Seite 2/2 Reichsgericht formuliert Grundgesetz des "Anfütterns"
Das Reichsgericht beließ es zwar beim Freispruch, zog aber die Grenzen anders – und zwar so, dass das "Anfüttern" von Amtsträgern in den Bereich legaler Geschäftstätigkeit von Unternehmern kam: Der Anwalt habe dem Angeklagten "die Erforschung der vermuteten Verletzung des Patentrechtes als eine außerhalb seines Amtes als Kriminalkommissarius auszuübende Thätigkeit übertragen" und der Angeklagte habe den Auftrag "als Privatgeschäft übernommen".
Weil er es versäumt hatte, seine Recherchen und das Honorar dem Polizeipräsidium anzuzeigen, habe der "Kommissarius" zwar eine Pflichtverletzung, also eine Diensthandlung durch Unterlassen, begangen, die jedoch nicht unter den Tatbestand der Bestechung zu fassen sei, weil die Elberfelder Auftraggeber ihn zu diesem Verschweigen nicht "bestimmt" hätten.
Die Revision der Staatsanwaltschaft enthielt, naheliegend, das Argument, der Polizist habe mit dem Verhör des inhaftierten "Agfa"-Angestellten seine amtliche Stellung missbraucht. Hier greift der Tatbestand der Bestechung nach Auffassung des Reichsgerichts nicht, "weil nur derjenige Vorteil als für pflichtwidrige Handlung gewährt angesehen werden kann, welcher nach dem Willen und Bewußtsein der Beteiligten als Belohnung für die pflichtwidrige Handlung gelten soll". Das Reichsgericht bestätigt den Berliner Freispruch also, weil kein Beweis vorlag, dass das Honorar für die Rechercheleistungen dafür gezahlt worden war, dass der Polizist "die ihm aufgetragene Privatthätigkeit unter mißbräuchlicher Interposition seiner Amtsautorität zur Ausführung bringe".
Solange eine Schmiergeldzahlung nicht mit einem hinreichend konkreten Zweck verbunden ist, ist sie keine Bestechung. Ein Gedanke wie aus dem Lehrbuch des organisieren Verbrechens, formuliert vom Reichsgericht zu Leipzig, 1887.
Preußen und Bayern – die "Ordnungszellen" Deutschlands?
Dass die Reichsgerichtsräte gleichsam ein Grundgesetz jeder Korruptionspraxis formulierten, wirkt wie ein moralisierender Vorwurf, ist aber nicht so gemeint. Unter den staatsrechtlichen Rahmenbedingungen der Gründerjahre des deutschen Nationalstaats war das "Durchmogeln" von Spitzenmanagern und Lobbyisten jedenfalls nachvollziehbar.
Seit 1890, drei Jahre nach dem Leipziger Urteil, ist bekannt, dass noch weit bedeutendere hoheitliche Zauberkräfte von schnöden Geldzahlungen korruptiv kontaminiert waren – oder besser: gewesen sein sollen. Nichts Geringeres als der Verlust der bayerischen Souveränität könnte auf "Anfüttern" zurückzuführen sein.
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck konnte seit 1866, nachdem Preußen das Königreich Hannover okkupiert hatte, auf das beschlagnahmte Vermögen der Welfenherrscher zurückgreifen, ohne dafür seinem König oder gar dem Parlament Rechenschaft abzulegen. Ein Teil des Schwarzgeldes, man spricht von 300.000 Goldmark pro Jahr nebst Sonderzahlung von einer Million, floss über Schweizer Konten an den Bayernkönig Ludwig II. (1845-1886), der damit die Schulden seines bayerischen Disneylands, Neuschwanstein & Co., tilgte. Peter Gauweiler, auf der Suche nach Beispielen für den heutigen Souveränitätsverlust Deutschlands in Europa, beklagte den Untergang Bayerns in Deutschland noch jüngst, vergaß in seiner Abrechnung mit Bismarck aber die Spur des Geldes – was wohl ein Indiz für die Effizienz des "Anfütterns" bei weit größeren amtlichen Aktivitäten als den Rechercheleistungen eines preußischen "Kommissarius" ist.
"Bayer" und "Agfa" haben sich letztlich "auf dem Wege der Güte geeinigt." Beide Unternehmen sollten später zu den Gründern der mächtigen und schließlich verbrecherischen I.G. Farben AG werden, die trotz ihrer Zerschlagung durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg ein schier endloses juristisches Weiterleben hatte.
Der durchaus geniale Chemiker und Industriemanager Carl Duisberg sollte sich am Ende seines Lebens nicht entblöden, einem der verbrecherischsten und korruptesten Juristen aller Zeiten, dem Münchener Rechtsanwalt Hans Frank (1900-1946) in der "Akademie für deutsches Recht" zuzuarbeiten.
Aber das sind Rechtsgeschichten, die dem freundlichen Rückblick zu sehr im Wege stehen.
Hinweis: In seiner 1887 geltenden Fassung handelte § 331 StGB von "Bestechung". Dies ist hier kein Fehler.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Doktor Duisberg und der "Kommissarius": . In: Legal Tribune Online, 30.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7204 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag