Leistungsbewertung im Jurastudium

Warum die juris­ti­sche Noten­ge­bung besser ist als ihr Ruf

von Julia MarinitschLesedauer: 6 Minuten
Zu hart, zu unfair, zu intransparent: Die juristische 18-Punkte-Skala wird von Studenten gefürchtet und außerhalb der Branche belächelt. Julia Marinitsch korrigierte knapp 1.000 Klausuren und fand dabei etwas Gutes am System. Ein Plädoyer.

"Neun Punkte von insgesamt 18? Das ist doch nur die Hälfte, warum freust du dich denn so?" So oder so ähnlich hat das wohl jeder deutsche Jurastudent schon einmal gehört. Und wie oft musste man der Familie erklären, dass das eine tolle Note und besser ist, als es sich anhört – in dem Wissen, dass sie es eh niemals richtig verstehen würde? Genauso frustrierend kann es im Klausurenkurs oder Probeexamen werden. Schon wieder nur fünf Punkte. Dabei lernt man nun schon seit einem Jahr, und trotzdem keine Klausur mit Prädikat! Ein Schuldiger ist da schnell gefunden: der Korrektor mit Gottkomplex, der seine schlechte Laune an den Studenten auslässt. Auch der Klausurersteller hat seinen Anteil daran: Wer versteht schon forderungsentkleidete Hypotheken und wie soll man überhaupt in fünf Stunden auch noch die 27. Meinung zum Erlaubnistatbestandsirrtum herbeten? Aber Hauptsache, Bundesrichter Thomas Fischer erklärt, Jura sei leicht. Na danke. Diese oder ähnliche Gedanken hatte wohl beinahe ausnahmslos jeder Examenskandidat. Und fest steht auch: Die juristische Notengebung ist anders. Sie ist härter als in vielen (nicht allen) anderen Fächern. Studenten finden das oft unfair und das Internet scheint ihnen recht zu geben: sei es, dass "scheele Blicke" ernte, wer das begehrte Prädikat nicht mitbringt, oder gar, dass das juristische Benotungssystem unbrauchbar sei. Die traditionelle juristische Notenskala hat aber auch entscheidende Vorteile. Gerade sie gibt die Möglichkeit der Differenzierung, der Anerkennung und – so hart es für den Betreffenden ist – der ehrlichen Einschätzung.

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Bewusstsein schaffen: Sechs Punkte sind keine schlechte Leistung

18 Punkte bekommt keiner, 17 Punkte der liebe Gott und 16 Punkte der Klausurersteller – aber auch nur, wenn es keinen Zweitkorrektor gibt. In diesem geflügelten Wort steckt nicht nur ein Körnchen Wahrheit, wenn man sich die Notenstatistiken ansieht. Die Traumnote "Sehr gut" (16-18 Punkte auf der Skala, 14 oder mehr Punkte im Examensschnitt*) erreichten den aktuellsten Zahlen von 2014 nach nur 22 Kandidaten - von insgesamt 12.028. Der Durchschnitt der einzelnen Examensklausuren liegt in der Regel bei fünf bis sechs Punkten. Das sieht nicht nur auf den ersten Blick nach einem unsagbar harten Benotungssystem aus. Es ist tatsächlich hart. Diese Härte, dieses "zu große" Notenspektrum, gibt in der Bewertung aber eben auch die Möglichkeit der Differenzierung. Der Korrektor hat die Möglichkeit, in seiner Benotung auszudrücken, dass der Kandidat mit neun Punkten eben noch einen Ticken besser war als der mit acht Punkten. Vorab einmal die "Legaldefinition" der beiden Notenstufen, mit der die meisten Teilnehmer das Staatsexamen abschließen: "ausreichend [ist] eine Leistung, die trotz ihrer Mängel den durchschnittlichen Anforderungen noch entspricht" und "befriedigend [ist] eine Leistung, die in jeder Hinsicht durchschnittlichen Anforderungen entspricht". Diese Definitionen macht bereits deutlich: Eine Klausur mit sechs Punkten ist keine schlechte Leistung – sie ist eine Leistung, die durchschnittlichen Anforderungen gerecht wird.

Großkanzleien und Staat schrauben Erwartungen in die Höhe

Das Empfinden, dass die juristische Notengebung zu hart sei, resultiert nicht aus der Note, sondern aus der Erwartungshaltung. Aber nicht nur der aus den eigenen Ansprüchen. Sie liegt auch in den Anforderungen der Großkanzleien und des Staates sowie den Unkenrufen mancher Bewohner des Elfenbeinturms. Zu oft wird den Studenten erzählt, dass nur mit neun Punkten das Juristendasein lebenswert sei. Daran ist aber nicht die Notenskala und die juristische Benotung schuld, sondern die seit Jahren zu beobachtende "Juristenschwemme". Insgesamt 96.296 Studenten der Rechtswissenschaften gab es 2010/2011 an deutschen Universitäten, im selben Jahr nahmen 11.842 Kandidaten an der ersten juristischen Staatsprüfung teil. Die Zahl der freien Stellen passt sich dieser Entwicklung nicht an. Das Angebot der Stellen bestimmt die Anforderungen an die Nachfrage. Die Notengebung kann hierfür letztlich ein entscheidendes Kriterium sein – wenn sie denn hinreichend zwischen unterschiedlichen Leistungsniveaus unterscheidet.

