Das OLG Dresden verurteilte Lina E. zu einer Haftstrafe von über fünf Jahren. Der Entwurf des geplanten Selbstbestimmungsgesetz steht in der Kritik. Leiharbeiter dürfen laut Bundesarbeitsgericht schlechter bezahlt werden als die Stammbelegschaft.
Thema des Tages
OLG Dresden zu militanter Antifa/Lina E.: In dem seit September 2021 laufenden Prozess gegen die Gruppe um Lina E. hat das Oberlandesgericht Dresden nun das Urteil verkündet. Die 28-jährige Lina E. wurde unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die mitangeklagten Lennart A., Jannis R. und Philip M. erhielten Freiheitsstrafen von zwei Jahren und fünf Monaten bis zu drei Jahren und drei Monaten unter anderem wegen Mitgliedschaft bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung. Das OLG entschied zudem, dass die rechtsextremistischen Opfer der Angriffe, von denen zwei mittlerweile selbst wegen Bildung einer kriminellen rechtsextremistischen Vereinigung im Fokus der Bundesanwaltschaft stehen, Schmerzensgeld in vierstelliger Höhe bekommen sollen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Lina E. und die Mitangeklagten zwischen 2018 und 2020 mehrere Angriffe auf Neonazis oder mutmaßliche Anhänger der rechten Szene in Leipzig, Wurzen und Eisenach begangen haben. Ein Kronzeuge hatte die Gruppe belastet. Das OLG blieb aber unter der Forderung der Bundesanwaltschaft, die unter anderem für Lina E. acht Jahre Haft gefordert hatte. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. E. befindet sich seit November 2020 in Untersuchungshaft. Nun wurde der Haftbefehl gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, bis das Urteil rechtskräftig ist. Unterstützer der Gruppe protestierten im Gerichtssaal gegen das Urteil. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte, dass man Extremismus nicht mit Extremismus bekämpfen dürfe. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und der Verfassungsschutz sehen eine zunehmende Gefahr durch linksextreme Gewalttäter:innen. SZ (Iris Mayer), FAZ (Stefan Locke), taz (Konrad Litschko), LTO, zdf.de (Laura Kress), spiegel.de (Wiebke Ramm) und zeit.de berichten.
In Ronen Steinke (SZ) weckt das Urteil gemischte Gefühle: Zwar hält er das Strafmaß für vertretbar, gleichzeitig konstatiert er, dass Sachsens Ermittler nicht mit gleicher Härte gegen rechtsextremistische Gruppierungen vorgehen. Für Reinhard Müller (FAZ) ist der Rechtsextremismus in Sachsen "ohne Zweifel ein großes Problem". Der Linksextremismus sei aber "was Gewaltbereitschaft und Vorgehensweise angeht, die größere Herausforderung". Anne Hähnig (zeit.de) meint, das Urteil beweise, dass sich innerhalb der linksextremen Szene Kleingruppen gebildet hätten, die sich "offenbar als eine Art selbst ernanntes Sondereinsatzkommando begreifen". Konrad Litschko (taz) weist darauf hin, dass bis zum Schluss kein Opfer oder Zeuge die vermummten Angreifer erkennen konnte und sich Bundesanwaltschaft und Gericht nur auf Indizien stützten. Es sei offenkundig, dass hier ein Exempel gegen die militante autonome Szene statuiert werden sollte. Der Satz "Im Zweifel für die Angeklagten" habe nicht gegolten.
Rechtspolitik
Geschlechtliche Selbstbestimmung: Nun fasst auch die taz (Nicole Opitz) die kritischen Stellungnahmen von Betroffenenverbänden und vom Queer-Beauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann (Grüne), zum Referentenentwurf des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes zusammen.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Lea Rabe kritisiert auf dem Verfassungsblog, dass bislang in erster Linie Freiheitsaspekte der "Selbstbestimmung" besprochen wurden, während Fragen der Gleichheit und des Schutz vor Diskriminierung vernachlässig wurden. Bedenklich seien zudem die Vorschriften des Referentenentwurfs, die nicht-binäre Personen von positiven Maßnahmen ausnehmen.
Cannabis: Wie die FAZ (Reiner Burger) schreibt, haben sowohl Bayern als auch Nordrhein-Westfalen angekündigt, sich grundsätzlich gegen die Zulassung von Modellvorhaben für den staatlich lizenzierten Cannabis-Handel auszusprechen. Die Ampelkoalition werde nun prüfen, ob die Mitsprache der Länder bei der Gesetzgebung für die Modellversuche notwendig sei oder zumindest minimiert werden könne.
