Die juristische Presseschau vom 27. bis 29. Juli 2024: Wahl­recht­s­ur­teil am Dienstag / BGH ver­han­delt über KZ-Sek­re­tärin / Ver­fas­sungs­schutz und "Stolz­monat"

29.07.2024

Am Dienstag verkündet das BVerfG seine Entscheidung zum Bundestagswahlrecht. Am Mittwoch verhandelt der BGH über die Revision einer Sekretärin des KZ Stutthof. Durfte der Verfassungsschutz vor dem rechtsextremistischen "Stolzmonat" warnen?


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Thema des Tages

BVerfG - Bundestags-Wahlrecht: Das Bundesverfassungsgericht will am morgigen Dienstag seine Entscheidung zum neuen Bundestagswahlrecht verkünden. Die Neuregelung, die der Bundestag 2023 verabschiedet hatte, soll zu einer Verkleinerung des Parlamentes führen. Mit der Reform wurden die Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft, so dass eine Partei nur noch so viele Sitze im Bundestag bekommt, wie ihr nach Zweitstimmenergebnis zustehen. Außerdem wurde die Grundmandateklausel gestrichen. Gegen diese Reform hatten in Karlsruhe die CSU geklagte, ebenso das Land Bayern, die Unionsabgeordneten im Bundestag, die Linkspartei und Tausende Bürger:innen, die der Verein “Mehr Demokratie” koordinierte. In der mündlichen Verhandlung im April zeichnete sich ab, dass das Bundesverfassungsgericht wohl den ersatzlosen Wegfall der Grundmandateklausel rügen wird. Der Kern der Reform, der Wegfall von Überhang- und Ausgleichsmandaten, werde dagegen wohl Bestand haben.  Es berichten Mo-FAZ (Marlene Grunert) und Mo-taz (Christian Rath)

Rechtspolitik

Resilienz des BVerfG:  Die Mo-FAZ (Marlene Grunert) schildert die vielfache Kritik daran, dass die Wahl der Verfassungsrichter:innen mit Zwei-Drittel-Mehrheit nicht im Grundgesetz festgeschrieben werden soll. Union und FDP wollen darauf verzichten, weil es unwahrscheinlich sei, dass die AfD eine absolute Mehrheit im Bundestag erreiche, dass aber die Blockade durch eine AfD-Sperrminorität notfalls durch Absenkung des Wahlquorums auflösbar sein müsse. Die Sa-taz (Christian Rath) bescheibt die Verfassungsänderung ebenfalls als "halbherzig". Immerhin verhindere die grundgesetzliche Verankerung anderer BVerfG-Strukturen eine schnelle Übernahme des BVerfG. 

Bürokratieabbau: Für die Sa-FAZ befasst sich der Rechtsprofessor und rheinland-pfälzische Landesverfassungsrichter Meinrad Dreher mit dem von der Bundesregierung versprochenen Bürokratieabbau. Das Versprechen könne nicht eingelöst werden, solange (wie bei EU-Richtlinien zu umweltbezogenen Aussagen) neue Berichtspflichten eingeführt werden. Nötig wäre stattdessen, für selbstverantwortliches unternehmerisches Nachhaltigkeitshandeln einzutreten. 

Antisemitismus: Über die anhaltende Debatte um eine Antisemitismus-Resolution im Bundestag berichtet die Sa-SZ (Ronen Steinke). Von Einigkeit sei man dabei offenbar weit entfernt. Umstritten ist insbesondere ein "Antisemitismus-Check" für Kultureinrichtungen oder wissenschaftliche Institutionen, die öffentliche Gelder erhalten wollen. Das wäre ein politischer Einschnitt, so der Autor, denn es würde bedeuten, dass eine neue Struktur zur Kontrolle geschaffen werden müsste.

Justiz

BGH – KZ-Sekretärin Stutthof: An diesem Mittwoch verhandelt der Bundesgerichtshof über die Revision einer heute 99-jährigen früheren Sekretärin des KZ Stutthof. Das Landgericht Itzehoe hatte gegen die Frau Ende 2022 wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und in 5 Fällen des versuchten Mordes eine Jugendstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verhängt. Im Kern gehe es in Leipzig um die Frage, ob eine Zivilangestellte, eine bloße Schreibkraft, Beihilfe zum Mord begangen haben könne, schreibt der Spiegel (Julia Jüttner) in seiner ausführlichen Darstellung.

