Die juristische Presseschau vom 13. September 2024: BVerfG bil­ligt Res­i­lienz-Pläne / Neue Kli­maklage beim BVerfG / Pro­zess gegen Nawalny-Ver­tei­diger

13.09.2024

In einer Stellungnahme unterstützt das BVerfG das Vorhaben, BVerfG-Strukturen im Grundgesetz zu verankern. BUND und Co. erheben erneut Klima-Verfassungsbeschwerde. Drei Ex-Verteidiger von Alexej Nawalny stehen in Russland vor Gericht.

Thema des Tages

Resilienz des BVerfG: In einer am gestrigen Donnerstagabend mitgeteilten Stellungnahme akzeptiert das Plenum des Bundesverfassungsgerichts die von Ampel-Fraktionen und CDU/CSU geplanten Grundgesetzänderungen, mit denen Grundstrukturen des BVerfG im Grundgesetz verankert werden sollen. Es habe hierzu "keine Einwendungen". Das BVerfG betont, dass sich "autokratische Bestrebungen auch und gerade gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit als Garantin einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung richten können". Zum umstrittenen Punkt, dass ausgerechnet das Zwei-Drittel-Quorum zur Wahl von Verfassungsrichter:innen nicht ins Grundgesetz aufgenommen werden soll, bezieht das BVerfG explizit keine Position. Es gebe dafür und dagegen gute Argumente. LTO (Marcel Schneider/Markus Sehl) berichtet.

Rechtspolitik

Sicherheitspaket: In der ersten Lesung des von den Ampel-Fraktionen vorgelegten sogenannten "Sicherheitspakets" im Bundestag fanden die beiden Gesetzentwürfe breite Zustimmung in der Regierungsmehrheit. CDU/CSU und AfD forderten dagegen noch schärfere Regelungen. Alle Initiativen werden nun in den Ausschüssen beraten. Gleichzeitig kritisierten das Deutsche Institut für Menschenrechte und der Deutsche Anwaltsverein die Pläne zur Leistungsstreichung für Dublin-Flüchtlnge. Es berichten FAZ (Mona Jaeger), taz (Stefan Reinecke), Welt (Marcel Leubecher), LTO, beck-aktuell, zeit.de und bild.de. Laut einem separaten Beitrag auf beck-aktuell kritisiert der Deutsche Richterbund, dass die FDP Investitionen in die Sicherheitsbehörden blockiert.

Reinhard Müller (FAZ) findet, dass Deutschland "ein Vollzugsproblem" hat und fordert "möglichst frühes" Tätigwerden der Sicherheitsbehörden, "damit das Leben in Freiheit weitergehen kann". Hingegen kritisiert Christian Vooren (zeit.de), dass "schon der Begriff des Maßnahmenpakets zu Migration und Sicherheit suggeriert, dass beides zwingend zusammengehört". Er fordert "Graustufen in Debatten" und meint, es "wäre mutig, Migration als Projekt zu begreifen, das nicht nur aus Problemen besteht".

Asyl/Zurückweisungen an der Grenze: CDU-Chef Friedrich Merz schlug im Bundestag vor, Asylsuchende bereits ab dem 1. Oktober testweise drei Monate lang an der Grenze zurückzuweisen, wie spiegel.de berichtet. Die Grünen wiesen darauf hin, dass Österreich zurückgewiesene Asylsuchende nicht aufnehmen werde.  Im Interview mit der Welt (Christoph Lemmer) argumentiert Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), zurückgewiesene Asylsuchende seien bereits in Österreich und müssten nicht erst aufgenommen werden.

spiegel.de (Jürgen Dahlkamp u.a.) bietet eine Erklärung an, warum allein im Jahr 2023 über 30.000 Ausländer:innen an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden konnten, weil sie keinen Asylantrag stellten. Grund könnte ein Fragebogen der Bundespolizei sein, der als Grund für die Einreise gerade nicht das Stellen eines Asylantrags auflistet und Einreisende damit zu falschen Antworten verleite. 

Stefan Kornelius (SZ) kritisiert, dass die Bundesregierung mit "ihrer innenpolitisch befeuerten Grenzpolitik" "nicht mal den Anschein einer europäischen Koordinierung erweckt".

