In den 1950er-Jahren konstruierte der BGH eine "objektive Sittenordnung", die bewusst weltfremd sein will. Als oberste Sittenwächter bestraften die Karlsruher Richter eine alleinerziehende Mutter, weil der Verlobte ihrer Tochter in der gemeinsamen Wohnung übernachtet hatte. Martin Rath über Strafsenate im moralischen Größenwahn und die talibanesken Zeiten des deutschen Rechts.
Ganz entfernt erinnern sich deutsche Juristen manchmal, dass ihr höchstes Zivilgericht in seinen Anfängen eine "Naturrechtsrenaissance" durchlebte. Die Richter des Bundesgerichtshofs (BGH) legten sich damals – in den finsteren 1950er-Jahren – eine "objektive Sittenordnung" zurecht, die sie im Zweifel der schlichten Auslegung der Gesetze vorzogen, heißt es.
Gelegentlich wird in humoristischer Absicht das zivilrechtliche Urteil vom 2. November 1966 (Az. IV ZR 239/65) zitiert, das der Ehefrau aufgab, im Bett wenigstens Vergnügen vorzuspielen, sich aufzuopfern, keinen Widerwillen zu zeigen.
Kuppelei – ein vergessenes Delikt
Einen zweifelhaften Höhepunkt in der staatlichen Reglementierung der Geschlechterbeziehungen erreichten die Karlsruher Richter indes auf dem Feld des Strafrechts. Im Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 17. Februar 1954 (Az. GSSt 3/53) nahm sich der BGH den Fall einer Kriegerwitwe vor. Die Mutter von vier Kindern gestattete dem Verlobten ihrer Tochter – zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt und im achten Monat schwanger – in deren Zimmer zu übernachten. In Anwesenheit der 14-jährigen Schwester. Unabhängig davon, dass die Folgen der von Mutter, Richtern und Staatsanwälten missbilligten "Beiwohnung" bereits eingetreten waren, war das Übernachtenlassen Anlass, § 181 Abs. 1 Nr. 2 Strafgesetzbuch zu prüfen. Die Norm lautete in ihrer zwischen dem 14. Juli 1900 und dem 1. April 1970 gültigen Fassung:
"Die Kuppelei ist, selbst wenn sie weder gewohnheitsmäßig noch aus Eigennutz betrieben wird, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu bestrafen, wenn […] der Schuldige zu der verkuppelten Person in dem Verhältnisse des Ehemanns zur Ehefrau, von Eltern zu Kindern, von Vormündern zu Pflegebefohlenen, von Geistlichen, Lehrern oder Erziehern zu den von ihnen zu unterrichtenden oder zu erziehenden Personen steht."
Zudem war auf Verlust der "bürgerlichen Ehrenrechte" zu erkennen und es konnte die polizeiliche Aufsicht angeordnet werden, womit die erziehungstechnisch wohl etwas überforderte "Kriegerwitwe" mit den seinerzeit sittenpolizeilich stark kujonierten Prostituierten auf eine Stufe gestellt war.
Bundesgerichtshof im moralischen Größenwahn
Während sich in der Rechtsprechung der Landes- und Oberlandesgerichte zaghaft andeutete, dass sich die moralischen Auffassungen in der Bevölkerung wandelten und es nicht mehr als stets und zu jeder Zeit unmoralisch empfunden wurde, unverheirateten Menschen Gelegenheit zu bieten, sich sexuell zu betätigen, tadelte der BGH die OLG-Richter scharf. Mit dem Blick auf die Moral der einfachen Leute werde "eine objektiv geltende und verpflichtende Wertordnung verneint und alles auf die wechselnden Meinungen oder Verhaltensweisen wechselnder Volksteile gestellt, die der Richter überdies kaum feststellen kann und von denen er nicht weiß, ob hinter ihnen wirklich eine sittliche Überzeugung steht […]".
Was nun die wahre, ja "objektive" sittliche Ordnung zu sein habe, wussten die BGH-Richter allein und doch ganz genau. Man muss es sich als längeres Zitat auf der Zunge zergehen lassen: "Die sittliche Ordnung will, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist. Um seinetwillen und um der personenhaften Würde und der Verantwortung der Geschlechtspartner willen ist dem Menschen die Einehe als Lebensform gesetzt. Nur in der Ordnung der Ehe und in der Gemeinschaft der Familie kann das Kind gedeihen und sich seiner menschl. Bestimmung gemäß entfalten. Nur in dieser Ordnung und in dieser Gemeinschaft nehmen sich die Geschlechtspartner so ernst, wie sie es sich schulden. Gerade weil die naturhaft nächste Beziehung der Geschlechter so folgenreich und zugleich so verantwortungsgeladen ist, kann sie sich nur in der ehelichen Gemeinschaft zweier einander achtender und einander zur lebenslangen Treue verpflichteter Partner sinnvoll erfüllen."