BGH zu Einbruchswerkzeugen: Auch wenn ein Einbrecher Hammer und Meißel nur für den Einbruch einsetzt, begeht er nach Ansicht des Bundesgerichtshofes dennoch einen qualifizierten Einbruch gem § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB, weil er gefährliche Werkzeuge mit sich führt. Ob er beabsichtigt habe, sie gegen eventuelle Widersacher einzusetzen, sei für diese Einordnung irrelevant, so das Gericht laut beck-aktuell.

OLG Köln zu Nachzahlungspflicht bei Flugbuchungen: Die Lufthansa darf sich in ihren AGB nicht pauschal vorbehalten, den Flugpreis nachträglich zu erhöhen, wenn Kunden die gebuchten Flüge nicht vollständig oder nicht in der gebuchten Reihenfolge antreten. Das hat das OLG Köln laut beck-aktuell entschieden und dabei darauf verwiesen, dass ein Flug manchmal auch unfreiwillig nicht angetreten wird.

OLG Hamburg zu Remigrations-Treffen: Hamburg hat dem NDR im Eilverfahren auf Klage des Verfassungsrechtlers und AfD-Anwalts Ulrich Vosgerau bestimmte Äußerungen über das Remigrations-Treffen von Potsdam untersagt. Konkret wurde tagesschau.de verboten, in Bezug auf die Teilnahme Vosgeraus zu berichten, dass auf dem Treffen auch eine Ausbürgerung von deutschen Staatsbürgern diskutiert worden sei. Dies sei nicht erwiesen. LTO (Max Kolter/Felix W. Zimmermann) berichtet. 

KG Berlin zu ADS vs. Nius: Der Entscheidung des Kammergerichtes in der Auseinandersetzung zwischen dem Nius-Chefredakteur Julian Reichelt und der Antidiskriminierungsstelle des Bundes widmet sich jetzt auch die Sa-FAZ (Michael Hanfeld) im Medienteil. Das Kammergericht hatte eine sofortige Beschwerde zurückgewiesen, mit der die ADS gegen Aussagen des Mediums Nius im Zusammenhang mit der Diskriminierung einer Transfrau durch ein Frauen-Fitnessstudio vorgehen wollte. Im konkreten Kontext seien Reichelts Formulierungen von der Meinungsfreiheit gedeckt, so das Gericht. 

OVG NRW zu subsidiärem Schutz für Syrer:innen: Das Politik- und Medienecho auf die Mitteilung des Oberverwaltungsgerichtes NRW über seine Entscheidung zur Sicherheitslage in Syrien stehe in keinem Verhältnis zum tatsächlichem Inhalt des Urteils, meinen der wissenschaftliche Mitarbeiter Valentin Feneberg und Rechtsreferendar Paul Pettersson im Verfassungsblog. Da für den Kläger bereits vom BAMF ein Abschiebeverbot festgestellt worden sei, sei es in der OVG-Entscheidung zu keinem Zeitpunkt darum gegangen, ob er nach Syrien abgeschoben werden könne. Das Gericht habe auch grundsätzlich nichts Neues zur Bewertung der Bürgerkriegsgefahr festgestellt. Neu sei dagegen die Annahme des OVG, dass Wehrdienstflüchtige bei ihrer Rückkehr nicht mit Menschenrechtsverletzungen zu rechnen haben, wobei es sich nur auf eine sehr dünne Tatsachengrundlage stütze und die bessere Tatsachengrundlage des Auswärtigen Amts ignoriere. 

OVG NRW zu Impfpflicht in der Grundschule: Abweichend von einer Entscheidung des Bayerischen VGH vom Anfang des Jahres hat das Oberverwaltungsgericht NRW jetzt in einer Eil-Entscheidung beschlossen, dass Eltern von schulpflichtigen Kindern grundsätzlich eine Masernimpfung ihres Kindes nachweisen müssen. Das OVG begründete seine Entscheidung insbesondere mit dem hohen Infektionsrisiko für Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen sowie mit der Gefährlichkeit der Masernerkrankung. Der Infektionsschutz durch die Nachweispflicht rechtfertige den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Kinder und in das Erziehungsrecht der Eltern. LTO (Kevin Japalak) berichtet.