Automatisierte Datenanalysen: In einem Gastbeitrag auf netzpolitik.org nehmen Corbinian Ruckerbauer und Lilly Goll (vom Thinktank interface) die geplante Regelung automatisierter Datenanaylsen im Sicherheitspaket zum Anlass, darauf aufmerksam zu machen, dass Nachrichtendienste schon seit mindestens 2014 solche  "hochpotenter Datenanalysetools" etwa der US-Firma Palantir nutzen. Sie fordern, die Reform des Nachrichtendienstrechts zu nutzen, um dort eine "verfassungskonforme rechtliche Grundlage der automatisierten Datenanalyse" zu schaffen.

Klimaschutz: Rechtsprofessor Christian Calliess befasst sich auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) mit dem European Green Deal (EGD), einem politischen Konzept, unter dem bislang mehr als 50 konkretisierende legislative Maßnahmen zum Klimaschutz ergriffen wurden. Nun "verschiebt sich der Fokus auf die Umsetzung und Anwendung, bezüglich derer den Mitgliedstaaten die primäre Verantwortlichkeit zukommt". Calliess schlägt vor, durch die Einführung von Nachhaltigkeitsbeauftragten ein besseres Monitoring des EGDs sicherzustellen.

DJT: Im Vorfeld des Ende September in Stuttgart stattfindenden 74. Deutschen Juristentags gibt Rechtsanwalt Tobias Freudenberg auf beck-aktuell einen Überblick über die zu behandelnden Themen.

Justiz

BVerfG – Klimaschutz/KSG: Am Donnerstag reichten vier Privatpersonen gemeinsam mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland und dem Solarenergie-Förderverein Deutschland eine erneute Verfassungsbeschwerde ein, mit der sie feststellen lassen wollen, dass die von der Bundesregierung gesetzten Klimaziele nicht ausreichend sind. Die Beschwerdeführer:innen, die sich auf das Recht auf Leben und Gesundheit und das Gebot der intertemporalen Freiheitssicherung stützen, kritisieren insbesondere die kürzlich erfolgte Reform des Klimaschutzgesetzes, die "die Einhaltung der unzureichenden deutschen Klimaziele noch unwahrscheinlicher" gemacht habe. taz (Clemens Schreiber) und zeit.de berichten.

BGH zur Anrede von nicht-binärer Person: Der Bundesgerichtshof bestätigte die 2022 ergangene zweitinstanzliche Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M., nach der die Deutsche Bahn u.a. zur Entschädigungszahlung verpflichtet wurde, weil Personen bei der Ticketbuchung zwischen der Anrede "Herr" oder "Frau" wählen mussten. Hiergegen ging eine non-binäre Person erfolgreich vor und machte eine Verletzung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes geltend, weil sie durch die Buchung gezwungen wurde, ihre Geschlechtszugehörigkeit falsch anzugeben. beck-aktuell berichtet.

BVerwG zur Jägerprüfung: Einem Mann, der bei der Beantragung der Zulassung zur Jägerprüfung fälschlicherweise angab, es lägen keine Versagungsgründe vor, kann auch nach erfolgreicher Absolvierung der umfangreichen Jagdprüfung die Ausstellung des Jagdscheins versagt werden, wenn er erst nach Abschluss der Prüfung ein Führungszeugnis vorlegt, dem eine Freiheitsstrafe zu entnehmen ist. Das Bundesverwaltungsgericht stellte klar, dass die Länder im Jagdrecht, das Teil der konkurrierenden Gesetzgebung ist, die Zulassungsprüfung durch weitere Voraussetzungen ausformen dürfen. beck-aktuell berichtet.

OLG Dresden zu IS-Terrorist: Die FAZ meldet, dass das Oberlandesgericht Dresden einen 33-jährigen Iraker wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Haftstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilte. Der Mann hatte sich 2013 der Terrormiliz Islamischer Staat angeschlossen und an Kämpfen teilgenommen.

OLG Oldenburg zu Cannabis im Straßenverkehr: Das Oberlandesgericht Oldenburg sprach einen 40-Jährigen, in dessen Blut ein THC-Wert von 1,3 Nanogramm festgestellt wurden, vom Vorwurf des Fahrens unter Cannabiseinflusses frei. Seit dem 22. August gilt ein Grenzwert in Höhe von 3,5 Nanogramm THC pro Milliliter Blut. LTO (Hasso Suliak) stellt das erste seit Inkrafttreten der liberaleren Regelung zu Cannabis im Straßenverkehr ergangene Urteil vor.

