In der COVID-19-Krise ist Taiwan zwar neben Südkorea als positives Beispiel für effiziente Staatstätigkeit bekannt geworden. Ein blinder Fleck bleibt jedoch die erfreuliche Entwicklung in der Justiz des Landes.
Manchmal ist es erstaunlich, auf wie vielen Ebenen eine Sache peinlich sein kann – juristische Angelegenheiten nicht ausgenommen. Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 16. April 2008 gibt hierzu ein schmerzhaft schönes Beispiel (Az. 7 AZR 85/07).
Geklagt hatte ein Lektor – ein praktischer Sprachlehrer – für Chinesisch an der Universität zu Köln gegen die mutmaßlich sachgrundlose Befristung seines Arbeitsvertrages.
Gemessen an der früher gern genutzten Phrase, wonach Deutschland seinen wirtschaftlichen Reichtum nicht Bodenschätzen, sondern seinem Wissen zu verdanken habe, ist es beinahe gruselig zu lesen, wie viel juristischen Gehirnschmalz der Gesetzgeber darauf verwendet hat, Arbeitsverhältnisse im Hochschulbereich ohne Rücksicht auf intellektuelle Substanzverluste zu befristen.
Im konkreten Fall nahm diese generelle Peinlichkeit eine beinah niedliche Wendung: Das beklagte Land Nordrhein-Westfalen hatte als Befristungsgrund anzuführen versucht, dass der Chinesischlektor "wegen der rasanten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung" in der Volksrepublik und "wegen der ausschließlich 'staatskonformen' Berichterstattung in den chinesischen Medien" gut daran tue, von Zeit zu Zeit in sein Heimatland zurückzukehren.
Das sei notwendig, um den deutschen Studenten Fremdsprachenlektoren mit frischen oder aufgefrischten muttersprachlichen Kenntnissen bieten zu können.
Allerdings hatte das Land Nordrhein-Westfalen, so die Bundesrichter, "offenbar übersehen", dass der Chinesischlektor gar nicht aus der diktatorischen, glitterkapitalistischen Volksrepublik China kam, sondern aus der längst demokratisierten Republik China auf Taiwan.
China ist mehr als eine Diktatur unter Herrschaft einer Partei
Der geographische Lapsus in der Argumentation des Landes Nordrhein-Westfalen dürfte einigermaßen typisch sein für die Kenntnisse zu beiden chinesischen Staaten.
Erstaunlicherweise gilt dies nicht nur für den Kenntnisstand, sondern auch für die Sympathiewerte. Trotz der seit Jahren wachsenden Repression und eines grotesken Nationalismus in der Volksrepublik China, der Zerstörung bürgerlicher Freiheiten in Hongkong und ungeachtet des mutmaßlichen Völkermords an der uigurischen Minderheit, § 6 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 4 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), genießt etwa die Führung der Volksrepublik in Deutschland ein bemerkenswert hohes, sogar noch wachsendes Ansehen.
Die bisher erfolgreiche Staatspraxis, die auf Taiwan zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie geführt hat, findet aktuell zwar etwas Beachtung. Besonders weit reicht aber auch hier die weltbürgerlich-republikanische Sympathie nicht. Anderenfalls würde es wohl als Skandal betrachtet, dass die Aufnahme Taiwans in die Weltgesundheitsorganisation am Widerstand der Volksrepublik China gescheitert ist, der im Grunde doch etwas glücklose Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (1980–) müsste sich unangenehmen Vergleichen mit seinem taiwanischen Kollegen Chen Shih-chung (1953–) ausgesetzt sehen und – last but not least – auch der erstaunliche Wandel der Republik China auf Taiwan in den vergangenen 30 Jahren wäre als Standardbeispiel für Demokratisierung und Justizreformen geläufig.
