Noch 1953 fand es der BGH ganz normal, dass die sexuelle Beziehung der Tochter eine Beleidigung des Vaters sein konnte – forderte im konkreten Fall aber eine genauere Prüfung der Umstände.
In einer Kleinstadt bei Düsseldorf hatte ein 20 Jahre alter Handwerker Anfang der 1950er Jahre eine Liebesbeziehung mit einer ebenfalls noch minderjährigen Sprechstundenhilfe unterhalten – das Volljährigkeitsalter lag seinerzeit bei 21. Jahren. Deren Vater missbilligte dies und verbot den Verkehr mit seiner Tochter, insbesondere natürlich dessen sexuelle Variante.
Das Landgericht (LG) Düsseldorf verurteilte den jungen Mann am 14. Juli 1952 wegen tateinheitlicher Beleidigung der jungen Frau und ihres Vaters zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten, nachdem er ursprünglich wegen Verführung, § 182 Strafgesetzbuch (StGB) alter Fassung, angeklagt worden war.
Mit Urteil vom 12. November 1953 stellte der Bundesgerichtshof (BGH) klar, dass zwar nicht jede sexuelle Beziehung eines älteren Mannes mit einem Mädchen bzw. einer noch minderjährigen Frau zugleich eine Beleidigung seiner Sexualpartnerin und auch nicht zwingend ihres erziehungsberechtigten Vaters sei (Az. 3 StR 713/52). Grundsätzlich kam dies aber sehr wohl in Frage.
Die Entscheidung verweist zurück auf eine Zeit, in der männliche Herrschaftsansprüche über die körperliche, insbesondere sexuelle Selbstbestimmung von Frauen äußerst weit gingen.
Fort vom Verführungstatbestand
Das LG Düsseldorf hatte aus nicht näher ausgeführten Gründen davon Abstand genommen, den jungen Mann wegen Verführung einer Minderjährigen zu verurteilen.
Für die Würdigung der Vorgänge ist diese Vorschrift gleichwohl von Interesse. Mit einigen Anpassungen, unter anderem im Strafmaß, gab § 182 Abs. 1 StGB bis ins Jahr 1994 vor: "Wer ein unbescholtenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet hat, zum Beischlafe verführt, wird mit Gefängniß bis zu einem Jahre bestraft."
Der berühmte Kommentar des Münchener Rechtsgelehrten Reinhard Frank (1860–1934) erklärt in der 18. Auflage von 1931, dass es ausschlaggebend sei, "ob das Mädchen für Erhaltung der eigenen geschlechtlichen Reinheit Interesse hat oder nicht".
Ob bei der Beurteilung des "unzüchtigen Gebarens" das soziale Milieu eine Rolle spielen sollte, wurde immerhin schon seit Kaiser Zeiten kritisch gesehen, umstritten war auch, wie weit die "Unbescholtenheit" davon abhängen sollte, dass der "unsittliche Lebenswandel" der Minderjährigen allgemein bekannt war – denn im Schelten steckt etymologisch ein Element der Öffentlichkeit.
Mit dem Tatbestandsmerkmal der "Verführung", von Frank unscharf als "Geneigtmachen zur Duldung des Beischlafs" definiert, musste es in den Augen des Gerichts immerhin dann vorbei sein, wenn die Initiative von der jungen Frau, dem Mädchen selbst ausging.
Kein Wunder, dass das Landgericht Düsseldorf einen veränderten rechtlichen Gesichtspunkt entdeckte und lieber den in solchen Sachen seinerzeit leichter zu prüfenden Beleidigungstatbestand, § 185 StGB, bejahte.
Beleidigung ist leichter zu prüfen, hat aber auch ihre Tücken
Leichter war dieser zu prüfen, weil nach der bis dahin bekannten Rechtsprechung in der Frage, ob eine weibliche Person durch den Geschlechtsverkehr beleidigt worden ist, zu gelten hatte, "dass geschlechtliche Beziehungen eines Mannes zu einem unreifen Mädchen in der Regel einen Angriff auf dessen Geschlechtsehre enthalten. Dessen ehrverletzender Charakter wird durch die Einwilligung der noch unentwickelten Person für gewöhnlich nicht ausgeschlossen, weil ihr erfahrungsgemäß das volle Verständnis für den Begriff der Geschlechterehre und den Wert ihrer Wahrung noch abgeht. Sie kann auf den Schutz ihrer Geschlechtsehre nicht wirksam verzichten […]."
