eigentum. Es stellt damit die Beziehung zwischen dem Menschen und den Dingen her, was unserer Spezies ja sehr wichtig ist (homo possidens). Der Wunsch des Menschen, abzugrenzen, was ihm und was den anderen gehört, dürfte so alt sein wie er selbst, und vermutlich haben sich bereits unsere Vorfahren darum gestritten, wer welche Höhle bewohnen darf.
In unserem BGB lernt der interessierte Bürger schon ziemlich weit vorne, was Sachen eigentlich sind, nämlich "nur körperliche Gegenstände". Also Luft ist keine Sache, auch Ideen sind es nicht. Aber Körper können es schon sein. Allerdings auch nicht zwingend, denn ein Mensch, obwohl er einen Körper hat, ist keine Sache, weil er kein Gegenstand ist. Das ist auch gut so, denn sonst könnte man Menschen besitzen und verkaufen, doch die Zeit der Sklaverei ist zum Glück vorbei.
Um das Gesetzeshandwerk besser zu verstehen, hier ein goldene Regel: Es gibt fast immer eine Ausnahme. Das liegt daran, dass Gesetze nur Schablonen sind. Die Welt ist aber chaotisch und vielseitig. Sie ist unberechenbar und verändert sich jeden Tag. Sie in ein Gesetzesbuch zu pressen, kann – welch’ Glück - nicht funktionieren.
Im, am oder vom Menschen: Was ist eine Sache?
Was sagt jetzt die Schablone des BGB zu unserer Leiche? Wir haben oben gelernt, dass der Mensch keine Sache ist. So weit, so gut. Doch was, wenn er stirbt? Was ist er dann? Nähern wir uns der Antwort am besten Schritt für Schritt. Erste Erkenntnis: Mensch und Sache sind gar keine absoluten Gegensätze, wie man vielleicht denken mag. Die Übergänge sind vielmehr fließend. Zwar sind auch Teile unseres Körpers (etwa Gliedmaßen und Organe) keine Sachen. Allerdings gilt das nur, solange sie nicht vom Körper getrennt sind. Dann werden sie zur Sache. Die Haare, die wir beim Friseur lassen, müssen also nicht bestattet werden, sondern dürfen als Abfall im Mülleimer landen. Ebenso der Zahn, der raus muss, weil er faul ist. Er gehört sogar dem Zahnarzt, der ihn uns gezogen hat.
Es hat also etwas mit Trennung zu tun. Aber nicht zwingend, denn jetzt kommt eine Ausnahme: Wird etwas vom Körper getrennt, das einem Körper wieder zugefügt werden soll, gilt es auch während der Trennung als Körperteil und nicht als Sache. Das entnommene Sperma beispielsweise gehört also weiterhin zum Spender. Ironischerweise führt das dazu, dass das (eingefrorene) Erbgut nicht vererblich ist. Weitere kuriose Folge: Wird der Samen vernichtet, bekommt der Mann Schmerzensgeld wegen Körperverletzung und keinen Schadensersatz wegen Sachbeschädigung.
Gegenfrage: Was ist mit Sachen, die dem Körper nicht entnommen, sondern zugefügt werden? Die Nahrung, die wir aufnehmen, wird (temporärer) Bestandteil unseres Körpers und ist dann keine Sache mehr. Das mag beruhigen, weil der Koch keinen Besitzschutz geltend machen kann, wenn man die Rechnung nicht bezahlt. Er darf – und sei es aus Schikane – das verspeiste Menü nicht herausverlangen. Ähnlich, wenn Sachen dauerhaft mit dem Körper verbunden werden, etwa Implantate. Auch sie werden rechtlich gesehen Teil unseres Körpers, selbst wenn sie an sich Gegenstände bleiben (zum Beispiel der Herzschrittmacher).
Nun schon wieder eine Ausnahme: Dinge, die vom Körper leicht entfernt werden können, bleiben Sachen. Reißt man dem Widersacher im Streit das Toupet vom Haupt und steckt es ein, begeht man keine Körperverletzung, sondern Diebstahl. Auch die dritten Zähne werden nicht "verkörpert". Sie bleiben – selbst im Mund – Sachen. Will sie der Zahnarzt an sich nehmen, weil sie nicht bezahlt wurden, sollte er sie trotzdem lieber stecken lassen, weil sie nicht gepfändet werden dürfen.