Schwierige Ausgangspunkte für eine freie Republik
Der Soziologe Chin-Shou Wang von der westtaiwanischen Cheng-Kung-Universität hat in einer Reihe von Aufsätzen bereits vor zehn Jahren die Entwicklung der Justiz fort von den Zuständen der früheren Kuomintang-Diktatur beschrieben.
Um an die Vorgeschichte im Telegramm-Stil zu erinnern: Seit 1895 japanische Kolonie, ging Taiwan 1945 wieder in chinesische Verwaltung über. Nach dem Sieg der Kommunistischen Partei unter Mao Zedong (1893–1976) im chinesischen Bürgerkrieg – er begann 1927, wurde durch die japanische Besetzung teilweise ausgesetzt und brach 1945 wieder aktiv aus – zog sich 1949 die Führung der Nationalen Volkspartei Kuomintang unter General Chiang Kai-shek (1887–1975) auf die Insel zurück, rund zwei Millionen Flüchtlinge verließen ebenfalls das Festland.
Nicht aufgegeben wurde der Anspruch, allein ganz China zu vertreten. Bis 1971 nahm die Republik China (auf Taiwan) den Sitz Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein. Die Insel stand bis 1987 unter Notstandsgesetzgebung. Bis 1991 fungierte die 1946 noch für ganz China gewählte, von der Kuomintang beherrschte Nationalversammlung als Parlament Taiwans. Nur zögerlich wurde die Nachwahl für wegsterbende Altabgeordnete betrieben. Freie Parlaments- und Präsidentenwahlen kennt das Land erst seit Beginn der 1990er Jahre.
Selbst Beobachter, die der nationalchinesischen Sache gegenüber positiv eingestellt waren – etwa aus dem liberal-aufgeklärten Flügel der frühen CIA oder der US-Republikaner – beurteilten die Korruption unter General Chiang und seiner Gattin Song Meiling (1897–2003) als hochgradig anstößig.
Überraschendes, nicht nur in Sachen Seuchenschutz
Trotz dieser eher ungünstigen Ausgangsbedingungen konnten sich, wie der auf Fragen der Justiz- und Rechtsstaatsentwicklung spezialisierte Soziologe Chin-Shou Wang beschreibt, die Richter Taiwans Unabhängigkeit erstreiten und korrupte Kollegen loswerden.
Unter der Alleinherrschaft der Kuomintang galten aus den eigenen Reihen betriebene Reformen der Justiz als unmöglich. Der Zugang zum Richteramt war durch zwei Prüfungen strikt limitiert, Richter auf Probe wurden zu paramilitärischen Übungen herangezogen, die mündlichen Prüfungen dienten als Test ideologischer Linientreue.
Gleichwohl trafen sich seit dem Jahr 1993 im heute fast ein bisschen berühmten Raum 303 des Bezirksgerichts von Taichung überwiegend junge Richter (und eine Richterin), die mit den Verhältnissen in der Justiz Taiwans unzufrieden waren. Bisher waren einzelne mutige Richterinnen und Richter in ihrem Vorgehen gegen korrupte Politiker und Einschränkungen richterlicher Unabhängigkeit auf starke Widerstände gestoßen.
Dass Richter Kao Hsin-wu im Jahr 1989 die Verhaftung des Leiters der Justizethik-Abteilung Wu T'ian-hui wegen Korruption veranlasste, ohne seinen Vorgesetzten zu konsultieren, galt als Tabubruch. Die junge Richterin Hsie Shuo-jong wurde bestraft, nachdem sie 1991 ein Gespräch mit ihrem Gerichtsdirektor aufgezeichnet hatte, in dem dieser sich mittels "Fallbeurteilung" in ihre Entscheidungen einmischte.
Denn über den weltanschaulich limitierten Zugang zum Richterberuf durch das Ausbildungswesen und die Personalbewertung hinaus behielten sich politisch und materiell korrupte Gerichtsdirektoren auch das Recht vor, die Fälle ihrer untergeordneten Richter in der Sache zu bewerten.
