Abschaffung der Grundmandatsklausel im neuen Bundestagswahlrecht ist verfassungswidrig. Pflichtteilsverzicht der Adoptivkinder des Drogerie-Unternehmers Müller ist wirksam. US-Präsident Biden will Amtszeiten am Supreme Court beschränken.
Thema des Tages
BVerfG zum Bundestags-Wahlrecht: Das neue Bundestags-Wahlrecht ist teilweise verfassungswidrig. In einer kurzzeitig auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts abrufbaren schriftlichen Fassung des Urteils, das eigentlich erst am heutigen Dienstag um 10 Uhr verkündet werden soll, erklärt das BVerfG die Abschaffung der Grundmandatsklausel unter Beibehaltung der Fünf-Prozent-Hürde für unvereinbar mit dem Grundgesetz und ordnet an, dass sie bis zu einer Neuregelung weiter gelten soll. Die Deckelung der Direktmandate auf eine den Parteien nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zustehende Mandatszahl bemängelte das BVerfG hingegen nicht. spiegel.de (Dietmar Hipp) liegt das geleakte Urteil vor; eine Nachfrage beim BVerfG zur Authentizität blieb unbeantwortet. Es berichtet außerdem LTO (Markus Sehl).
Die im März 2023 von der Ampel-Koalition beschlossene Reform des Bundestagswahlrechts sah vor, dass der Bundestag durch die Abschaffung der Überhang- und Ausgleichsmandate und durch den Wegfall der Grundmandateklausel verkleinert werden soll. Im Vorfeld des geleakten Urteils erläuterten SZ (Wolfgang Janisch), Hbl (Dietmar Neuerer) und spiegel.de (Sophie Garbe/Dietmar Hipp) im Frage-Antwort-Format das bis dahin geltende Wahlrecht, die Beweggründe der Kläger:innen und die mögliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. LTO (Christian Rath) prognostizierte das nun bekannt gewordene Ergebnis.
Rechtspolitik
Landtagsmitarbeiter:innen Bayern: Laut einem Gutachten des Rechtsprofessors Tristan Barczak, das die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) in Auftrag gegeben hatte, könnte man Gehalts-Zahlungen an Extremist:innen durch entsprechende Gesetzesänderungen "zurückhalten, einfrieren oder zurückfordern". Eine Streichung der Gehälter könnte derzeit vier AfD-Mitarbeitende im bayerischen Landtag betreffen, die unter anderem in der rechtsextremen Burschenschaft Danubia München aktiv sind. Die Grundlinien des Gutachtens lassen sich laut Barczak "für alle Länder und den Bund generalisieren", allerdings seien die rechtlichen Hürden relativ hoch. Es berichten SZ (Andreas Glas) und bild.de (Wolfgang Ranft).
Sexuelle Orientierung im Grundgesetz: Die CSU/CDU-Bundestagsfraktion hält den Vorschlag der Ampel-Koalition für unnötig, die sexuelle Orientierung in die Liste der Diskriminierungsverbote gem. Artikel 3 Abs. 3 GG aufzunehmen. Unions-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei (CDU) erklärte, queere Personen seien bereits ausreichend geschützt, so spiegel.de.
Ehegattensplitting: Henrike Roßbach (SZ) stellt klar, dass die Ampelkoalition mit der geplanten Steuerklassenreform das Ehegattensplitting nicht abschafft, sondern aus dieser Reform lediglich psychologische Effekte folgen. Die Autorin fordert dagegen die komplette Abschaffung des "Steuerrelikts, das nicht mehr in die gesellschaftliche Gegenwart passt". Für ihre finanzielle Unabhängigkeit brauchen Frauen eine "eigene Karriere jenseits von Minijob und Mini-Teilzeit".
Antisemitismus: Der ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordnete Jerzy Montag kritisiert in einem Gastbeitrag auf zeit.de die geplante Antisemitismus-Resolution des Bundestages scharf. Menschen mit muslimischem Hintergrund "für den ansteigenden Antisemitismus verantwortlich zu machen, ist eine unzulässige Verallgemeinerung mit Anklängen zum Rassismus". Außerdem setze der "Text einseitig auf Abgrenzung, Kontrolle und Misstrauen" statt auf "Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements."
Steuerrecht und Demokratie: In einem Gastbeitrag in der FAZ erläutert Rechtsprofessor Gregor Kirchhof, warum Deutschland nach seiner Ansicht an einem "steuerlichen Demokratiedefizit" leidet. Steuern sollen eigentlich "die Gestaltungsfreiheit und den Entscheidungsraum des Parlaments und damit die Demokratie garantieren". An dieser "demokratischen Unmittelbarkeit" fehle es in Deutschland jedoch weitestgehend, weil Bundestag und Landtage über keine "wesentliche alleinige Steuerquelle" verfügen. Zudem führe die deutsche Steuervielfalt zu viel vermeidbarer Bürokratie, was ebenfalls die Demokratie schwäche.
