Sven Heibel (CDU), ein Westerwälder Bürgermeister, hat am Donnerstag über Facebook sein Bedauern über die Entfernung des § 175 aus dem Strafgesetzbuch bekundet und einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Martin Rath gibt das Anlass für einen Ausritt in das Sexualstrafrecht vergangener Tage, in dem die "Entmannung" von "Sittlichkeitsverbrechern" als probates Mittel zu ihrer "Heilung" galt.
"Allerdings sind Bestrebungen im Gange", freute sich der Gerichtsreferendar zu Göttingen über die Fortschritte in der Kriminalpolitik seiner Zeit, "auch den Homosexuellen zu entmannen, da die neueren Ergebnisse anscheinend doch eine Besserung erhoffen lassen. Dem Bericht der amtlichen Strafrechtskommission zufolge wird ernsthaft erwogen, zukünftig den Kreis der Straftaten auf die Fälle der Befriedigung homosexueller Triebe unter Gewaltanwendung oder an Knaben unter 15 Jahren oder an Widerstandsunfähige [sic!] zu erweitern."
Den "Kreis der Straftaten", der hier von Hans Puvogel (1911-1999) in seiner 1936 vorgelegten Dissertation "Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher" angesprochen wird, bildeten die 1934 in § 42 k Strafgesetzbuch (StGB) genannten Katalogstraftaten, die es dem Gericht erlaubten, mit der ersten wiederholten Verurteilung wegen eines sogenannten Unzuchtsdelikts die Kastration des Täters anzuordnen. Genannt waren unter anderem die "Nötigung zur Unzucht", die "Unzucht mit Kindern" sowie die "Notzucht" (§§ 176-178 StGB), der Exhibitionismus (§ 183 StGB) oder die nicht weiter spezifizierte Körperverletzung (§ 223 StGB).
Entmannt werden kann eigentlich nie genug
#Zum 1. September 1935 war die Strafbarkeit homosexueller Handlungen von Männern, die eine recht wechselhafte Gesetzgebungsgeschichte hinter sich hatte, erheblich verschärft worden. Sah das Reichsstrafgesetzbuch zwischen 1872 und 1935 vor, dass die "widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird" mit "Gefängniß" zu bestrafen sei, standen zwischen 1935 und 1969 mit § 175a auch so heterogene Qualifikationstatbestände wie durch Gewalt oder ein dienstliches Unterordnungsverhältnis abgenötigte homosexuelle Handlungen, die "Verführung" unter 21-Jähriger sowie die gewerbsmäßige Unzucht unter Strafe – mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren.
Puvogel bedauerte nun, dass der "gleichgeschlechtliche Verkehr unter Männern (§ 175 StGB)" nicht zu den Katalogstraftatbeständen zählte, die im Wiederholungsfall die gerichtliche Anordnung einer Kastration erlaubten, "weil nach den medizinischen Ergebnissen der Homosexuelle trotz Entmannung im allgemeinen von seiner widernatürlichen Triebrichtung nicht abgebracht werden kann". Eine positive Entwicklung erkannte Puvogel immerhin darin, dass das 1933 erlassene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) 1935 ergänzt wurde: § 14 Abs. 2 GzVeN erlaubte nun "die Entfernung der Hoden mit Einwilligung des Mannes, wenn sie nach amts- oder gerichtsärztlichem Gutachten erforderlich ist, um ihn von seinem entarteten Triebleben, das die Begehung weiterer Verfehlungen im Sinne der §§ 175—178, 183, 223—226 StGB, erwarten läßt, zu befreien".
Was von einer "Freiwilligkeit" zu halten ist, die alternativ die Einweisung in ein Konzentrationslager per "justizfreiem Hoheitsakt" kannte, mag dahingestellt bleiben – dass es ihnen nicht allein um gewalttätige Sexualstraftäter ging und auch die Kastration als milderes Mittel verstanden wurde, gaben nationalsozialistische Juristen wie Puvogel offen zu erkennen: Keine juristische Distinktion, die er referiert habe, dürfe vergessen machen, dass es am Ende stets um die Beseitigung von Feinden der Volksgemeinschaft gehe.
§§ 175, 175a, 175b - Auflösung eines Rechtsguts
Zum 11. Juni 1994 trat § 175 StGB nach gut 120-jähriger, wechselhafter Geschichte außer Kraft – sehr zum Bedauern des eingangs erwähnten CDU-Manns Heibel, der der Norm mit mittelgebirgstypischem Bibel-Fundamentalismus hinterherweint.
Für ein paar historische Betrachtungen ist sie aber auch heute noch gut. Darunter die Möglichkeit, die rechtstechnische Entwicklung der Norm und ihrer Tatbestände – §§ 175, 175a und 175b StGB – nachzuvollziehen, wie es der Mannheimer Rechtsanwalt Dr. Thomas Fuchs in seiner synoptischen Darstellung tut: Am Anfang stand eine Norm, die schon wegen der beiden Tatbestände – des homosexuellen und des zoophilen – obskur wirkte und früh in die Kritik geriet, weil sie sexuelle Handlungen unter zustimmungsfähigen Erwachsenen unterschiedslos pönalisierte.
