Die Verfassungsrichter und Art. 5 Grundgesetz: Ver­fas­sungs­richter als "Super­re­vi­si­ons­in­stanz" im Mei­nungs­kampf

von Martin W. Huff

11.08.2016

2/2: Öffentliche Kritik noch Jahre später erlaubt

In einem anderen Verfahren (Az. 1 BvR 3487/14) stärkt das BVerfG die Meinungsfreiheit zudem in zeitlicher Hinsicht. Dort hatte ein ehemaliger Mieter mehrere Jahre nach einer rechtlichen Auseinandersetzung mit seinem früheren Vermieter auf einem Internetportal eine sehr negative Bewertung über diesen abgegeben. Zwar kämpfte der Mieter mit "offenem Visier", indem er seine eigene Identität bei der Bewertung kenntlich machte – dennoch bleibt die Frage, wie viele Jahre später es noch zulässig sein soll, schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit zu waschen. Drei Jahre sind nach Karlsruher Auffassung jedenfalls nicht zu lang, ein „Recht auf Vergessen“ zugunsten desjenigen, der in einer Auseinandersetzung unterlegen oder wie hier verurteilt worden war, gibt es hier nicht. Hier wird dem Bürger sehr viel Freiraum zugestanden, den die Medien bei einer ähnlichen Fallgestaltung nicht hätten; sie hätten über den Fall wohl nicht mehr mit Namensnennung berichten dürfen.

ein "Recht auf Vergessen" auch über reine rechtliche Sachverhalte um die Rückzahlung einer Kaution sind es nicht. In anderen Fällen hätten die Medien und nicht der Betroffene darüber nicht berichten dürfen. Hier werden Ungleichgewichte erkennbar.

Sehr weit gehen die Freiheiten, die das Gericht bei Äußerungen über Gruppen zulässt. Hier gilt das Erfordernis der Abgrenzbarkeit, an dem eine Strafbarkeit insbesondere bei Beleidigungen der Polizei oft scheitert. So fand das BVerfG in zwei Entscheidungen, dass das Zurschaustellen des Slogans "ACAB" (All Cops Are Bastards) bei einem Fußballbeispiel keine Beleidigung der dort anwesenden Bereitschaftspolizisten dargestellt hätte, weil nicht ersichtlich sei, dass mit diesem allgemeinen Werturteil (jedenfalls auch) gerade diese Polizeibeamten gemeint gewesen seien (Az. 1 BvR 257/14 und 2150/14).

Schmähkritik nur noch als seltene Ausnahme

Während jene Beschlüsse im Wesentlichen nur die schon aus der "Soldaten sind Mörder"-Entscheidung bekannten Voraussetzungen bekräftigen, hat das BVerfG in einem weiteren Beschluss (Az. 1 BvR 2646/15) die Grenzen des Sagbaren neu abgesteckt und (bedenklich) erweitert. Auch dort ging es um die Beleidigung eines Beamten, diesmal einer Staatsanwältin, die ein Rechtsanwalt im Gespräch mit einem Journalisten u.a. als "durchgeknallt", "dahergelaufen", "widerwärtig", "boshaft", "dümmlich" und "geisteskrank" bezeichnet hatte.

Hierin sah das BVerfG zwar eine (i.E. wohl strafbare) Meinungsäußerung, aber keine Schmähkritik, bei welcher die Diffamierung der Person im Vordergrund steht und bei deren Annahme eine weitere Abwägung nicht geboten ist. Das ist – gerade mit Blick auf die besondere Stellung des Sprechenden als Rechtsanwalt – schwer nachzuvollziehen, weil Äußerungen dieser Art bisher der klassische Fall der Schmähkritik waren, die in die Integrität der Person eingreift. Die sehr enge Auslegung der Schmähkritik durch die Richter wird den Schutz der Ehre gerade hier aufweichen und für weitere Diskussionen sorgen.

Überschreitet das BVerfG seine Zuständigkeiten?

Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Karlsruher Richter in der Versuchung sind, als Superrevisionsinstanz zu dienen und in eine Einzelfalljudikatur zu verfallen und damit auch einen Anreiz zu setzen, in allen Fällen, in denen man unter Umständen streiten könnte, erneut nach Karlsruhe zu ziehen. Ähnliche Entwicklungen gab es in der Vergangenheit schon gelegentlich, gerade, was Artikel 5 Grundgesetz betraf. Man erinnert sich hier an die 90er Jahre, als es fast so schien, als wollten die  Verfassungsrichter sich jede einzelne Parabolantenne vorknöpfen, um zu prüfen, ob und welche Programme aus der Sicht des Art. 5 GG damit empfangen werden durften und sollten.

So schwer es Betroffenen immer wieder fällt, Entscheidungen zu akzeptieren, gerade wenn es um eine Verurteilung wegen Beleidigung geht: Sind zwei oder drei Instanzen wirklich nicht ausreichend für eine Überprüfung? Muss die Definition des Wortes "Spanner" wie im Verfahren 1 BvR 2732/15 wirklich durch das Bundesverfassungsgericht erfolgen?

Jetzt darf man mit Spannung erwarten, wie die Fachgerichte die Karlsruher Beschlüsse umsetzen und ob sie den Mut haben, gegenüber Karlsruhe im Ergebnis standhaft zu bleiben. Denn alle angegriffenen Entscheidungen waren meines Erachtens nicht eindeutig verfassungswidrig. Es bleibt im Recht der Meinungsäußerung spannend.

Zitiervorschlag

Martin W. Huff, Die Verfassungsrichter und Art. 5 Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 11.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20260 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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