Durch ihren uniformierten Auftritt bei der CDU könnte Claudia Pechstein gegen Beamtenrecht verstoßen haben. Der BGH weist die Revision Alfons Schuhbecks ab. Wer ist strafrechtlich verantwortlich für den Tod hunderter Geflüchteter?
Thema des Tages
Neutralität und Mäßigung/Pechstein: Durch ihren uniformierten Auftritt auf einem CDU-Konvent, bei dem sie sich u.a. für die Abschiebung abgelehnter Asylantragsteller und für traditionelle Familienbilder aussprach, könnte die Bundespolizistin und Eisschnellläuferin Claudia Pechstein gegen das in § 60 Beamtengesetz kodifizierte Neutralitäts- und Mäßigungsgebot verstoßen haben. Ein ausdrückliches gesetzliches Verbot des Tragens von Uniformen bei politischen Veranstaltungen, wie für Soldat:innen in § 15 Soldatengesetz festgelegt, gibt es zwar für Bundespolizist:innen nicht. Auch muss, so das Bundesverwaltungsgericht 2012, der Meinungsfreiheit von Beamt:innen ausreichend Beachtung geschenkt werden. Allerdings muss "klar zwischen dem Amt und der Teilnahme am politischen Meinungskampf" getrennt werden. Nach Spiegel-Informationen verbietet eine Polizeidienstvorschrift "bei politischen Veranstaltungen" das Tragen von Dienstkleidung. Es berichten SZ (Christoph Koopmann), FAZ (Stephan Klenner/Peter Carstens), Welt (Nikolaus Doll), spiegel.de (Jürgen Dahlkamp/Henrik Bahlmann) und bild.de (Josef Forster/Burkhard Uhlenbroich).
In einem separaten Kommentar fordert Christoph Koopmann (SZ), dass Beamt:innen in ihrem Auftreten klar zwischen "persönlicher Haltung und dienstlich erforderter Überparteilichkeit" trennen müssen. "Der Staat sollte für alle da sein, egal, welche politische Einstellung, welche Herkunft, welche Religion oder welche sexuelle Orientierung." Reinhard Müller (FAZ) gesteht zwar ein, dass es "grenzwertig ist, in Uniform auf einer Parteiveranstaltung politische Statements abzugeben". Jedoch hebt Müller positiv hervor, dass Pechstein "in Zeiten, in denen es in der Politik als schick gilt, der Polizei strukturellen Rassismus zu unterstellen," stolz zu ihrer Polizeiuniform stehe.
Rechtspolitik
Schwarzfahren: Der Rechtsausschuss des Bundestages hörte Sachverständige zu einem Gesetzentwurf der Linksfraktion, der die Entkriminalisierung des Fahrens ohne gültigen Fahrschein vorsieht, derzeit strafbar als Leistungserschleichung nach § 265a StGB. Nur die BGH-Richterin Angelika Allgayer sprach sich für die Beibehaltung der aktuellen Rechtslage aus. Jana Zapf vom Deutschen Richterbund plädierte für eine Einschränkung von § 265a auf die Überwindung von Barrieren wie Drehkreuzen. BGH-Richter Andreas Mosbacher plädierte für eine Umwidmung des Straftatbestands zur Ordnungswidrigkeit, weil die völlige Sanktionslosigkeit von Schwarzfahren "das Risiko berge, dass die Tat als rechtlich nicht missbilligt wahrgenommen" werde. Nach Ansicht von Rechtsprofessor Roland Hefendehl reicht hingegen das erhöhte Beförderungsentgelt aus. Der Freiheitsfonds hat bereits 835 Schwarzfahrer:innen aus der Ersatzfreiheitsstrafe befreit. Es berichten RND (Christian Rath) und LTO.
Verantwortungseigentum: Verschiedene Wirtschaftsverbände sprachen sich am Montag in einem gemeinsamen Positionspapier für die Einführung einer neuen Rechtsform, der Gesellschaft mit gebundenem Vermögen (GmgV), aus. Die GmgV soll keine Gewinne an Gesellschafter:innen ausschütten, sondern die Gewinne nur reinvestieren oder gemeinnützig spenden können. Das Bundesjustizministerium arbeitet bereits seit längerem an einer Reform. Es berichten SZ (Lea Hampel), FAZ (Corinna Budras), Hbl (Heike Anger) und taz (Svenja Bergt).