Man sieht an diesen Beispielen, dass Mensch und Sache im wahrsten Sinne des Wortes nicht immer voneinander zu trennen sind. Faszinierend ist, dass die Römer unsere heutigen juristischen Probleme nur erahnen konnten, und wir trotzdem ihre antiken Ideen in unserem BGB anwenden, um diese Probleme zu lösen. Ebenso spannend ist der Blick in die Zukunft: Mensch und Sache werden künftig immer weiter verschmelzen, man denke an Chips im Kopf, Exoskellete oder tiefgefrorene Körper. Umgekehrt vermenschlichen Sachen immer mehr, die aktuelle künstliche Intelligenz dürfte nur der Anfang sein und Cyborgs vielleicht das Ende. Auch wir können aktuell wohl nur erahnen, wo die Reise hingeht.
Was nun aus dem Körper des toten Chiefs wurde
Apropos Reise: Der Prinz hatte einen beschwerlichen Weg auf sich genommen, um den Leichnam seines Vaters mitzunehmen, und wollte von mir wissen, ob er das Recht dazu hat. Meine klare Antwort: Jein. Im Grundsatz gilt, dass der Körper ohne Leben eine Sache ist. Auch wenn das herzlos klingt, aber der Rechtsverkehr braucht eine Abgrenzung, andernfalls würde der Pathologe bei der Obduktion eine schwere Körperverletzung begehen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Doch beschleicht uns, lieber Leser, hier zu Recht ein Störgefühl: Sind wir nach dem Tod wirklich nichts anderes als ein Stein? Natürlich nicht! Zum Glück hat die Rechtswissenschaft sogar für die Metaphysik die passenden Regeln parat. Ist das Leben ausgehaucht, so sagt sie, werden wir zu einer herrenlosen Sache.
Jetzt der Clou: Diese herrenlose Sache ist dem Rechtsverkehr entzogen. Es ist also ausgeschlossen, dass mein toter Körper jemandem gehört (vor allem jemandem, dem ich das nicht gönne). Ebenfalls tröstlich: Unsere Persönlichkeit lebt rechtlich auch ohne Körper fort. Sogar als Geist sind wir also durch das Gesetz geschützt. Wer unsere postmortale Persönlichkeit verletzt, muss Schadensersatz (an die Erben) zahlen. Wer da nicht an ein Leben nach dem Tod glaubt...
Damit lautet die Lösung unseres Falls: Die Leiche ist eine Sache. Aber eine besondere und sie bedarf daher auch der besonderen Sorge, der sogenannten Totenfürsorge. Das ist eine weitere Erfindung aus der juristischen Ideenkiste. Der tote Körper gehört schließlich ordentlich behandelt und bestattet. Und wem steht diese Sorge (übrigens zugleich eine Pflicht) zu? Den nächsten Angehörigen. An sich eine gute Nachricht für den Prinzen mit dem "urgent matter".
Trotzdem musste ich ihn enttäuschen: Denn der in der Heimat verwitwete Chief hatte in Deutschland eine neue Liebe gefunden und war mit einer Berlinerin den Bund der Ehe eingegangen. Diese wollte ihren toten Ehemann lieber hierzulande begraben. Die Weisheit "Blut ist dicker als Wasser" passt in dem Fall nicht: Da der verstorbene Regent nicht bekundet hatte, im Land seiner Vorfahren bestattet werden zu wollen, durfte seine deutsche Witwe bestimmen, was mit ihm geschieht. Ich konnte dem Prinzen daher nicht empfehlen, einen Eilantrag zu stellen, sondern sich lieber mit der Ehefrau ins Benehmen zu setzen – vielleicht fand man ja eine einvernehmliche Lösung?
Hoffen wir es, denn ein Streit über einen Toten wäre auch wirklich keine schöne Sache gewesen.
Der Autor Dr. Matthias Hucke ist Richter am Kammergericht.
Erlebnisse eines Berliner Richters: . In: Legal Tribune Online, 08.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54728 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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