BVerfG zu Auslieferung nach Italien: Ver­fas­sung­s­i­den­tität als Grenze des EU-Rechts

26.01.2016

Dürfen deutsche Gerichte Auslieferungen ablehnen, zu denen sie nach EU-Recht verpflichtet sind? Sie müssen sogar, wenn eherne Prinzipien des GG entgegenstehen, so das BVerfG. Der EuGH hatte das in einem ähnlichen Fall anders gesehen.

Der am Dienstag veröffentlichte Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erging auf die gegen eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf erhobene Verfassungsbeschwerde. Das OLG hatte zuvor die Auslieferung eines in Deutschland befindlichen Amerikaners nach Italien bestätigt, von wo aus er per europäischem Haftbefehl gesucht wird.

Der Mann war in Italien wegen Banden- und Drogenkriminalität bereits im Jahr 1992 zu einer 30-jährigen Haftstrafe verurteilt worden; die Entscheidung erging jedoch in seiner Abwesenheit. Erst 2014 wurde er in Deutschland gefunden und festgenommen. Im Verfahren erklärte er, von dem seinerzeit in Italien gegen ihn durchgeführten Strafprozess nicht einmal gewusst zu haben. Seine Beschwerde gegen die bevorstehende Auslieferung blieb vor dem OLG Düsseldorf jedoch ohne Erfolg, denn die Bestimmungen zum europäischen Haftbefehl sehen gerade keine Prüfung der Rechtmäßigkeit der ihm zugrundeliegenden Entscheidung eines anderen Mitgliedsstaates vor; vielmehr gilt insoweit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.

Menschenwürde änderungs- und integrationsfest

Die im italienischen Recht vorgesehene Möglichkeit, Angeklagte in Abwesenheit zu verurteilen, hatte vor zwei Jahren bereits einem Gericht in Spanien bei der Bearbeitung einer Auslieferungsentscheidung Bedenken bereitet. Auf seine Vorlage hin hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch klar zugunsten des europäischen Regelungssystems entschieden: Griffen die im Rahmenbeschluss zu EU-Haftbefehl normierten Ausnahmen nicht, dürften die Gerichte der Mitgliedstaaten keine weitergehenden Ausnahmen auf Grundlage ihrer jeweiligen (Verfassungs-)Rechtsordnung konstruieren.

Das hat das BVerfG nun aber trotzdem getan. Grundsätzlich genieße das Europarecht bei der Prüfung von Hoheitsakten zwar einen Anwendungsvorrang vor dem Grundgesetz (GG). Dies gelte aber nicht mehr, wenn die europäische Rechtslage mit dem unveränderlichen Kern der deutschen Verfassung unvereinbar sei. Zu dieser "Verfassungsidentität", die gem. Artt. 23 Abs. 1 S. 3, 79 Abs. 3 GG auch durch beliebig hohe parlamentarische Mehrheiten nicht zu ändern ist, zählt unter anderem der Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 GG.

Nur unzureichende Rechtsmittel in Italien

Und eben diese sieht das BVerfG durch eine in Abwesenheit des Angeklagten ergangene strafrechtliche Verurteilung verletzt. Denn das Schuldprinzip, wonach Verurteilungen auf Grundlage der individuellen Schuld des Täters ergehen, sei Ausfluss der Menschenwürde. Es gebiete, sich mit der Person des Angeklagten auseinanderzusetzen und ihm die Möglichkeit zur Verteidigung einzuräumen.

Zwar stehe dem Mann in Italien die Möglichkeit offen, Berufung einzulegen. Allerdings habe er substantiiert vorgetragen, dass er nach dortigem Prozessrecht nicht auf eine neuerliche Beweisaufnahme hoffen könne. Die Feststellung des OLG, dass eine Wiederholung der Beweisaufnahme "nicht ausgeschlossen" sei, reiche nicht aus. Wenn damit gerechnet werden müsse, dass das Urteil gegen Beschwerdeführer in Italien auf Grundlage von Feststellungen vollstreckt werde, gegen die er sich zu keinem Zeitpunkt habe verteidigen können, dann müsse eine Auslieferung ungeachtet des Wortlauts des Rahmenbeschlusses zum EU-Haftbefehl unterbleiben (BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015, Az. 2 BvR 2735/14).

cvl/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BVerfG zu Auslieferung nach Italien: . In: Legal Tribune Online, 26.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18277 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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