LG Augsburg zu Mord durch Sportschützen: Im Sommer 2023 hatte ein Sportschütze zwei Nachbarinnen und einen Nachbarn getötet und wurde deshalb jetzt vom Landgericht Augsburg wegen Morden und darüber hinaus wegen versuchten Mordes an zwei weiteren Personen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Hintergrund der Bluttat waren laut spiegel.de jahrelange Streitigkeiten. Der 65 Jahre alte Angeklagte hatte die zwei Frauen und den Mann mit Kopfschüssen innerhalb von nur 16 Sekunden getötet. 

LG Düsseldorf zu Facebook-Sperre für "Filmwerkstatt": Obwohl das Kartellrecht nicht für die Überwachung der Content Moderation großer Digitalplattformen und der Durchsetzung der Grundrechte ausgelegt ist, wie die wissenschaftliche Mitarbeiterin Elisabeth Wondracek im Verfassungsblog betont, hatte das Landgericht Düsseldorf Mitte April bei einer Auseinandersetzung um die Sperrung einer Facebook-Seite auch eine "kartellrechtliche Relevanz" gesehen. Das Urteil zeige, dass das Kartellrecht, insbesondere das Missbrauchsverbot gem. § 19 GWB, im Lichte der Grundrechte auszulegen sei, schreibt die Autorin in ihrer Analyse. Als Durchsetzungshebel sei das Kartellrecht dafür attraktiv, nicht zuletzt, da die großen Digitalkonzerne durchaus als Gefahr für den Wettbewerb erkannt würden.

VG Halle zu Compact-Sommerfest: Nachdem in der vergangenen Woche das Bundesinnenministerium das rechtsextreme Magazin Compact verboten hat, hat das Verwaltungsgericht Halle jetzt auch das Verbot eines “Sommerfests für die Pressefreiheit” bestätigt. Es handele sich um eine Ersatzveranstaltung für das vom Verlag geplante Sommerfest. spiegel.de berichtet. 

AG Duisburg zu Hochstapler: Zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren hat das Amtsgericht Duisburg einen Hochstapler verurteilt, der jahrelang auch die NRW-Landesregierung in Islamfragen beraten hatte. Das Gericht war überzeugt, dass er Urkunden gefälscht, betrogen und unbefugt akademische Titel genutzt hat. Wie der Angeklagte weitgehend eingestand, hatte er als vermeintlicher Professor und Doktor Karriere im NRW-Schulministerium und in der Wissenschaft gemacht – dabei hatte er tatsächlich keinen einzigen Abschluss an der Hochschule bestanden. Es berichten Sa-FAZ (Reiner Burger), beck-aktuell und LTO

Wirecard: Die Mo-SZ (Stephan Radomsky) gibt einen Überblick über die juristische Aufarbeitung des Wirecard-Skandals, die in "drei Strängen" erfolgt: Zum einen durch die Strafverfahren gegen Ex-Konzernboss Markus Braun und zwei Mitangeklagte, zweitens durch das von Insolvenzverwalter Michael Jaffé geführte Insolvenzverfahren und drittens durch die Klagen von Tausenden früherer Wirecard-Aktionär:innen, die Entschädigung für ihre Verluste verlangen.

Recht in der Welt

IGH/Israel – Besatzung palästinensischer Gebiete: Alexander Haneke (Sa-FAZ) kritisiert im Leitartikel, dass der IGH in seinem Gutachten die Sicherheitsinteressen Israels nicht ausreichend berücksichtigt habe. Statt anzunehmen, dass Israel sein Besatzungsrecht durch den Annektionsversuch verwirkt habe, wäre es fair gewesen anzuerkennen, dass Israel Gefahren gegenüberstehe, die einen bestimmten Grad an Kontrolle über die besetzten Gebiete weiter rechtfertigten. So hätten es auch drei IGH-Richter:innen in einer abweichenden Meinung geschrieben. Israel könne sein Recht auf Selbstverteidigung sonst kaum noch ausüben.