Justiz
LG Ulm zu Müller-Erbe: Das Landgericht Ulm wies die Klage von drei Adoptivkindern des Drogeriemarkt-Unternehmers Erwin Müller zurück, mit der sie die Feststellung der Nichtigkeit einer Klausel begehrten, in der sie auf ihren erbrechtlichen Pflichtteil in Höhe von insgesamt 500 Millionen Euro verzichteten. Den Kläger:innen fehlte weder bei der Unterzeichnung des Adoptionsvertrags Einsicht über die Tragweite des Verzichts noch befanden sie sich in einer emotionalen Zwangslage. Sofern sich eine Finanzierung findet, wollen die Adoptivkinder Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen. Es berichten SZ (Michael Kläsgen/Klaus Ott), FAZ (Benjamin Wagener), Hbl (Anja Müller u.a.), LTO, spiegel.de (Maria Marquart), beck-aktuell und bild.de (Nicole Richter/Tanja May).
EuGH zum Mandatsgeheimnis: Die EU durfte 2018 in einer Richtlinie Meldepflichten für alle einführen, die an "aggressiven, grenzüberschreitenden Steuerplanungen" beteiligt sind. Nur Rechtsanwält:innen können mit Blick auf das Mandatsgeheimnis in den nationalen Umsetzungsgesetzen von den Meldepflichten ausgenommen werden. Die entsprechenden Vorschriften der Richtlinie sind nicht auf andere beratende Berufe wie Steuerberater:innen übertragbar. Dies entschied der Europäische Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren aus Belgien. Rechtsanwalt Martin W. Huff stellt das Urteil auf beck-aktuell dar und sieht darin das anwaltliche Mandatsgeheimnis gestärkt.
EuGH zu Pauschalreisen/Insolvenz: Der Europäische Gerichtshof entschied, dass die nach der EU-Richtlinie für Pauschalreisen erforderliche Absicherung Pauschalreisender vor der Insolvenz eines Reiseunternehmens auch dann greift, wenn die Reisenden aufgrund unvermeidbarer und außergewöhnlicher Umstände von der Reise zurücktreten und der Reiseveranstalter nach diesem Rücktritt insolvent wird. In dem zugrundeliegenden Fall forderten Reisende aus Österreich und Belgien von den Versicherern der Reiseunternehmen die Erstattung der gezahlten Kosten für Reisen, die sie pandemiebedingt nicht antreten konnten. FAZ, beck-aktuell und zeit.de berichten.
BVerwG – Compact-Verbot/Überwachung: Nach Informationen der SZ (Ronen Steinke) wird das Bundesverwaltungsgericht, bei dem die Compact-Magazin GmbH bereits Eilantrag und Klage gegen das Verbot einreichte, auch über die monatelange Überwachung der journalistischen Redaktion durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) entscheiden. Auf Grundlage des G-10-Gesetzes durfte die zehnköpfige, vom Bundestag gewählte G-10-Kommission dem BfV nur dann eine Zustimmung zur Überwachung erteilen, wenn eine extremistische Gruppe verdächtig ist, in schwere politische Straftaten verwickelt zu sein oder solche zu planen. Ein erster Antrag des BfV wurde mangels Anhaltspunkten für eine reale Vorbereitung von Gewalttaten abgelehnt, erst der zweite, nachgeschärfte Antrag war erfolgreich.
OVG NRW zu Verdachtsfall AfD: Laut beck-aktuell und zeit.de legte die AfD bereits am 4. Juli Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gegen die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster ein, die die Einstufung der Bundes-AfD und der Jungen Alternative als rechtsextremen Verdachtsfall durch das Bundesamt für Verfassungsschutz bestätigte. Bis Anfang September muss die AfD die Begründung nachreichen, auf Grundlage derer das OVG die Nichtzulassung überprüft.
OLG Düsseldorf zu AGB/Werbeschreiben: Ein Unternehmen genügt seiner Informationspflicht über anwendbare AGB nicht, wenn es in einem Werbeschreiben lediglich auf im Internet abrufbare AGB verweist. Anders als bei Fernsehwerbung hätte das betreffende Unternehmen den Werbeschreiben problemlos eine ausgedruckte Version der AGB beifügen können, wie das Oberlandesgericht Düsseldorf argumentierte. beck-aktuell berichtet.
LAG BaWü zum Kündigungszugang: Im Expertenforum Arbeitsrecht setzt sich Rechtsanwältin Stephanie Bäurle mit dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg aus dem Dezember 2023 auseinander, wonach der Post-Einlieferungsbeleg und der Sendestatus eines Einwurf-Einschreibens nicht genügen, um den Zugang einer Kündigung zu beweisen. Erst ein von der Zusteller:in unterzeichneter Auslieferungsbeleg kann als Anscheinsbeweis für den Zugang der Erklärung fungieren.
LG Hamburg zu Rammstein-Podcast: Nachdem der NDR-Podcast "Rammstein – Row Zero" bereits wegen Urheberrechtsverletzungen nicht mehr abrufbar war, untersagt das Landgericht Hamburg nun die Veröffentlichung der zweiten Podcast-Folge, weil dort der Verdacht erweckt wird, Rammstein-Sänger Till Lindemann habe sexuelle Handlungen an einer bewusstlosen Frau vorgenommen. Dies verletze Lindemanns Persönlichkeitsrechte. Verfahren zu weiteren Podcastfolgen sind noch anhängig. Laut FAZ (Michael Hanfeld) prüft der NDR Rechtsmittel.
