EGMR zur Meinungsfreiheit: Abt­rei­bungs­gegner darf Ärzte anpran­gern

26.11.2015

Klaus Günter Annen ist Abtreibungsgegner. Deswegen verteilt er Flugblätter und betreibt eine Internetseite, auf der er Ärzte anprangert, die Abtreibungen vornehmen. In Deutschland wurde er deshalb verurteilt - doch der EGMR gibt ihm Recht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Bundesrepublik Deutschland zu einer Geldstrafe wegen Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, Art. 10 EMRK, verurteilt (Beschw. Nr. 3690/10 v. 26.11.2015). Die Beschwerde betraf das von deutschen Gerichten gegen den Abtreibungsgegner Klaus Günter Annen verhängte Verbot, in der Nähe einer Tagesklinik Flugblätter gegen Abtreibung zu verteilen und die Namen der behandelnden Ärzte auf seiner Webseite zu nennen.

Annen hatte die Flugblätter im Juli 2005 u.a. in unmittelbarer Nachbarschaft einer Tagesklinik, die Abtreibungen durchführte, verteilt. Auf der ersten Seite des Faltblattes stand in Fettbuchstaben, dass die Klinik der beiden behandelnden Ärzte, deren vollständige Namen genannt wurden, "rechtswidrige Abtreibungen" durchführe. Darunter wurde in kleinerer Schriftgröße ausgeführt, dass diese vom deutschen Gesetzgeber "erlaubt und nicht unter Strafe" gestellt seien. Die vor der Abtreibung durchzuführende Beratung schütze zwar Arzt und Frau vor Strafverfolgung, jedoch nicht vor ihrer Verantwortung gegenüber Gott.

Die Rückseite des Faltblattes enthielt folgenden Satz: "Die Ermordung der Menschen in Auschwitz war rechtswidrig, aber der moralisch verkommene NS-Staat hatte den Mord an den unschuldigen Menschen erlaubt und nicht unter Strafe gestellt." Das Flugblatt verwies außerdem auf die Webseite des Beschwerdeführers, babycaust.de, die in einer Adressliste von "Abtreibungsärzten" die vollständigen Namen der beiden behandelnden Ärzte der Tagesklinik aufführte.

Deutsche Gerichte nicht korrekt abgewogen

Die deutschen Gerichte verboten Herrn Annen, die Flugblätter mit der Behauptung, dass "rechtswidrige Abtreibungen" in der Klinik stattfinden würden, zu verteilen. Außerdem untersagten sie ihm die Namensnennung der Ärzte auf dem Flugblatt und auf seiner Website. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nahm seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Vor dem EGMR machte der Beschwerdeführer geltend, dass das von den deutschen Gerichten verhängte Verbot der Verbreitung der Flugblätter und der Nennung der Namen der Ärzte auf seiner Webseite sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt habe. Er berief sich auf Artikel 10, die Freiheit der Meinungsäußerung, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).

Der EGMR stellte in dem Verbot eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Die Gerichte hätten das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht korrekt gegen das Persönlichkeitsrecht der Ärzte abgewogen. Durch die Aufmachung des Flugblattes werde zwar zunächst die Aufmerksamkeit auf das fett gedruckte "Rechtswidrige Abtreibungen" gelenkt. Es sei aber durch den nachfolgenden, kleiner gedruckten Satz auch für den Laien erkennbar, dass die Abtreibungen aus juristischer Sicht nicht rechtswidrig seien.

EGMR sieht keinen Nazi-Vergleich

Die namentliche Nennung der Ärzte würde die Argumentation personalisieren und so die Wirksamkeit der Kampagne steigern, die Teil einer höchst kontroversen öffentlichen Debatte sei. Die Richter am EGMR sahen im Gegensatz zu den deutschen Gerichten auch keinen Vergleich der Tätigkeit der Ärzte mit den Gräueltaten der Nazis im Holocaust. Die Aussage sei vielmehr dahingehend auszulegen, dass ein Bewusstsein für die generelle Tatsache geschaffen werden sollte, dass Moral und Gesetz voneinander abweichen können.

Ferner hätten die deutschen Gerichte nicht ausreichend festgestellt, inwiefern die Namensnennung der Ärzte auf babycaust.de überhaupt  das Persönlichkeitsrecht der Ärzte verletzen könnte. So hätten sich die Gerichte weder zum Kontext der Liste auf der Seite, noch zur Auslegung des Wortes "Abtreibungsärzte" Gedanken gemacht. Die Gerichte hätten sich außerdem damit beschäftigen müssen, ob die Ärzte selber öffentlich im Internet auftraten und ob die Namensnennung auf der Liste überhaupt die Wahrscheinlichkeit zu Gewalt oder Aggressionen gegen die Ärzte erhöht hätte.

acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

EGMR zur Meinungsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 26.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17672 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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