Daniel Deckers (FAZ) hält die Legalisierungspläne für "europa- wie völkerrechtlich fragwürdig" und rät der Bundesregierung – für den Fall, dass sie damit dennoch Erfolg haben wird – sich "den gesunden Menschenverstand von der Liberalisierungslyrik nicht vernebeln" zu lassen. Mit jedem neuen Fachgeschäft müsse die Suchtprävention intensiviert sowie die Zahl an Einrichtungen für ambulante und stationäre Rehabilitation erhöht werden.
Lieferketten und Menschenrechte: Am heutigen Donnerstag soll im EU-Parlament über die Lieferketten-Richtlinie abgestimmt werden. Nun berichten auch FAZ (Hendrik Kafsack/Manfred Schäfers) und taz (Eric Bonse) über die Kritik der CDU/CSU-Gruppe.
Hendrik Kafsack (FAZ) hält den Ansatz, Unternehmen die Verantwortung für das soziale Wohl und den Schutz der Umwelt weltweit aufzubürden, für falsch. Unternehmen seien "nicht der verlängerte Arm der Politik, um europäische Wertmaßstäbe entlang der gesamten Lieferkette durchzusetzen". Das späte Nein der Christdemokrat:innen bezeichnet er dennoch als "heikel" – schließlich seien CDU und CSU an dem Kompromiss, den sie nun ablehnen, beteiligt gewesen.
Einheitspatent: Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet vertieft über die Einführung des europäischen Einheitspatents zum 1. Juni. Dem dazugehörigen Gerichtssystem gehören 85 Richter:innen an, darunter 27 aus Deutschland. Klaus Grabinski, bisher Richter am Bundesgerichtshof, wird Präsident der Berufungsinstanz des Einheitlichen Patentgerichts mit Sitz in Luxemburg und wird das Einheitliche Patentgericht als Ganzes vertreten.
Justiz
BAG zu Equal Pay für Leiharbeiter: Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass Leiharbeiter:innen ein geringeres Gehalt gezahlt werden darf als der Stammbelegschaft. Der vom Europäischen Gerichtshof geforderte gleichwertige Gesamtschutz sei in Deutschland dadurch erfüllt, dass Leiharbeiter:innen einen gesetzlichen Anspruch auf Fortzahlung von Entgelt in einsatzfreien Zeiten haben. FAZ (Katja Gelinsky), Wolfgang Janisch (SZ), BadZ (Christian Rath) und LTO berichten.
BVerfG – Schuldenbremse/2. Nachtragshaushalt: Am 21. Juni verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsmäßigkeit des 2. Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 und damit auch über die Anwendung der Notfallklausel, die eine Ausnahme von der grundgesetzlichen Schuldenbremse vorsieht. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages Hans-Günter Henneke fordert in der FAZ das BVerfG auf, die Schuldenbremse justiziabel zu machen. Er erinnert an die Entscheidung des Gerichts von 2007, mit der die Schaffung einer Schuldenbremse im Grundgesetz gefordert worden war.
BGH zu beA-Pflichten: Mit Beschluss von Januar hat der Bundesgerichtshof im Falle einer versäumten Berufungsfrist klargestellt, dass Anwälte ihre Schriftsätze genau überprüfen müssen, bevor sie diese über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) verschicken. Sie dürfen dabei auch nicht auf ihr gut geschultes Personal vertrauen. Im zugrundeliegenden Fall war ein Berufungsschriftsatz versehentlich an das erstinstanzliche Gericht adressiert worden. Das Argument, Landgericht und Oberlandesgericht hätten eine gemeinsame zentrale Eingangsstelle und der Versand per beA dürfe nicht anders behandelt werden als ein postalisches Schriftstück, ließ der BGH laut LTO nicht gelten. Das Landgericht sei kein Erfüllungsgehilfe des Anwalts zur Wahrung der Rechtsmittelfrist.
BAG zum Annahmeverzug des Arbeitgebers: Rechtsanwalt Artur Kühnel schildert im Expertenforum Arbeitsrecht anhand mehrerer Urteile des Bundesarbeitsgerichts den Wandel der Rechtsprechung zur Anrechnung böswillig unterlassenen Verdienstes beim Annahmeverzug. Seit ein paar Jahren erlange der Einwand böswilligen Unterlassens mehr Praxisrelevanz. Insofern habe sich das "Gleichgewicht der Kräfte" ein wenig verschoben. Das BAG sei erkennbar um einen Ausgleich der beiderseitigen schutzwürdigen Interessen bemüht.
