Vergangenen Donnerstag trafen sich die Bundestagsfraktionen, um über eine Reform des Wahlgesetzes zu beraten. Zu einem Ergebnis kamen sie bisher nicht. Derweil kam der Vorschlag auf, Grundzüge des Wahlrechts in die Verfassung aufzunehmen und dem BVerfG so die Zuständigkeit zu entziehen. Keine schlechte Idee, wobei nicht Karlsruhe der Akteur sei, der diszipliniert werden müsse, meint Sebastian Roßner.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25. Juli 2012, mit dem es das erst 2011 reformierte Bundestagswahlrecht in zentralen Zügen verworfen hatte (Az. 2 BvF 3/11), stieß vergangene Woche auf etwas verspätete Kritik beim gerüffelten Gesetzgeber: So beschwerte sich Günter Krings, der Fraktionsvize von CDU/CSU, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, dass Karlsruhe immer strengere und kompliziertere Vorgaben formuliere, ohne sich über deren Umsetzbarkeit ausreichend Gedanken zu machen. Es sei daher sinnvoll, die Grundzüge des Wahlsystems direkt in das Grundgesetz (GG) aufzunehmen.
Sowohl die Diagnose ("Schuld an der Misere ist das BVerfG.") als auch die vorgeschlagene Therapie ("Das Wahlrecht muss ins Grundgesetz.") lassen aufhorchen. Dabei stößt die Krings'sche Diagnose aber eher auf Unwillen im Auditorium. Denn der Patient Wahlrecht krankt keinesfalls an zu komplizierten und praxisfernen Vorgaben des Verfassungsgerichts, sondern trägt vielmehr schwer an der Nachlässigkeit seiner Schöpfer.
Rufen wir uns die beiden zentralen Gründe in Erinnerung, aus denen der Senat das von den Regierungsfraktionen im Alleingang durchgesetzte Wahlrecht verworfen hat: Eine abgegebene Stimme sollte sich nicht mehr gegen die Partei auswirken, für die der Wähler sie eigentlich abgegeben hatte. Dieses so genannte negative Stimmgewicht wollten die Verfassungsrichter unbedingt vermieden sehen. Außerdem sollten die Anteile gewonnener Wählerstimmen die Sitzanteile der jeweiligen Parteien im Bundestag bestimmen, so genannte Erfolgswertgleichheit der Stimmen.
Abgeordnete an Niederlage in Karlsruhe selbst Schuld
Dies sind völlig rationale und einleuchtende Anforderungen an ein demokratisches Wahlsystem. Beiden Forderungen genügte das jüngst verworfene Wahlrecht aber nicht, denn der Effekt des negativen Stimmgewichts wurde nicht ausgeschlossen und die Möglichkeit ausgleichsloser Überhangmandate blieb bestehen, so dass die Erfolgswertgleichheit der Stimmen erheblich verzerrt werden konnte. Auf diese beiden Fehler des 2011 reformierten Wahlrechts wiesen Stimmen aus Wissenschaft und Politik bereits im Vorfeld der jüngsten Karlsruher Entscheidung hin.
Unüberwindliche Schwierigkeiten stehen einer Remedur nicht entgegen. Eine relativ einfache von verschiedenen möglichen Lösungen wäre es, auf die Wahl nach Landeslisten zu verzichten und stattdessen pro Partei eine einheitliche Bundesliste aufzustellen. Dann entstünden mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum noch Überhangmandate und die vom BVerfG monierten Ursachen für ein negatives Stimmgewicht wären beseitigt.
Allenfalls ein Körnchen Wahrheit steckt in der von Krings geübten Kritik. Die Haltung des Senats zu der politisch brisanten Frage der zulässigen Anzahl von Überhangmandaten ohne Ausgleichsmandate war für den Gesetzgeber kaum vorhersehbar. So hatten die Verfassungsrichter in einem Vorläuferurteil noch angedeutet, dass Überhangmandate bis zu einem der Fraktionsstärke entsprechenden Umfang hinnehmbar seien. Nunmehr zog Karlsruhe die Grenze bereits bei halber Fraktionsstärke. Wenn aber die Abgeordneten der Regierungsfraktionen warnende Stimmen im Vorfeld der Gesetzgebung in den Wind schlagen, hoch pokern und dann verlieren, so haben sie sich dies hauptsächlich selbst zuzuschreiben.
Krings' Vorschlag auch ein Zeichen einsichtiger Selbstkritik
Erweist sich die von Krings gestellte Diagnose somit als weitgehend falsch, ist die von ihm vorgeschlagene Therapie dennoch bedenkenswert. Wahlrechtliche Regelungen beeinflussen in hohem Maße die politischen Machtchancen. So würde sich der Bundestag deutlich anders zusammensetzen, führte der Gesetzgeber beispielsweise ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Vorbild ein. Denn anders als das gegenwärtig geltende, so genannte personalisierte Verhältniswahlrecht, prämiert es die Mehrheitsfähigkeit einer Partei vor Ort im Wahlkreis und würde die Chancen kleiner Parteien ohne Hochburgen mit regionaler Dominanz auf einen Einzug in den Bundestag verringern.
Weil also das Wahlrecht einen starken Einfluss auf zukünftige Mehrheiten hat, sollte es nicht von der gegenwärtigen Regierungsmehrheit zu ihrem Vorteil gestaltet werden. Obwohl das Wahlgesetz als einfaches Gesetz keiner besonderen Mehrheit im Parlament bedarf, war es bis 2011 guter demokratischer Brauch, es nur im Einvernehmen mit der Opposition zu verändern. Einer Parteilichkeit des Wahlgesetzes sollte so vorgebeugt werden.
Würde man den Kern des Wahlrechts ins Grundgesetz schreiben, müssten dafür ebenso wie für künftige Änderungen nach Art. 79 Abs. 2 GG Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat organisiert werden, was ohne Einbeziehung wesentlicher Teile der Opposition nicht möglich wäre. Der Krings'sche Vorstoß läuft insofern darauf hinaus, der zuletzt missachteten parlamentarischen Konvention des Konsens in Sachen Wahlrecht wieder Geltung zu verleihen, und zwar mit dem Druckmittel des Art. 79 Abs. 2 GG. Insofern liegt in diesem Therapievorschlag für das sieche Wahlrecht eventuell auch ein Moment der einsichtigen Selbstkritik.
Als Mittel zur Disziplinierung der Politik
Zu klären bliebe, was die "Grundzüge des Wahlsystems" ausmacht. Wie detailreich soll die Verfassung das Wahlrecht regeln? Möglich und sinnvoll ist es sicherlich, das Wahlsystem als solches zu normieren; also den Gesetzgeber etwa auf das Verhältniswahlrecht festzulegen. Außerdem könnte ein Rahmen für bestimmte, wesentliche Einzelregelungen vorgegeben werden. Sperrklauseln beispielsweise könnten auf eine maximale Höhe von fünf Prozent begrenzt oder die maximal zulässige Abweichung zwischen den Bevölkerungszahlen der einzelnen Wahlkreise festgelegt werden.
Wenig hilfreich wäre es dagegen, notwendige Anpassungen des Wahlrechts, die wie etwa die Einteilung der Wahlkreis eher technischer Natur sind, durch das aufwendige Verfahren der Verfassungsänderung zu erschweren.
Insgesamt ist es daher durchaus erwägenswert, Kernbestimmungen des Wahlrechts in die Verfassung aufzunehmen. Allerdings nicht als Mittel der Disziplinierung des BVerfG, sondern der Politik.
Mit Material von dpa.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Union will Karlsruhe Zuständigkeit wegnehmen: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7203 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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