OLG Frankfurt/M. zu Pflichtverteidigergebühren: Jochen Zenthöfer berichtet im Archivalia-Blog, dass die Suche nach einem 1922 ergangenen Urteil, für die ein Pflichtverteidiger im "Lübcke-Verfahren" mehrere Tage benötigt haben will, den Rechtsprofessor Roland Schimmel nur wenige Minuten kostete. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt/M., den mit dem hohen Arbeitsaufwand und der Komplexität des Verfahrens begründeten Antrag des Pflichtverteidigers auf eine höhere Pauschgebühr abzulehnen, findet Zenthöfer daher "nachvollziehbar".

LSG NRW zu Postverspätung: Wenn Arbeitgeber:innen zur Beantragung des Kurzarbeitergeldes den Postweg anstelle der Online-Beantragung wählen, haben sie auch das Risiko des verspäteten Postzugangs zu tragen. Zudem habe der Arbeitgeber, der den Antrag am 23. April 2020 verschickte, angesichts der Corona-Pandemie mit Postverzögerungen rechnen müssen. Damit bestätigte das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zweitinstanzlich die Entscheidung der Agentur für Arbeit, das beantragte Kurzarbeitergeld erst ab Mai auszuzahlen, weil der Antrag erst am 2. Mai 2020 bei der Agentur ankam, so LTO.

LG Berlin I – rechtsextreme Anschläge Neukölln: Am Landgericht Berlin I startete der Berufungsprozess gegen zwei Neuköllner Neonazis, denen mindestens 23 Brandanschläge, u.a. gegen den Linken-Politiker Ferat Koçak und den Buchhändler Heinz Ostermann, sowie 50 weitere Straftaten, insbesondere Propagandadelikte, vorgeworfen werden. In der ersten Instanz waren die beiden Angeklagten vom Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen und nur wegen anderer Delikte verurteilt worden. Sowohl die Beschuldigten als auch die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hatten dagegen Berufung eingelegt. Der Strafprozess ist bis zum 28. November terminiert. spiegel.de (Wiebke Ramm) und taz-berlin (Erik Peter) berichten.

LG Nürnberg-Fürth - Masken-Betrug: Am Landgericht Nürnberg-Fürth hat der Strafprozess gegen zwei bayerische Geschäftsmänner wegen Betrugs mit Corona-Masken begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Männern, die sonst mit Autozubehör handelten, vor, sie hätten Corona-Masken aus China beschafft und an das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) sowie an weitere Abnehmer verkauft, obwohl sie wussten, dass etwa die Hälfte der Masken nicht der vereinbarten Qualität entsprach. Dadurch sei ein Schaden in Höhe von rund zwei Millionen Euro entstanden. sz.de und bild.de berichten.

VG Neustadt/W. zu Minischweinen im Wohngebiet: Das Verwaltungsgericht Neustadt/Weinstraße wies die Klage eines Ehepaares gegen das Verbot, Minischweine in ihrem Garten zu halten, ab. Die sogenannten Minischweine, die bis zu 100 Kilogramm schwer werden können, gehören nicht zu überlicherweise in Wohngebieten gehaltenen Kleintieren. Ferner kommt es bei der Schweinehaltung zu Geruchs- und Geräuschbelästigungen, die für ein allgemeines Wohngebiet eher unüblich sind. LTO berichtet.

SG Berlin zu Hochstapler-Psychotherapeut: Vor dem Sozialgericht Berlin konnte ein Hochstapler, der sich fälschlicherweise als Psychotherapeut ausgab, nicht mit seiner Argumentation überzeugen, dass er die Honorare in Höhe von 110.000 Euro deshalb nicht an die Krankenkasse AOK Niedersachsen und die Kassenärztliche Vereinigung zurückzahlen müsse, weil seine Patient:innen mit ihm zufrieden waren und er sich Fachwissen angeeignet habe. Nur approbierte Heilbehandler:innen dürfen ärztliche Leistungen erbringen, so das Gericht. spiegel.de und beck-aktuell berichten.

VG Hamburg – Ex-IZH-Leiter: Nach Informationen von LTO hat der ehemalige Leiter des mittlerweile verbotenen Islamischen Zentrums Hamburg, Mohammad Hadi Mofatteh, Deutschland freiwillig verlassen. Mofattehs gegen die Ausweisung beim Verwaltungsgericht Hamburg gestellter Eilantrag habe sich mit der Ausreise erledigt. Mofatteh galt als Vertreter von Ajatollah Ali Chamenei in Deutschland. 

