Ungarn ist seit bald 30 Jahren eine Demokratie, doch viele dortige Richter haben ihre Ausbildung noch unter dem kommunistischen Regime erhalten. Ihre antidemokratische Prägung ist bis heute in der Rechtsprechung zu spüren, so Denes Lazar.
Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Ungarn sind bald 30 Jahre vergangen. Trotz dieser langen Zeitspanne haben heute noch zwölf von 15 ungarischen Verfassungsrichtern ihr Jurastudium vor der Wende abgeschlossen. In den ordentlichen Gerichten sind noch viele alte Richter in leitenden Positionen. Die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hängt von diesen Juristen ab. Dass sie das dafür erforderliche Wissen und die nötige Einstellung haben, muss man bezweifeln.
Ungarn war bis 1989 eine kommunistische Diktatur. Der Staat wurde nach dem Konzept des "demokratischen Zentralismus" organisiert. Es gab keine Gewaltenteilung. Die Volksvertretung war das oberste staatliche Machtorgan, das in der Realität ein Instrument der Partei war. Die Justiz war der Volksvertretung untergeordnet. Sie war keine Instanz für Interessenausgleich, für Streitschlichtung und Rechtsfrieden. Ihre Aufgabe war es, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen. Die Universitäten bildeten Juristen für diese Aufgabe aus. In der sozialistischen Rechtspflege gab es daher keinen Raum für Diskussionen über die Auslegung von Gesetzestexten oder für den Austausch von Meinungen.
Im Wendejahr 1989 wurden in Ungarn die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine unabhängige Justiz zügig geschaffen. Noch vor den ersten freien Wahlen verabschiedete das ungarische Parlament eine umfassende Verfassungsreform. Ziel war "die Förderung des friedlichen Überganges zu einem pluralistischen, demokratischen und einem der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten Rechtstaat". Die Reform trat am 1. Januar 1990 in Kraft. Seitdem haben die ungarischen Richter die auch sonst in der EU üblichen gesetzlichen Privilegien: Unwiderrufliche Ernennung, Freiheit von Weisungen, angemessene Besoldung, persönliche Haftung nur in Ausnahmefällen.
Änderung der Verfassung, aber nicht des Personals
Der Rechtsstaat braucht aber nicht nur gesetzliche Rahmenbedingungen, er spielt sich vor allem auch in den Köpfen ab. Die Veränderung der Rahmenbedingungen allein reicht nicht aus, um die Denk- und Arbeitsweise von Menschen zu verändern. Dieses Problem wurde in Deutschland im Rahmen der Wiedervereinigung erkannt und öffentlich diskutiert. Die übereinstimmende Meinung der Kommentatoren war, das Rechtssystem der DDR und das Rechtsverständnis seiner Richter stünden dem Rechtssystem und Rechtsverständnis einer demokratischen Justiz diametral entgegen. Folgerichtig wurde die überwiegende Mehrheit der DDR-Richter nach der Wiedervereinigung aus dem Staatsdienst entlassen und die Juristenausbildung in den neuen Bundesländern vollständig erneuert.
Genau hier liegt das Problem in Ungarn: Diese personelle Erneuerung ist ausgeblieben. Die Richter und Universitätsprofessoren der Diktatur haben ihre Stellen nach der Wende behalten. Für Ungarn stand keine andere Option zur Verfügung. Es gab keine Möglichkeit, demokratisch ausgebildete und ungarisch sprechende Juristen in den Staatsdienst einzustellen.
Rechtsstaat in Ungarn: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23545 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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