Die juristische Presseschau vom 18. Februar 2021: EGMR for­dert Nawalny-Ent­las­sung / BGH zur Bei­ord­nung von Anwälten / NSU-Pro­zess-Hör­spiel

18.02.2021

EGMR erlässt einstweilige Maßnahme zur Haftentlassung Nawalnys. BGH verstärkt Prüfpflicht, ob Beiordnung von Anwälten gewollt ist. Hörspiel vom NSU-Prozess erscheint zum Jahrestag der Hanauer Anschläge.  

Thema des Tages

EGMR – Nawalny: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny soll unverzüglich aus der Haft entlassen werden. Dies forderte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Rahmen einer einstweiligen Maßnahme nach Artikel 39 der EGMR-Verfahrensordnung. Der EGMR gab damit dem Antrag Nawalnys statt. Solche vorläufigen Maßnahmen werden laut Gericht nur selten und nur bei unmittelbarer Gefahr eines irreparablen Schadens beschlossen. Zwar ist die Entscheidung verbindlich, Russlands Justizminister hält sie aber für eine "offene und grobe Einmischung" in die russische Souveränität und lehnte die Entlassung Nawalnys ab. Weil dieser während seines Aufenthalts in Deutschland gegen Bewährungsauflagen aus einem früheren Strafverfahren verstoßen haben soll, war der Kremlkritiker im Januar inhaftiert worden, Anfang Februar verurteilte ihn ein russisches Gericht zu drei Jahren Straflagerhaft. Gegen seine Haft legte Nawalny im Januar Beschwerde beim EGMR ein. Es berichten LTO, die SZ, die FAZ (Reinhard Veser) und zeit.de.

Rechtspolitik

Sozialleistungen für Asylsuchende: Die Bundesregierung hat eine Großen Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken beantwortet, in der es um die Kürzung von Sozialleistungen von Asylbewerbern als Sanktionierung bestimmten Verhaltens ging. Die Linke wollte wissen, ob und wie die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit solcher Sanktionen zu belegen sei. Eine solche Prüfung hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2019 in seinem Urteil zu Hartz IV-Sanktionen vorgeschrieben. Die Bundesregierung teilt laut SZ (Wolfgang Janisch) mit, dass sie keine Untersuchungen durchgeführt und auch sonst keine Erkenntnisse habe. Dies mache nach Aussage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpke deutlich, dass der Bundesregierung "die Menschenwürde von Geflüchteten nichts wert ist". Derzeit ist am BVerfG eine Verfassungsbeschwerde zu eben jenem Sanktionierungsmodell anhängig.

Pakt für den Rechtsstaat: Hamburg fordert den Bund auf, den Ende des Jahres auslaufenden "Pakt für den Rechtsstaat" zu verlängern und somit erneut den Ländern mindestens 220 Millionen Euro für die Finanzierung zusätzlicher Richterstellen zur Verfügung zu stellen. Dies sei laut dem Hamburger Positionspapier nötig, um den Rechtsstaat zu stärken und die in der Corona-Pandemie zusätzlich belastete Justiz zu unterstützen, etwa im Hinblick auf die Digitalisierung. Laut LTO fordern auch der Deutsche Richterbund (DRB) und der Deutsche Anwaltverein (DAV) eine Verlängerung des Pakts. 

Unabhängigkeit der StA: Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom letzten Jahr hatte das Bundesjustizministerium im Januar einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften vorgestellt. Dieser greife allerding zu kurz, äußert der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbunds (DRB) gegenüber der FAZ (Marlene Grunert) und fordert, die Einzelfall-Weisungsbefugnis nicht nur für die europaweite, sondern auch für die inländische Strafverfolgung auszuschließen. Das wäre laut Gesetzentwurf aber gerade verfassungswidrig, gehöre die Staatsanwaltschaft schließlich zur Exekutive und müsse deshalb demokratisch legitimiert sein.

Justiz

BGH zur Beiordnung eines Anwalts: Ordnet ein Haftrichter eine Freiheitsentziehung an, muss er zuvor prüfen, ob dem Betroffenen nicht ein Anwalt hätte beigeordnet werden sollen. Dies geht aus einer nun veröffentlichten Entscheidung des Bundesgerichtshofs von Mitte Dezember hervor. Im zugrunde liegenden Fall hatte das Amtsgericht Bamberg angeordnet, eine iranische Staatsangehörige in Abschiebehaft zu verbringen. Vor dem Haftrichter hatte die Iranerin zuvor geäußert, sie sage ohne einen Anwalt nichts, was das Gericht lediglich als Antrag auf Verfahrenskostenhilfe deutete. Die anschließende Beschwerde der Frau beim Landgericht Bamberg wurde abgelehnt, da das Vorbringen der Frau laut Gericht sowieso keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Diese Rechtsauffassungen lehnte der BGH nun ab. Vielmehr leide die Anhörung der Iranerin an einem schwerwiegenden Verfahrensfehler und verletzte sie in ihrem Recht auf ein faires Verfahren. Es berichtet LTO (Hasso Suliak).