In den kurzen Jahren der Weimarer Republik blieb sie politisch umstritten und im Bereich informeller polizeilicher Opportunitätsentscheidungen. Um im Telegraphenstil zu bleiben: Die NS-Gesetzgebung formulierte den Qualifikationstatbestand des § 175a StGB, die Rechtsprechung schärfte mit einer extensiven Auslegung bzw. analogen Anwendung (§ 2 StGB i.d.F. v. 01.09.1935) nach. Trotz beendeten NS-Regimes wendete die (bundes-) deutsche Justiz die Normen mit gewissen Unterschieden in der regionalen Praxis, aber mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts weiter an (BVerfG, Urt. v. 10.05.1957, Az. 1 BvR 550/52), bis sich nach 1969 der Gedanke durchsetzte, dass das Sexualstrafrecht den freien Willen und die körperliche Unversehrtheit, nicht aber die Moral zu schützen hätte.
Diese Geschichte ist so oft (nach-) erzählt worden, dass man fast mit gutem Gewissen auf die einschlägige Darstellung für den schnellen ersten Blick verweisen darf.
2/2: Norbert Geis fühlt sich von Bolschewistin geschmeichelt
Auf die Bundestagsdebatten, wenn man denn von "Debatten" sprechen darf, die zwischen 1991 und 1994 zur Aufhebung des § 175 StGB führten, lohnt es sich aber vielleicht doch, einen zweiten Blick zu werfen. Erstens, weil diese parlamentarischen Beratungen die heutige Politik-, Parteien- und/oder Parlamentarismus-Müdigkeit relativieren helfen: Der Bundestag beriet 1994 über die Abschaffung einer über 120 Jahre hinweg höchst umstrittenen Norm mit weniger Temperament als es wohl eine Sparkassenfilialleiterversammlung bei der Wahl neuer Sparschweinfarben aufbrächte. In den stenographischen Berichten ist etwa nachzulesen, dass sich die Abgeordneten nicht entblödeten, ganze Absätze ihrer Reden aus der ersten Beratung wortgleich in der zweiten Beratung von neuem vorzutragen (Plenarprotokolle 12/41, 12/153 und 12/216).
Zweitens gibt es, immerhin, komische Momente. Bolschewikin trifft Kohlenkeller: Die im sowjetischen Rostow am Don studierte, in Leipzig gewählte Abgeordnete Dr. Barbara Höll (SED/PDS/Linke) referiert über die Geschichte der Homosexualität respektive ihrer strafrechtlichen Verfolgung in Bayern. Mit dem Feuerbach’schen Strafgesetzbuch waren dort homosexuelle Handlungen 1810 straffrei gestellt worden, was den CSU-Abgeordneten Norbert Geis zum Zwischenruf bewegte: "So fortschrittlich waren die Bayern schon immer!" Das verwundert insofern, als dieser strikt katholische Politiker im Übrigen stets hart an seinem Ruf arbeitete, so schwarz zu sein, dass er noch im Kohlenkeller Schatten wirft.
Rechtspolitisch bleibt, dritte Lektüreeinladung, die Aufhebungsdebatte um den § 175 interessant, weil er einige "Hausnummern" weiter eine partielle Wiedergeburt erlebte. Dass die Norm nicht bereits in den 1970er-Jahren ihr Ende zugunsten einer einheitlichen strafbewehrten Altersgrenze fand, die Jugendliche gegen sexuelle Interessen Erwachsener schützt, war auf die Annahme zurückzuführen, homosexuelle Männer könnten Heranwachsende zu einer regelwidrigen Sexualität "verführen". Ganz aufgegeben wurde diese Verführungsidee 1994 nicht, geschlechtsneutral formuliert findet sie sich § 182 Abs. 3 StGB wieder. In den stenographischen Berichten eiern die Volksvertreter zu diesem Aspekt derart spekulativ herum, dass es zu glauben schwerfällt, angehende Juristen lernten zur Interpretation der Gesetze tatsächlich auch eine "Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers".
Keine Angst, was "gefügige Haremsrichter" betrifft
Apropos "angehende Juristen": Eine Erklärung steht noch aus, warum dieser Text mit den unappetitlichen Ideen eines 25-jährigen Doktors der Rechtswissenschaft seinen Anfang nimmt, dessen Überlegungen darauf hinausliefen, erstens sogenannten Berufsverbrechern und zweitens, kraft seines höherwertigen Rassenbewusstseins, gern auch einer möglichst großen Zahl homosexueller "Volksgenossen" die Hoden herauszuschneiden. Und natürlich, was das mit "entmannten Haremsrichtern" zu tun haben soll.
Zunächst zur Beruhigung: Hans Puvogels Dissertation über "Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher" bewegt sich – gemessen selbst an anderen fragwürdigen Arbeiten dieser Zeit – auf dem Niveau märchenhaft belegter Argumente. Von kastrierten "Haremswächtern" im Orient hat man schon gehört. An anderer Stelle konstruiert er nicht ganz stilsicher entmannte Frauen. Die Schrecken orientalischer Herrschaft illustriert Puvogel anhand von "gefügigen Haremsrichtern" und hat sich dabei wohl einfach nur vertippt – das kann bei einer rund 100.000 Anschläge umfassenden Dissertation ja schon mal passieren.
Trotz seiner an Geist, Anstand und Umfang etwas mageren Arbeit ist dann aus diesem Hans Puvogel später übrigens doch noch etwas geworden. Als Nachfolger von Ernst Albrecht diente er dem Land Niedersachsen, das bei der Besetzung dieses Amtes nicht selten wagemutig verfährt, zwischen dem 12. Mai 1976 und dem 4. Juni 1978 als Justizminister.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Paragraph 175 Strafgesetzbuch: Entmannte Haremsrichter . In: Legal Tribune Online, 15.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12264/ (abgerufen am: 01.07.2024 )
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