Mit diesen Worten schloss sich der BGH der Rechtsprechung des Reichsgerichts an und referierte aus dieser weiter, dass die Sache anders liegen könne, "wenn ein Mädchen in fortgeschrittener Entwicklung die Bedeutung der Tat als Unzuchtshandlung und den Begriff der Geschlechtsehre erfaßt hat und erkennt, daß die Duldung einer unzüchtigen Handlung oder die Einwilligung in eine solche die Preisgabe der Geschlechtsehre in sich schließen kann […]".
Im vorliegenden Fall zweifelte der BGH aber am Vorsatz des jungen Mannes, an der "inneren Tatseite", mit eigenwillig überliefertem "sz"-Gebrauch: "Der Angeklagte liebte die Christel D. […]. Er war zur Tatzeit erst 20 Jahre alt. Demnach war er dem Mädchen im Alter nicht weit, in der geistigen und geschlechtlichen Reife – in Anbetracht der allgemein rascheren Entwicklung der weiblichen Jugend – vielleicht überhaupt nicht voraus. Es ist möglich, daß seine Erfahrungen auf dem Gebiet der geschlechtlichen Entwicklung sich von denen der D. nicht unterschieden. Im Hinblick darauf und auch ihr Einverständnis mit dem Geschlechtsverkehr kann schon der äussere Tatbestand eines Vergehens der tätlichen Beleidigung zweifelhaft sein."
Weiter monierte der BGH, dass die Düsseldorfer Richter tateinheitlich eine Beleidigung des Vaters festgestellt hatten, ohne dies näher zu begründen. Eine solche konnte aber durchaus in Betracht kommen, sobald ermittelt wurde, "ob der Geschlechtsverkehr in der elterlichen Wohnung stattgefunden hat, ob das Mädchen in Hausgemeinschaft mit seinen Eltern gelebt hat, ferner ob und inwieweit sich der Vater der Erziehung seiner Tochter angenommen und sie überwacht hat."
Unter anderem zur Prüfung, ob der junge Mann den Vorsatz gehabt hatte, die Familienehre des Vaters zu verletzen, verwies der BGH die Sache an das Landgericht München-Gladbach (heute Mönchengladbach) zurück.
Der gute Ruf der Ehefrau
Die vom BGH zitierte Rechtsprechung des Reichsgerichts, nach der ein Mann durch eine Handlung mittelbar beleidigt werden kann, die sich unmittelbar gegen eine ihm nahestehende Frau richtete, stammte überwiegend aus dem Jahr 1936.
Mit Urteil vom 13. Februar 1936 hatte das Reichsgericht (Az. 3 D 710/35) eine Beleidigung des Ehemannes darin erkannt, dass der Angeklagte dessen betrunkene Gattin per Kraftfahrzeug zu einer nächtlichen Sauftour mitgenommen und damit Zweifel an deren Unbescholtenheit geweckt hatte. Das Landgericht Aachen hatte dazu zur Zufriedenheit der Leipziger Richter festgestellt, dass es "eine grobe Ungehörigkeit" sei, "die Abwesenheit des Ehemanns zu einer derartigen nächtlichen Fahrt mit der schon angeheiterten und leichtsinnig gewordenen Frau auszunützen. Zur Ehre von Ehegatten gehöre es, daß sie nicht nur einander die Treue hielten, sondern auch nach außen hin alles vermieden, was berechtigte Zweifel an ihrer ehelichen Treue hervorrufen könne."
War bis dahin nur im Fall des Ehebruchs eine Beleidigung des "gehörnten" Gatten vermutet worden, sollte es nach der "Volksauffassung" nunmehr "keinen Unterschied begründen, ob der gute Ruf der Ehefrau durch einen Ehebruch oder durch eine andere Handlung beeinträchtigt wird".
Dem Vater und Ehegatten eine derart weitgehende Verantwortung für das sittliche Betragen, vor allem für den erotischen Sozialkonformismus von Gattin und Tochter zuzurechnen, dass deren vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten als Beleidigung auch seiner Person zu gelten habe, wie es die Gerichte in den 1930er und 1950er Jahren taten, ist einigermaßen sicher mit dem Adjektiv "patriarchal" zu bezeichnen.
Bei der Einordnung der sehr oft wiederholten These, die Menschen in Deutschland lebten "nach wie vor im Patriarchat", mag der Vergleich mit den Lebensverhältnissen vor 70 Jahren weiterhelfen.
Hinweis: Die zitierten Urteile des Reichsgerichts sind abgedruckt im 70. Band seiner Entscheidungen in Strafsachen (RGSt), S. 94–100 und 245–251.
Als die sexuelle Beziehung der Tochter eine Beleidigung war: . In: Legal Tribune Online, 12.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53130 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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