Außereheliche Kontakte stellten sich damit als Verstoß gegen "ein elementares Gebot geschlechtlicher Zucht" dar, den insbesondere auch Verlobte begehen könnten, weil das Eheversprechen jederzeit noch von einer Seite aufgekündigt werden konnte.
Evolution des Sexualstrafrechts
In seiner 2012 vorgelegten und in diesem Frühjahr publizierten Bonner Dissertationsschrift "Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB" führt Johannes A.J. Brüggemann den Beschluss des Großen Senats als Beispiel für die extensive Auslegung strafrechtlicher Normen in der jungen Bundesrepublik an. Als geschütztes Rechtsgut durfte eine – wie vom BGH außerordentlich vorgeführt – "objektive Sittenordnung" gelten, der gegenüber individuelle Interessen, etwa der Schutz von Geschädigten, nachrangig erschien. Brüggemann zeigt dies anhand von Fällen, in denen subjektive Schäden kaum zu erkennen waren, letztlich aber eine niemand schädigende Triebhaftigkeit der Angeklagten abgeurteilt wurde.
Auf über 600 Seiten stellt Brüggemann die strafrechtshistorische Entwicklung von acht Deliktsgruppen dar: Prostitution sowie Förderung und Ausbeutung sexueller Handlungen Dritter, Homosexualität und Sodomie, sexueller Missbrauch sowie Erschleichung des außerehelichen Beischlafs, sexueller Missbrauch Minderjähriger sowie in Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnissen, Erregung öffentlichen Ärgernisses und Exhibitionismus, Verbreitung pornografischer Schriften sowie pornografischer Darbietungen durch Rundfunk, Medien- oder Telefondienste, schließlich Doppelehe, Ehebruch und Blutschande.
Im Kaiserreich stellte sich, so ein wiederholter und erfrischender Befund, das deutsche Strafrecht als vergleichsweise liberal dar – beeinflusst vom preußischen Vorbild. Im älteren Strafrecht des Großherzogtums Baden beispielsweise konnten unverheiratete Paare noch polizeilich zur Trennung gezwungen werden, während das neue Reichstrafrecht 1871 "nur" noch bei der Strafbarkeit derer ansetzte, die ihnen Gelegenheit zur "Unzucht" boten.
Überhaupt gibt Brüggemann eine unerschöpfliche Zahl von rechts- und mitunter gesellschaftshistorischen Details. Bemerkenswert etwa, dass nicht wenige Feministinnen zu Zeiten von Kaiser Wilhelm II. eine Prostitutionsstrafgesetzgebung forderten, wie sie seit einigen Jahren in Schweden praktiziert wird – Strafbarkeit des "Kunden", nicht der Prostituierten. Vor dem Hintergrund der schier unbeschreiblichen sozialen Notlage während der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung Deutschlands – allein für Berlin nennt Brüggemann eine Zahl von 50.000 betroffenen Frauen – keine ganz fernliegende rechtspolitische Überlegung.
Die Darstellung des Sexualstrafrechts über das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den NS-Staat sowie die jüngere Bundesrepublik bis in die Gegenwart ist – mit ein wenig juristischem Background – eine spannende Lektüre. Brüggemann schließt zudem mit einem rechtsdogmatischen Katalog von Änderungsvorschlägen zum gegenwärtigen Sexualstrafrecht. Bedauerlich ist an dieser Dissertation, von gelegentlichen historischen Zweifeln (so wird etwa die Zahl der Prostituierten im alten Berlin nicht hinterfragt), der hohe Preis: Das broschierte Buch kostet zuchtlose 139 Euro.
Das ist bedauerlich, denn mit einer Abhandlung zum Sexualstrafrecht, historisch wie dogmatisch aufbereitet, sollten insbesondere angehende Juristinnen und Juristen doch in die große Erzählung unseres Rechts hineingelockt werden können – und die beginnt eben nicht 1949 mit dem Grundgesetz, sondern spätestens im Kaiserreich: Die wesentlichen Bestände unseres materiellen und Prozessrechtes wurzeln hier, ihren sozialhistorischen Boden zu kennen, hilft beim Verständnis.
Martin Rath, Kuppelei und Sodomie: . In: Legal Tribune Online, 12.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8700 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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