EGMR zu Whistleblower: In einem Interview mit spiegel.de (Dietmar Hipp) äußert sich der Anwalt des Whistleblowers, Samuel Ritter, zum am Dienstag verkündeten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der EGMR hatte im Fall eines deutschen Arztes, der von einer Liechtensteiner Klink gekündigt worden war, nachdem er seinen Chefarzt wegen des Verdachts der aktiven Sterbehilfe angezeigt hatte, die Kündigung für rechtmäßig gehalten, weil der Arzt den Verdacht vorab besser hätte aufklären können und müssen. Der Anwalt erklärt, dass die Papierakten der Patienten nicht greifbar waren und der Arzt deshalb nur die elektronischen Akten prüfen konnte. Außerdem wäre auch nach Lektüre der Papierakten der Verdacht nicht wiederlegt gewesen. Ritter hält das Urteil für "ein fatales Signal" an Whistleblower.

OLG Koblenz – Folter in Syrien: Das Oberlandesgericht Koblenz hat das Verfahren gegen einen der beiden Angeklagten im Syrien-Prozess abgetrennt, da die Beweisaufnahme im Fall Eyad A. entscheidungsreif sei. Damit könnte es laut SZ bereits am 24. Februar zu einem ersten Urteil kommen. Der Prozess gegen den Hauptangeklagten Anwar R. wird dagegen fortgesetzt. Die beiden Syrer sind angeklagt, für die Folter von Gefangenen verantwortlich gewesen zu sein.

LG Berlin – Serienvergewaltigung im Grunewald: Wegen sechs Vergewaltigungen, einer versuchten Vergewaltigung, wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung muss sich seit diesem Mittwoch Sinisa K. vor dem Landgericht Berlin verantworten. Letzten Sommer hatte K. im Berliner Südwesten über wenige Wochen mehrere Frauen zwischen 27 und 14 Jahren im Wald vergewaltigt. Wie spiegel.de (Wiebke Ramm) und die FAZ (Julia Schaaf) berichten, findet die Verhandlung vor der Jugendkammer statt, weil eines der Opfer minderjährig war.

AG Frankfurt/M. zu Ausschreitungen am Opernplatz: Unter anderem wegen schweren Landfriedensbruchs und eines Angriffs auf Polizeibeamte wurde nun ein 20-Jähriger vom Jugendgericht Frankfurt am Main zu 50 Sozialstunden und zum Lesen des Buchs "Deutschland im Blaulicht" der Polizistin Tania Kambouri verurteilt. In einer Nacht im Juli 2020 war es auf dem Frankfurter Opernplatz zu schweren Ausschreitungen gekommen. Vor dem AG sind laut FAZ, Welt und spiegel.de noch weitere sechs Verfahren zu den Ausschreitungen anhängig.

AG Bernau – Cannabis/Befangenheit: In der Reihe "Meine Urteile" schreibt Richter Thomas Melzer in der Zeit diesmal über seinen Richterkollegen Andreas Müller, bekannter Jugendrichter und seit einigen Jahren Befürworter einer Legalisierung von Cannabis. Aufgrund jener Haltung stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder kürzlich während eines Betäubungsmittelverfahrens einen Befangenheitsantrag gegen Müller.

Recht in der Welt

Frankreich – EuG zu Luftfahrtbeihilfen: Frankreichs Beihilfemaßnahmen für Luftfahrtunternehmen mit französischer Zulassung sind rechtmäßig und stellen keine Diskriminierung der irischen Airline Ryanair dar. Das entschied das Gericht der Europäischen Union und wies damit eine Klage von Ryanair ab. Um französisch lizensierte Flugunternehmen in der Pandemie zu unterstützen, hatte Frankreich ein Zahlungsmoratorium erlassen, das laut EU-Kommission mit dem Binnenmarkt ausnahmsweise vereinbar sei, da die Beihilfe zur Beseitigung von Schäden diene, die durch sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind. Gegen diesen Beschluss legte Ryanair Nichtigkeitsklage vor dem EuG ein. Das Gericht stimmte nach Berichten von LTO, SZ und FAZ der Kommission zu und sah keine Verletzung von Ryanair's Dienstleistungsfreiheit.

USA – Fehl-Überweisung: Eine von der Citigroup-Bank versehentlich überwiesene halbe Million Dollar muss nicht an diese zurückgezahlt werden. So entschied ein New Yorker Gericht und wies damit die Klage der Bank zurück. Diese hatte im August 2020 im Auftrag eines Kosmetikherstellers fälschlicherweise anstatt einer Zinszahlung den noch nicht fälligen Kredit an die Gläubiger vollständig zurückgezahlt. Bei fehlerhaften Überweisungen einer solchen Größenordnung mussten die Gläubiger aber nicht von einem Fehler ausgehen. Die Citigroup kündigte bereits an, in Berufung zu gehen, berichten die SZ (Harald Freiberger) und LTO.