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2/2: Breitgefächerte Notenskala erlaubt Differenzierung

Nun haben Korrektoren den Vorteil, dass juristische Arbeiten auch innerhalb einer Notenstufe differenziert werden können. Wer eine Leistung abliefert, die in jeder Hinsicht den durchschnittlichen Anforderungen gerecht wird und dabei leider die Aspekte auslässt, die seine Arbeit überdurchschnittlich werden lassen, bekommt neun Punkte. Wer vielleicht an zwei Stellen unsauber oder mangelhaft gearbeitet hat, dafür an anderer Stelle überdurchschnittlich argumentiert, kann in der Summe auch noch in jeder Hinsicht den Anforderungen gerecht werden, beispielsweise mit 7 Punkten. Da es nicht einfach ist, in jeder Klausur überdurchschnittlich zu sein, gibt es das begehrte Prädikat "schon" bei einem Durchschnitt von neun Punkten. Liest der Korrektor eine Klausur, in welcher der Bearbeiter gravierende Fehler begeht, die mit dem Gesetz schlicht unvereinbar sind, soll er das Recht haben, ihm nur einen – oder auch gar keinen – Punkt zu geben. Schreibt ein anderer ebenfalls völlig am Sachverhalt vorbei und macht vergleichbare Fehler, zeigt aber, dass er eigentlich juristisch arbeiten kann, möchte er womöglich differenzieren und zwei Punkte vergeben. Liefert ein Teilnehmer eine hervorragende Arbeit ab, bekommt er das "Sehr gut". Wie der Wortlaut "besonders hervorragende Leistung" schon deutlich macht, kommt dieser Fall zwar sehr selten vor. Aber er kommt eben vor und das sollte ein Korrektor entsprechend honorieren können. Mit einer Notenskala von eins bis sechs geht das nicht. Die juristische Notenskala erlaubt eine Differenzierung, die vielen anderen Fächern vorenthalten ist. Das ist ein Vorteil. Es gibt Studiengänge, in denen mit einem Abschluss mit einem Schnitt von unter 1,3 kein Job mehr zu finden ist, und Fachrichtungen, in denen ein  gewaltiger Prozentsatz der Teilnehmer pauschal in den ersten Semestern mit 5,0 für immer ausscheidet. Im ersten Beispiel weiß der potentielle Arbeitgeber regelmäßig nur anhand der Noten nicht, wie gut der Bewerber tatsächlich ist, und muss stattdessen andere Kriterien suchen. Von welcher Uni kommt er, welche Softskills bringt er mit und hat er vielleicht schon Praktika absolviert? Das Ergebnis des juristischen Staatsexamens hingegen lässt in den allermeisten Fällen zumindest einen Rückschluss auf den Umgang mit unbekannten Fällen unter hohem zeitlichen und psychischem Druck zu.

Die bestehende Benotungskultur funktioniert

Man liest und hört vielerorts, die Examensklausuren würden seit Jahrzehnten immer länger und schwerer. Selbst wenn das stimmen sollte: Die Notenverteilung bleibt dennoch weitgehend konstant. Das ist – leider – kein Zeichen dafür, dass die Studenten schlauer oder fleißiger werden. Vielmehr ist es Zeichen einer funktionierenden Benotungskultur. Auch Korrektoren sind nur Menschen. Es gibt gute und schlechte Prüfer, genau wie es Korrektoren gibt, die sich Mühe geben und die (womöglich holprige) Argumentation des Prüflings zu durchdringen versuchen, und diejenigen, die mit der Korrektur von zehn Examensklausuren in zwei Stunden ihr Einkommen aufbessern wollen. Dass die Benotung einer juristischen Klausur in jedem Fall immer ein Stück weit immer subjektiv geprägt bleibt, ist dem Fach geschuldet. Wesentliche Teile der Korrektur sind dennoch objektiv überprüfbar, ein wesentliches Abweichen von Erst- und Zweitkorrektor ist der Ausnahmefall. Viele Beschwerden und Remonstrationen gründen letztlich auf dem persönlichen Gefühl, ungerecht benotet worden zu sein. Dieser Eindruck kann berechtigt sein oder eben nicht. Doch die Wahrscheinlichkeit, in allen Examensklausuren unfair bewertet zu werden, ist gering. Natürlich müssen Klausuren fair und Benotungen transparent sein. Außer Frage steht auch, dass eine gute Korrektur eine Begründung der vergebenen Note erfordert, um dem Prüfling die Möglichkeit zur Weiterentwicklung zu geben. Doch auch der Examenskandidat selbst ist gefordert, den Fehler nicht ausschließlich im System, beim Klausurersteller oder dem Korrektor zu suchen. Ein ehrlicher Umgang mit sich, den eigenen Klausurleistungen während des Studiums und deren Mängeln wird dabei helfen, sich zu verbessern und die Wahrscheinlichkeit subjektiv nicht nachvollziehbarer Bewertungen zu verringern – und vielleicht sogar dabei, sich vom Bild des unfairen Prüfers zu emanzipieren. *Missverständliche Formulierung präzisiert am Tag der Veröffentlichung, 13.05 Uhr. Die Autorin Julia Marinitsch promoviert derzeit an der juristischen Fakultät der Universität Mannheim, ihr fachlicher Schwerpunkt liegt im Wirtschaftsstrafrecht und öffentlichen Wirtschaftsrecht. Als Korrektorin für die Universität und ein Repetitorium bewertete sie zwischenzeitlich knapp 1.000 Klausuren.

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