VG Trier zu autohandelndem Polizisten: Das Verwaltungsgericht Trier hat einen Polizisten aus dem Beamtenverhältnis entlassen, der im Rahmen einer nicht genehmigten Nebentätigkeit als Autohändler seine Gehorsams- und Hingabepflicht verletzte. Der Mann hatte als Autohändler teils Jahresumsätze in Millionenhöhe erzielt und dabei teilweise seine dienstliche Stellung und Telefonnummer genutzt. Die jahrelange "vollständige innere Loslösung aus seiner beamtenrechtlichen Pflichtenstellung" rechtfertige die Entlassung. LTO berichtet.
LG Dessau – Reichsbürger Peter Fitzek: Vor dem Landgericht Dessau hat das zweitinstanzliche Strafverfahren gegen den Reichsbürger Peter Fitzek begonnen, der sich selbst als "König von Deutschland" bezeichnet. Das Amtsgericht Wittenberg hatte ihn 2023 wegen Körperverletzung und Beleidigung zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt, weil er in einer Führerscheinstelle eine Security-Mitarbeiterin verletzt hatte. Vor Gericht will Fitzek nicht aussagen; er beruft sich auf seine Immunität als Staatsoberhaupt. bild.de (Thilo Scholtyseck) berichtet.
Strafverfahren/Gruppe Reuß: Nach Informationen von beck-aktuell und zeit.de laufen derzeit fast fünfzig Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder der Gruppe Reuß, die einen gewaltsamen Umsturz plante. Strafprozesse wegen der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens sind derzeit an den OLGs in München, Frankfurt/M. und Stuttgart anhängig.
Digitale Verfassungsbeschwerde: Ab dem 1. August können Verfassungsbeschwerden beim Bundesverfassungsgericht auch digital mit einer qualifizierten elektronischen Signatur oder signiert auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden. Für Bürger:innen ist der elektronische Rechtsverkehr freiwillig, für Rechtsanwält:innen und Behörden hingegen verpflichtend. LTO und beck-aktuell berichten.
Recht in der Welt
USA – Supreme Court: US-Präsident Joe Biden stellte seine Pläne zur Reform des US-Supreme Courts vor. Konkret plant Biden eine Begrenzung der Amtszeit der Richter:innen, einen verbindlichen durchsetzbaren Verhaltenskodex sowie einen neuen Verfassungszusatz zur Immunität von (ehemaligen) Präsident:innen, der klarstellt, dass "kein Präsident über dem Gesetz steht". Angesichts fehlender Mehrheiten und hoher Hürden für Verfassungsänderungen ist es eher unwahrscheinlich, dass es zur Umsetzung der Vorschläge kommt. LTO und spiegel.de berichten.
Israel – Holocaust-Trauma und Verfassung: Der Rechtsprofessor Barak Medina analysiert auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) inwieweit das israelische Verfassungsrecht vom Trauma des Holocaust und des daraus resultierenden "kollektiven Bewusstseins" der "verheerenden Folgen von Antisemitismus" beeinflusst ist. So wurde beispielsweise das Konzept der "intoleranten Demokratie", mit dem das Oberste Gericht Israels das Verbot einer politischen Partei trotz fehlender gesetzlicher Grundlage legitimierte, durch die Erfahrungen der Weimarer Republik "inspiriert". Allerdings, so der ehemalige Richter am Obersten Gericht Aharon Barak, müsse die Demokratie auch "schmerzhafte" Äußerungen aushalten können: Bei der Meinungsfreiheit gehe es auch um "Toleranz denen gegenüber, mit denen wir vehement nicht einverstanden sind".
Sonstiges
Vertragsschluss durch Computer : LTO (Markus Sehl) schildert die Ergebnisse eines in Frankfurt/M. unter Leitung eines Rechtsinformatikprofessors durchgeführten Planspiels, bei dem unter Beteiligung echter Richter:innen und Anwält:innen der fiktive Fall des Vertragsschlusses zweier KI-Computer verhandelt wurde. Das fiktive Gericht kam unter anderem zu dem Schluss, dass es sich bei der Speicherung des Smart Contracts per Blockchain-Technologie um ein zuverlässiges Beweismittel handelt.
Elektronisches Vorverfahren: beck-aktuell (Denise Dahmen) befasst sich mit dem Abschlussbericht von Richter:innen und Anwält:innen, die das elektronische Vorverfahren mit einem sogenannten digitalen Basisdokument in einem Reallabor ein Jahr lang testeten. Das Basisdokument soll die Schriftsätze ersetzen und den Prozessstoff bündeln.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/lh/chr
(Hinweis für Journalist:innen)
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Die juristische Presseschau vom 30. Juli 2024: . In: Legal Tribune Online, 30.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55101 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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