Damit nicht genug: Obwohl das Gerichtsverfassungsgesetz von jeher vorsah, dass die Geschäftsverteilung durch Abstimmung aller Richter erfolgen müsse, wurden die Fälle hergebracht von den Gerichtsdirektoren zugeteilt – ein Einfallstor nicht nur für politische Einflussnahme, sondern auch für Korruption, sowohl seitens der Prozessparteien als auch zugunsten der Gerichtsdirektoren, die sich die Zuteilung wertvoller Fälle von den Richtern honorieren ließen.
Richter erobern Geschäftsverteilung und beurteilen Vorgesetzte
Als erste bereiteten die Richter des Bezirksgerichts Taichung mit Beschluss vom 29. Dezember 1993 dieser Praxis der Fallzuweisung ein Ende, die Bewegung aus "Raum 303" griff danach landesweit um sich. Oftmals war den Richtern Taiwans, so der Soziologe Chin-Shou Wang, gar nicht bewusst gewesen, dass das Gerichtsverfassungsgesetz ihnen diese Kompetenz zuwies.
Als wirksame Methode, die Personalbewertungsmacht der materiell oder politisch korrupten Gerichtsdirektoren zu brechen, erwies sich die Spiegelung der Methode: 1994 verteilten drei reformwillige Richter unter ihren Kollegen Bewertungsformulare mit der Bitte, die fachlichen Leistungen der Gerichtsdirektoren – oftmals objektiv faule Richter – zu beurteilen. Durchschnittlich kamen die Vorgesetzten nur auf 54,5 von 100 Punkten, ein Gerichtsdirektor schnitt gar mit mageren 21,9 Punkten ab. Der Vorgang wurde öffentlich als hinreichend aussagekräftig wahrgenommen. Einige der Direktoren zogen es vor, alsbald in den Ruhestand zu gehen.
Besondere Bedingungen oder zum Vorbild geeignet?
Chin-Shou Wang führt diese erfolgreiche Bewegung der Richter Taiwans – die ihre Grenzen freilich dort fand, wo eine engere Vernetzung mit der Demokratiebewegung außerhalb der Justiz erforderlich gewesen wäre – unter anderem darauf zurück, dass die jungen Richter noch nicht vollständig diszipliniert waren, aber auch auf ihre Herkunft aus der unteren Mittelschicht. Ihre Eltern seien "Bauern, Industriearbeiter und Taxifahrer gewesen".
Allgemeinpolitisch handelte es sich jedoch, abgesehen von ihrem Kampf für die Unabhängigkeit der Justiz und gegen die Korruption, um eine recht heterogene Gruppe: Sowohl Befürworter einer völkerrechtlichen Trennung vom Rest Chinas als auch Vertreter der Ein-China-Politik fanden sich unter ihnen – ein Spektrum sozusagen vom DDR-seligen Lafontaine-Genossen bis zur deutschnationalen JU-Assessorin, will man denn diesen stark hinkenden Vergleich ziehen.
Selbst wenn sich das Beispiel Taiwans damit bestenfalls bedingt übertragen lässt: Nicht nur mit Blick auf die traurigen Entwicklungen in Polen und Ungarn oder das zertretene zarte Pflänzchen der Rechtsstaatsentwicklung im Mittelmeerraum, sondern auch auf den zweifelhaften Rückhalt, den eine liberale, sei es kritisch-positivistische oder eine wertedogmatische Justiz im Bundestag gegenüber der unaufhörlichen Orientierung an Fiskal-, Sicherheits- oder populistischen Belangen genießt – das Beispiel Taiwans zeigte, was Richter leisten konnten, als sie über dienstliche Aufgaben hinaus für die Sache des Rechtsstaats zu kämpfen bereit waren.
Martin Rath, Justiz in der Republik China auf Taiwan: . In: Legal Tribune Online, 13.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42783 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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