Bundespolizei/Racial Profiling: Juniorprofessor Alexander Tischbirek analysiert auf dem Verfassungsblog den Mitte Mai veröffentlichten Referentenentwurf des Bundesinnenministeriums zur Reform des Bundespolizeigesetzes (BPolG) in Hinblick auf die kritisierte Praxis des Racial Profiling. Zwar erkenne der Entwurf die Problematik des Racial Profiling an, allerdings versäume er es, den "konturenlosen Eingriffstatbestand" des bisherigen § 22 Abs. 1a BPolG, der zu Personenkontrollen ermächtigt, zu schärfen. "Irreführend" sei zudem der in der vorgeschlagen Änderung enthaltene Verweis auf Art. 3 Grundgesetz, weil die Bundespolizei ohnehin unmittelbar an Grundrechte gebunden sei.
KI/Arbeitswelt: Im Interview mit spiegel.de (Markus Becker/Michael Sauga) spricht EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit über den kürzlich im EU-Parlament behandelten Entwurf einer Verordnung zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz (KI). Die KI-Verordnung "beschäftigt sich hauptsächlich mit technologischen Risiken, nicht mit Arbeitnehmerrechten." Eine EU-Richtlinie zur Stärkung der Rechte von Beschäftigten bei Digitalplattformen, die über den Einsatz von Überwachungssystemen informieren und die KI von bestimmten Entscheidungsprozessen ausschließen soll, befinde sich indes bereits in Vorbereitung.
Justiz
BGH zu Alfons Schuhbeck: Der Bundesgerichtshof wies die Revision des Promikochs Alfons Schubeck weitestgehend ab und bestätigte das im Oktober 2022 wegen Steuerhinterziehung ergangene Urteil des Landgerichts München I. Lediglich zu Aspekten der Vermögensabschöpfung müsse neu verhandelt werden, da "nicht sämtliche Informationen zur Berechnung der Einkommensteuerschulden des Angeklagten festgestellt waren." Schuhbeck muss nun die Haftstrafe von drei Jahren und zwei Monaten antreten. Es berichten SZ (Klaus Ott), FAZ (Marcus Jung), LTO, spiegel.de, zeit.de, focus.de und bild.de (Tanja May u.a.).
BVerfG – Strafgefangenen-Entlohnung: zeit.de (Timo Stukenberg) stellt die vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerden zweier Gefangener vor, die in der niedrigen Entlohnung für Gefangenenarbeit in Höhe von ein bis drei Euro pro Stunde eine Verletzung ihrer Grundrechte sehen. Gemäß Art. 12 Abs. 3 GG ist die Zwangsarbeit in Gefängnissen grundsätzlich möglich. Während die Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit damit begründen, dass die niedrigen Löhne nicht zu ihrer Resozialisierung beitragen, bezeichne das bayrische Justizministerium höhere Löhne als "resozialisierungsfeindlich". Das Urteil wird am heutigen Dienstag verkündet.
DG des Bundes zu BFH-Richterin/Dienstverweigerung: Das Dienstgericht des Bundes, ein Spezialsenat des Bundesgerichtshofs, beendete nun auf Disziplinarklage des Bundesjustizministeriums das Richterverhältnis einer Richterin am Bundesfinanzhof wegen jahrelanger "vorsätzlicher, ungerechtfertigter und schuldhaft verweigerter Dienstpflichten". Seit September 2019 habe die – nun ehemalige – BFH-Richterin "keinerlei richterliche Amtsgeschäfte mehr verrichtet", weil sie mit der veränderten Jahresgeschäftsverteilung nicht einverstanden war und sich selbst als Opfer einer Kampagne gegen sich selbst sah. Die FAZ (Katja Gelinsky) erläutert die Urteilsbegründung.
BFH zu doppelter Haushaltsführung: Der Bundesfinanzhof konkretisierte in einem Verfahren zur Minderung der Einkommenssteuer, unter welchen Voraussetzungen die Kosten der doppelten Haushaltsführung wegen eines zweiten Wohnsitzes vom Finanzamt einkommensmindernd anerkannt werden müssen. Die Einkommenssteuer ist dann zu mindern, wenn sich die Steuerpflichtigen finanziell ausreichend an den Kosten des Hauptwohnsitzes – dieser kann auch im Elternhaus sein – beteiligen. Die Feststellung der ausreichenden finanziellen Beteiligung erfolge einzelfallbasiert, wobei jedenfalls eine Bagatellgrenze von zehn Prozent der geleisteten Aurwendungen pro Jahr überschritten werden muss, wie das Hbl (Martina Schäfer) die Urteilsbegründung wiedergibt.