Recht in der Welt

Russland – Nawalny-Verteidiger: Drei Verteidiger des in russischer Haft verstorbenen Oppositionellen Alexej Nawalny müssen sich vor der russischen Strafjustiz verantworten. In dem nichtöffentlichen Prozess wird ihnen vorgeworfen, einer extremistischen Vereinigung anzugehören. Ihnen drohen mehrjährige Haftstrafen und Berufsverbote, so LTO.

EuG - Sanktionen gegen Russland: Mehrere Oligarch:innen und die russische Wertpapierverwahrstelle scheiterten mit Klagen vor dem Gericht der Europäischen Union. Die Oligarch:innen (u.a. Mikhail Fridman) waren 2022 per Verordnung auf eine EU-Sanktionsliste gesetzt worden. Dadurch habe der EU-Ministerrat seine Kompetenzen jedoch nicht überschritten, entschied nun das EuG. In einem weiteren Urteil entschied das EuG, dass das Einfrieren von Geldern der russischen Wertpapierverwahrstelle nicht das Grundrecht auf Eigentum der eigentlichen Aktieninhaber verletzte. beck-aktuell berichtet.

USA – Harvey Weinstein: Der u.a. wegen Vergewaltigung verurteilte ehemalige Filmproduzent Harvey Weinstein wird sich im November wegen neuen Vorwürfen von Sexualstraftaten verantworten müssen. Die Staatsanwältin hatte bekannt gegeben, dass mehrere Personen bereit seien, gegen Weinstein auszusagen, und will die Anklage kommende Woche verlesen. Weinstein, der sich keiner Schuld bewusst sein will, sitzt derzeit eine Haftstrafe von 23 Jahren ab, wie spiegel.de schreibt.

Frankreich – Regierungsbildung: Die Rechtsprofessorinnen Eleonora Bottini und Nicoletta Perlo beschreiben auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die "erheblichen Veränderungen in Frankreichs verfassungsrechtlicher und politischer Landschaft". Dem historisch auf die "Dominanz des:r Präsident:in ausgerichteten System" wird nun wegen der politischen Zersplitterung des Parlaments eine "Logik des Kompromisses aufgezwungen".

Juristische Ausbildung

Jura-Bachelor: In einem Gastbeitrag auf beck-aktuell verteidigt Rechtsprofessor Roland Schimmel den bereits in mehreren Bundesländern eingeführten integrierten Jura-Bachelor, der "tausenden Studenten das Leben ein kleines bisschen sorgenfreier" mache. Er kritisiert in der Debatte verwendete Begriffe wie "Loser-Bachelor", denen ein "ganz unschöner, leicht darwinistischer Ton" anhaftet, und fordert eine "sprachliche Zivilisierung". Ebenso sei es "volkswirtschaftlich besser, auch bei den Nichtbestehern den Blick auf das Potenzial zu richten".

Sonstiges

Grundrechtsverwirkung von Björn Höcke: Heribert Prantl (SZ) findet es "befremdlich", dass weder Bundestag noch Bundesrat oder eine Landesregierung den Antrag auf Grundrechtsverwirkung von Björn Höcke nach Art. 18 GG beim Bundesverfassungsgericht gestellt haben. Er meint, dass "die Demokratie es nicht aushalten muss", dass gewählte Neonazis "die Hebel der Macht bedienen". Dagegen spreche auch nicht, dass Höcke in den Landtag gewählt wurde, weil "Demokratie als Wertegemeinschaft mehr ist als eine Wahlprozedur".

Fonds für inhaftierte Geflüchtete: Die Menschenrechtsorganisation medico international hat einen Fonds für Bewegungsfreiheit gegründet, der zu Unrecht inhaftierten Geflüchteten Rechtsbeistand und Unterstützung leisten soll. Vor allem in Italien und Griechenland werden Geflüchtete u.a. wegen Schlepperei kriminalisiert und in Verfahren ohne Übersetzung zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die FAZ (Hannah Wilholt) berichtet.

 

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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/lh/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 13. September 2024: . In: Legal Tribune Online, 13.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55398 (abgerufen am: 27.09.2024 )

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