Frankreich – Staat und Religion: Die französische Nationalversammlung hat laut taz (Rudolf Balmer) in erster Lesung ein Gesetzespaket zur Neufassung von Regeln zur Trennung von Staat und Religion und der Neutralität des öffentlichen Dienstes verabschiedet. Aufgrund der Verpflichtung des Staates zu Neutralität könnten die neuen Regelungen allerdings gegen die laizistische Verfassung verstoßen. Die Regeln zielen vor allem auf islamische Gemeinschaften ab und sollen durch kleine Änderungen im öffentlichen- und Privatrecht insbesondere verhindern, dass sich die Gemeinschaften abkapseln. 

Österreich – Sexismus im Netz: Das Verfahren gegen die Fraktionschefin der Grünen im österreichischen Parlament Sigrid Maurer ist beendet. Maurer hatte sexistische Nachrichten veröffentlicht, die sie auf Facebook von dem Account eines Wiener Gastronomen erhalten hatte, so SZ (Cathrin Kahlweit) und spiegel.de. Da dieser die Nachrichten nicht verschickt haben will und sich in der Öffentlichkeit diffamiert fühlte, zeigte er die Politikerin wegen übler Nachrede an, hat nach zweijährigem Verfahren und einem Erfolg in erster Instanz nun aber seine Privatanklage zurückgezogen. Das Gericht sprach Maurer darauf hin frei.

Internationaler Strafgerichtshof: Die 123 Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag haben den britischen Juristen Karim Khan zum neuen Chefankläger gewählt. Er folgt auf Chefanklägerin Fatou Bensouda aus Gambia, die im Sommer abtritt. Auch wenn der IStGH immer wieder von einzelnen Staaten kritisiert wird, wie zuletzt von der Trump-Regierung, die sogar Sanktionen gegen Bensouda verhängte, sei er ein legitimer und für die Staatengemeinschaft wichtiger Rechtskörper, erörtert die FAZ (Reinhard Müller).

Sonstiges

NSU-Prozess-Hörspiel: In dem 24-teiligen Hörspiel 'Saal 101' dokumentiert der Bayerische Rundfunk den NSU-Prozess anhand von Mitschriften der ARD-Reporter, die den Prozess fünf Jahre lang im Gerichtssaal begleiteten. Ausgestrahlt wird das Hörspiel zur Jährung des Anschlags in Hanau am 19. und 20. Februar in einer Vielzahl öffentlich-rechtlicher Kulturradios, wie die SZ (Annette Ramelsberger) ankündigt.

Rechtsextremistische Attentäter: Die Kriminologin Britta Bannenberg spricht im Interview mit der FAZ (Katharina Iskandar) über die Motivation und den Tätertypus von rechtsextremistischen Attentätern wie Stephan Ernst, dem Mörder von Walter Lübcke, oder Tobias Rathjen, dem Attentäter von Hanau. Zudem berichtet sie vom Beratungsnetzwerk Amokprävention.

Häusliche Gewalt: Die Zeit (Moritz Aisslinger) begleitet die Familienrechtsanwältin Asha Hedayati, spezialisiert auf Fälle partnerschaftlicher Gewalt, und portraitiert eine ihrer Mandantinnen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden ist. Gerade im Lockdown während der Corona-Pandemie haben die Vorfälle häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder massiv zugenommen.

EY/Commerzbank: Wie das Hbl (Felix Holtermann/Rene Bender), die FAZ (Hanno Mussler) und die SZ berichten, beauftragte die Commerzbank eine australische Großkanzlei mit der Ausarbeitung einer Klage gegen die Prüfgesellschaft Ernst & Young (EY). Diese war lange Zeit Abschlussprüfer des insolventen Wirecard-Unternehmens, dem die Bank Darlehen in dreistelliger Millionenhöhe eingeräumt und sich dafür maßgeblich auf die von EY testierte Bilanz verlassen hatte.

Networking: LTO (Pia Lorenz) erläutert die vielfältigen Vorzüge des sogenannten Networkings zwischen Kanzleien, Anwältinnen und Anwälten durch verschiedene eigens dafür gegründete Verbände. So organisieren sich einige Anwalts- oder Kanzlei-Allianzen nach dem jeweiligen Rechtsgebiet oder nach der Sprache der Mandanten und bearbeiten größere Fälle auch mal gemeinsam.  


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lto/ali

(Hinweis für Journalisten

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 18. Februar 2021: . In: Legal Tribune Online, 18.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44295 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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