OLG Düsseldorf – Schnellladestellen/Vergabe: Im vergaberechtlichen Streit um Schnellladestellen an Autobahnen hat das Oberlandesgericht Düsseldorf dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zur Auslegung der EU-Richtlinie über die Vergabe öffentlicher Aufträge vorgelegt. In dem zugrundeliegenden Verfahren hatte eine Anbieterin von Schnellladestationen Beschwerde beim Vergabesenat des OLG Düsseldorf eingelegt, weil das Bundesverkehrsministerium mit dem ehemalig staatseigenen und nun privatisierten Unternehmen Tank & Rast den Ausbau von Ladestellen vereinbarte, ohne ein öffentliches Vergabeverfahren durchzuführen, so LTO (Antonetta Stephany).
VG Berlin zu Richterbesoldung: Das Verwaltungsgericht Berlin entschied, dass die Besoldung von Richter:innen nicht nur zwischen 2009 und 2015, sondern auch in den Jahren 2016 und 2017 zu niedrig und damit verfassungswidrig war. Die "evident unzureichende" Höhe der Besoldung stellte das VG Berlin anhand von Anhaltspunkten fest, die das Bundesverfassungsgericht festgelegt hatte. Das VG Berlin hat dem BVerfG nun eine konkrete Normenkontrolle in dieser Sache vorgelegt, wie LTO schreibt.
VG Arnsberg zu religiösen Feiertagen: Gläubige Hindus in Hamm können sich vorerst von der Arbeit befreien lassen, um an einem Tempelfest teilzunehmen, so das Verwaltungsgericht Arnsberg in einem Eilverfahren. Im Hauptverfahren hatte die Hinduistische Gemeinde in Deutschland Anfechtungsklage gegen die behördliche Rücknahme eines zuvor durch den ehemaligen Regierungspräsidenten erlassenen Feststellungsbescheid erhoben, der das ganze Tempelfest zum religiösen Feiertag im Sinne des Feiertagesgesetzes NRW erklärte. Das VG Arnsberg stellte jetzt darauf ab, dass nicht klar sei, ob die handelnde Behörde überhaupt sachlich zuständig sei, so LTO (Tanja Podolski).
ArbG Elmshorn zu sexistischem Witz: beck-community (Christian Rolfs) stellt das Urteil des Arbeitsgerichts Elmshorn vom 26. April vor, wonach der sexistische Witz eines Arbeitnehmers seine fristlose Kündigung rechtfertigen kann. Nach Ansicht des ArbG Elmshorn können auch "unerwünschte Bemerkungen sexuellen Inhalts eine sexuelle Belästigung" darstellen, wenn dadurch eine Verletzung der Würde der betroffenen Person bezweckt oder erreicht wird.
LG Nürnberg-Fürth – Maskenbetrug: Das Landgericht Nürnberg-Fürth ließ eine Anklage gegen zwei Männer wegen Maskenbetrugs größtenteils mangels hinreichendem Tatverdacht nicht zu, weil es unter anderem den Betrugsvorsatz für nicht nachweisbar erachtete. Die beiden Männer hatten 2020 etwa 2,5 Millionen Masken verkauft, von denen laut Staatsanwaltschaft rund die Hälfte nicht den Qualitätsstandards entsprachen. Lediglich gegen einen der beiden Männer eröffnete das LG Nürnberg-Fürth wegen Urkundenfälschung das Hauptverfahren, wie die SZ berichtet.
LG Gießen – Mord an Ayleen: Am dritten Verhandlungstag vor dem Landgericht Gießen rekonstruierte eine Kriminalbeamtin die letzten Stunden der Schülerin vor ihrer Tötung. Der 30-jährige Angeklagte habe von Ayleen Nacktfotos gefordert, sie bedrängt und sie mit der Ermordung ihres Vaters bedroht. spiegel.de (Julia Jüttner) schildert ausführlich die Ereignisse.