Krise der Rechtstaatlichkeit: Mit politischen und gesellschaftlichen Angriffen auf die Institutionen der Justiz in vielen Ländern befasst sich Rechtsprofessorin Marta Cartabia im Verfassungsblog (in englischer Sprache) und erläutert, warum in Europa eine Zusammenarbeit zwischen nationalen Gerichten untereinander und mit supranationalen Gerichten auch die nationalen Rechtssysteme stärkt. Im Vergleich zu anderen Regionen seien sie in einer stärkeren Position, denn sie profitierten von der Unterstützung eines robusten Netzwerks von Akteuren, die sich alle für die Verteidigung derselben europäischen Werte einsetzen.

USA – Obdachlosencamps: Nachdem der US-Supreme Court vor einem Monat Gesetze für verfassungsgemäß erklärt hatte, die Obdachlosen das Kampieren im Freien verbieten, hat Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom die Auflösung von Obdachlosencamps in dem US-Bundesstaat angeordnet. Wie spiegel.de berichtet, sind die lokalen Behörden aber nicht verpflichtet dem zu folgen. Während San Franciscos Bürgermeisterin London Breed ankündigte, ab August "sehr aggressiv und bestimmt bei der Verlegung von Lagern vorgehen" zu wollen, verurteilte die Bürgermeisterin von Los Angeles Karen Bass die Entscheidung des US-Supreme Courts und erklärte, diese erlaube "die Kriminalisierung von Menschen, die im Freien schlafen, wenn sie keinen anderen sicheren Ort haben, an den sie gehen können".

Juristische Ausbildung

Jura-Bachelor: Der Spiegel (Sheila Ananda Dierks) erläutert die Debatte um einen in das Jurastudium integrierten Bachelorabschluss, der Abhilfe für das bisherige "Alles-oder-nichts"-System bringen könnte und ein Anfang sein könnte, die Ausbildung attraktiver zu gestalten.

Sonstiges

Warnung vor "Stolzmonat": Der Verfassungsschutz durfte mit Kurzfilmen in sozialen Netzwerken vor dem "Stolzmonat", einem von Rechtsextremist:innen benutzten Begriff, warnen, erläutern Rechtsprofessor Markus Ogorek und Luca Manns, Geschäftsführer der Forschungsstelle Nachrichtendienste, auf LTO. Die Autoren weisen darauf hin, dass der Verfassungsschutz nicht erst bei Verhaltensweisen tätig werden kann, die die Grenzen des Strafrechts überschreiten. Denn die wehrhafte Demokratie solle gerade auch "den Missbrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten zur Abschaffung der Freiheit verhindern“.

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Wie die Mo-SZ (Karoline Meta Beisel) berichtet, ist das Interesse an einer Änderung des Geschlechtseintrages nach dem bevorstehenden Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes groß. Allein in München hätten bereits etwa 100 Personen konkret nach dem Antragsformular gefragt. 

Untersuchungshaft: Nachdem in den vergangenen Wochen in mehreren Fällen gegen Tatverdächtige mit Migrationshintergrund trotz des Verdachtes schwerer Straftaten keine Untersuchungshaft angeordnet wurde und das zu einer öffentlichen Diskussion geführt hatte, erläutert Rechtsprofessor Michael Kubiciel gegenüber welt.de (Sebastian Beug), warum die gesetzlichen Voraussetzungen in der Praxis seltener vorliegen als allgemein angenommen. Weniger bekannt seien Fälle, in denen Tatverdächtige zu Unrecht in Untersuchungshaft säßen. "Nach meiner Einschätzung werden Haftbefehle eher zu häufig oder zu unbedarft unterschrieben“, sagt Kubiciel und verweist auf die Betäubungsmittel- und die Wirtschaftskriminalität.

Trunkenheitsfahrt auf E-Scooter: Nachdem bekanntgeworden war, dass der Brandenburgische CDU-Landesvorsitzende Jan Redmann wohl mit 1,3 Promille Atemalkohol auf einem E-Roller gefahren ist, beleuchtet Ex-Bundesrichter Thomas Fischer in seiner spiegel.de-Kolumne kritisch die skandalisierende Medienberichterstattung. Der eigentliche Skandal könnte einmal mehr in einem Geheimnisverrat öffentlich Bediensteter an Medienvertreter bestehen, meint Fischer. 

 

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LTO/pf/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 27. bis 29. Juli 2024: . In: Legal Tribune Online, 29.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55087 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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