Videoübertragung beim NSU-Prozess: Von Authentizität weit entfernt

von Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart

30.04.2013

2/2: Eine völlig andere Öffentlichkeit, von Authentizität weit entfernt

Aber stünde, abgesehen von diesem Dammbruch, das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) auch der besagten bloßen Videoübertragung entgegen? Die Meinungen darüber sind geteilt. Ob es einen einklagbaren Anspruch auf eine solche Übertragung gibt, das bezweifeln viele, einige halten sie aber jedenfalls für zulässig.

Dabei wäre eine solche Maßnahme ein die Hauptverhandlung ständig begleitender, klarer Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz - mit allen Konsequenzen für die Anfechtbarkeit des späteren Urteils. "Gerichtsöffentlichkeit" besagt ja nicht nur, dass die Türen zum Sitzungssaal für das Publikum, zu dem auch die Journalisten zählen, unverschlossen sind.

Der Gerichtsraum selbst muss darüber hinaus so gestaltet sein, dass er den Zweck der Hauptverhandlung fördert. Dieser besteht in einer Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche, die sich auf die den Angeklagten zur Last gelegten schweren Tatvorwürfe bezieht. Darüber hinaus dürfen die Grundbedingungen der prozessualen Abläufe den Persönlichkeitsrechten der Verfahrensbeteiligten nicht widerstreiten. Die kommunikativen Möglichkeiten müssen vielmehr ihrer Struktur nach auf ein Feststellen und Verhandeln, das heißt auf die Sache der Justiz angelegt sein.

Es darf also keine unpersönliche Massensituation mit unvermeidlichen erheblichen Verfremdungseffekten geschaffen werden. Das aber wäre sofort der Fall, wenn mit technischen Mitteln ein weiterer, anonymer "Sitzungssaal" und damit eine Art – im wahrsten Sinne des Wortes – Parallel-Schauprozess entstünde. Eine Situation also, die zwangsläufig ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterläge.

Ein mit Bildschirmen und Lautsprechern ausgestatteter Ergänzungsraum würde nicht bloß einen graduellen Zugewinn an ohnehin vorhandener Öffentlichkeit bringen, sondern eine neue Qualität für die Hauptverhandlung insgesamt schaffen. Diese optisch-akustische Ausdehnung der räumlichen Gegebenheiten würde den normativen Sinn von Öffentlichkeit elementar verletzen. Es entstünde eine völlig andere Gestalt von Öffentlichkeit als die authentische, die das Gesetz meint und auf die es zählt. Das Öffentlichkeitsprinzip wäre in seinem Kern verletzt, ein absoluter Revisionsgrund gegeben. Die gesamte Verhandlung, hunderte von Verhandlungstagen mit hunderten Beteiligten, müsste wiederholt werden.

Der Inbegriff der Hauptverhandlung und die bedeutungslose Öffentlichkeit

Das BVerfG hat sich in seiner einstweiligen Anordnung zum NSU-Verfahren vom 12. April 2013 (1 BvR 990/13) bemerkenswerterweise auf eine "aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung" geschöpfte Berichterstattung bezogen.

Die Formulierung erinnert an § 261 der Strafprozessordnung. Nach dieser Vorschrift entscheidet das erkennende Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme "nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung". Gericht und Berichterstattung haben sich also beide gleichermaßen unmittelbar am "Inbegriff der Hauptverhandlung" zu orientieren.

Dieser Inbegriff aber lässt sich nicht durch die bloße Schau auf etwas schon Mediatisiertes, Konserviertes, Umgewandeltes gewinnen. Vielmehr muss es für alle um einen identisch und unmittelbar konstituierten Gegenstand gehen. Nur dann, wenn man zum Beispiel seinen Blick während des Prozessgeschehens nach eigenem Gutdünken überall hin schweifen lassen kann und nicht, wie dies für eine Kameraübertragung allenfalls denkbar wäre, in eine Art von Erstarrung fallen muss, vermag man seine ureigenen Einsichten und Interpretationen aus diesem "Inbegriff der Hauptverhandlung" zu gewinnen.

Die Einheit und das Ganze einer Hauptverhandlung, deren nach wie vor schützenswerter Kern, würden also durch eine Videoübertragung nach außerhalb zerstört. Die Verhältnisse, die für den Ergänzungssaal hergestellt würden, liefen auf eine bedeutungslose Öffentlichkeit jenseits des eigentlichen Verhandlungsortes hinaus, die das GVG aus gutem Grund verbietet.

Hauptsache, das Gute gewinnt – ganz egal wie

Auch in Zukunft sollte die nach aktueller Gesetzeslage damit unzulässige Videoübertragung verboten bleiben. Die rechtlichen Bedingungen eines ordnungsgemäß durchgeführten Strafprozesses werden derzeit von mindestens zwei ganz unterschiedlichen Seiten aus bedroht: Zum einen sind subtile rechtsstaatliche Rücksichtnahmen auf die Justizförmigkeit eines Verfahrens manchen von vornherein unwichtig – Hauptsache, das Gute gewinnt im Kampf gegen das Böse, ganz egal wie.

Zum anderen führt  eine fundamentale Schuld- und Strafrechtsskepsis, wie sie nicht selten von Verteidigern und Professoren gepflegt wird,  unter Umständen dazu, dass einem Prozess diverse andere Interessen aufgezwungen, dessen wesentliche Aufgaben aber an den Rand gedrängt oder gar sabotiert werden. Gute Unterhaltung erscheint dann plötzlich wichtiger als eine ohnehin illusionäre Gerechtigkeit.

Eine solche Ökonomisierung und Politisierung des Instituts der Gerichtsöffentlichkeit, das im Zentrum der Aufklärung verankert ist, liefe auf eine inakzeptable radikale Umwertung hinaus. Belange von Gemeinwohl, Gerechtigkeitspflege und Demokratie würden unter der Hand zu partikulären Interessen einer vermeintlich modernen "Öffentlichkeit" mutieren. Solchen Versuchungen sollte kein verantwortlich Handelnder nachgeben. Sonst müsste man, mit den Worten von Jürgen Habermas, eines Tages resignieren und eingestehen: Während sich die Sphäre der (Gerichts-)Öffentlichkeit immer großartiger erweitert, wird ihre Funktion immer kraftloser.

Der Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Alwart lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Zitiervorschlag

Videoübertragung beim NSU-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 30.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8642 (abgerufen am: 14.11.2024 )

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