Cum-Ex-Strafprozesse: Marcus Jung (FAZ) fordert im Wirtschafts-Leitartikel, dass Bundesbehörden und Länder eine umfassende Aufklärung der Cum-Ex-Geschäfte vorantreiben, indem sie "in die dringend notwendige Verbesserung der Strukturen" der Strafverfolgung investieren. Jung zufolge müssten vor allem IT-Fachkräfte ausgebildet werden, die die staatsanwaltlichen Ermittlungen und die gerichtliche Beweisführung unterstützen können.
Recht in der Welt
Griechenland – Pylos-Bootsunglück: Angesichts des Untergangs eines stark überfüllten Schiffes und des Todes von mindestens 500 Geflüchteten im Mittelmeer fordert die SZ (Ronen Steinke) im Feuilleton unabhängige Ermittlungen gegen die griechische Küstenwache. Berichten zufolge hat die griechische Küstenwache, entgegen eigener Aussage, das manövrierunfähige Schiff bereits lange vor seinem Untergang gesichtet und soll sogar versucht haben, es aus der griechischen Such- und Rettungszone heraus nach Italien abzuschleppen. Damit könnten sich die Beamt:innen der griechischen Küstenwache der unterlassenen Hilfeleistung strafbar gemacht und die in Artikel 98 der Seerechtskonvention kodifizierte Rettungspflicht verletzt haben, deren Einhaltung Griechenland sicherstellen muss. Beim Untergang des Schiffes handle es sich nicht um ein "Unglück, sondern um Unrecht", das strafrechtlich aufgearbeitet werden muss.
Auf dem Verfassungsblog analysieren Rechtsprofessor Itamar Mann und Doktorandin Niamh Keady-Tabbal (in englischer Sprache) die völkerrechtliche Verantwortlichkeit Griechenlands nach der Seerechtskonvention. Mann und Keady-Tabbal kritisieren, dass das aktuelle Recht "maritime legal black holes" geschaffen hat, indem Staaten die Autorität zugestanden wird, selbst zu entscheiden, welche Flugkörper in ihrem Territorium sein dürfen. Griechenland mache oft von diesem Recht Gebrauch und fordere Frontex auf, seine Flugkörper aus dem griechischen Luftraum wegzufliegen, um so einer Verantwortlichkeit zu entgehen. Auch Mann und Keady-Tabbal sprechen sich für strafrechtliche Ermittlungen aus und monieren die generelle Politik der Europäischen Union, Geflüchtete von der Einreise in die EU abzuhalten.
Russland – Alexej Nawalny: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny, der derzeit eine neunjährige Haftstrafe in einem Straflager absitzt, steht erneut vor Gericht. In dem aktuellen Verfahren wird ihm unter anderem vorgeworfen, zu Extremismus aufgerufen zu haben. Das neue Verfahren, das direkt im Straflager durchgeführt wird, könnte mit einer bis zu 30-jährigen Haftstrafe enden. Es berichten SZ (Silke Bigalke), FAZ (Friedrich Schmidt), taz, Welt, spiegel.de, zeit.de und focus.de.
Afghanistan – Gender-Apartheid: Der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in Afghanistan Richard Bennet bezeichnete die "schwerwiegende, systematische und institutionalisierte Diskriminierung gegen Frauen" als "Gender-Apartheid". Da Gender-Apartheid im Völkerrecht nicht als Verbrechen eingestuft ist, fordert Bennet den UN-Menschenrechtsrat zu einer Studie auf, wie die taz meldet.
Australien – Aborigines/Mitsprache: Der australische Senat verabschiedete am Montag ein Gesetz, das den Weg für ein Referendum zur Einrichtung einer "indigenen Stimme zum Parlament" ebnet. Die "indigene Stimme“ soll das Parlament und die Regierung in Fragen beraten, die direkte Auswirkungen auf die Ureinwohner haben. Voraussichtlich im Oktober sollen die Australier:innen darüber abstimmen können, so FAZ (Till Fähnders) und spiegel.de (Felix Keßler).
Sonstiges
Sexuelle Selbstbestimmung am Arbeitsplatz: Anlässlich des Inkrafttretens des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt am 31. Mai, durch das das 190. Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert wurde, erläutern Rechtsanwältin Elena Heimann und Coach Dana Hardt im Expertenforum Arbeitsrecht den arbeitsrechtlichen Rahmen bezüglich sexueller Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz.
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LTO/lh/chr
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Die juristische Presseschau vom 20. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 20.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52034 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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