OLG Frankfurt/M. zu medizinischer Gemeinschaftspraxis: Eine aus lediglich zwei Ärzten bestehende Gemeinschaftspraxis darf als "Ärztezentrum" bezeichnet werden, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt/M. Geklagt hatte ein Chirurg, der die Bezeichnung für irreführend und damit unlauter gehalten hatte, weil ein "Zentrum" nach seiner Auffassung eine gewisse Mindestgröße voraussetze. Laut OLG weise der Begriff im medizinischen Bereich jedoch nicht auf eine besondere Größe hin; dies ergebe sich auch aus den aktuellen gesetzlichen Voraussetzungen zu sogenannten medizinischen Versorgungszentren. LTO berichtet.
LG München I – "Manta, Manta": Laut SZ (David Steinitz) hat der Drehbuchautor Stefan Cantz beim Landgericht München I Klage auf Schadensersatz gegen die Produktionsfirma Constantin Film eingereicht, die die Filme "Manta, Manta" und "Manta, Manta - Zwoter Teil" in die Kinos gebracht hat. Stefan Cantz hatte das Drehbuch zum ersten Film geschrieben und möchte nun nachträglich an den Einnahmen des Films beteiligt werden. Seine Vergütung stehe in einem Missverhältnis zum finanziellen Erfolg des 1991 erschienen Films. Zum anderen sei er nicht darüber informiert worden, dass eine Fortsetzung gedreht werde. Constantin habe aber nicht das Recht eine Fortsetzung zu drehen, sondern hätte lediglich ein Remake von "Manta, Manta" produzieren dürfen.
AG Berlin-Tiergarten – Klimaprotest: zeit.de (Anna Mayr) schildert exemplarisch Szenen aus drei Prozessen gegen Klimaaktivisten vor dem Berliner Amtsgericht Tiergarten.
StA München I - Letzte Generation als kriminelle Vereinigung: Ein Bündnis um die bayerische Linkspartei will unter anderem gegen den Münchner Generalstaatsanwalt Reinhard Röttle und Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) Strafanzeige wegen Verleumdung und Beleidigung erstatten, nachdem die abgeschaltete Internetseite der Letzten Generation mit dem Hinweis "Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB dar" versehen worden war. Erst im Nachhinein betonten die Behörden, es bestehe lediglich ein entsprechender Anfangsverdacht. Die FAZ berichtet.
Recht in der Welt
Russland – Alexej Nawalny: Am Dienstag soll ein weiterer Prozess gegen den Kremlgegner Alexej Nawalny unter anderem wegen Extremismus beginnen. Seine Beschwerde, mit der Nawalny erreichen wollte, die Akten zu sichten, wies ein Moskauer Gericht zurück. Im schlimmsten Fall drohen Nawalny 30 Jahre Straflager. Aktuell ist er bereits zu neun Jahren Haft verurteilt, von denen er zwei bereits abgegessen hat. Seine Unterstützer:innen machen immer wieder auf die menschenunwürdigen Zustände aufmerksam, unter denen der Politiker inhaftiert ist. Auch internationale Menschenrechtsaktivist:innen sprechen von Folter. taz (Inna Hartwich) und spiegel.de berichten.
Polen – russischer Einfluss: Nun berichtet auch spiegel.de (Dariusz Kalan und Jan Puhl) über das neue polnische Gesetz, das eine Kommission vorsieht, die untersuchen soll, ob Russland in den Jahren 2007 bis 2022 Einfluss in Polen ausgeübt hat. Das Gesetz könne genutzt werden, Oppositionspolitiker:innen auszuschalten.
Der Rechtsprofessor Wojciech Sadurski setzt sich auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) ebenfalls mit dem als "Lex Tusk" bezeichneten Gesetz auseinander.
Spanien – Recht auf Vergessen bei Krebserkrankungen: Wie die taz (Reiner Wandler) schreibt, muss in Spanien ab Juni eine überstandene Krebserkrankung nicht mehr als Vorerkrankung angegeben werden, sofern diese mehr als fünf Jahre zurückliegt. Dadurch soll die Diskriminierung ehemals Krebserkrankter etwa beim Abschluss von Versicherungen oder Krediten beendet werden. Spanien setzt damit eine Empfehlung des Europaparlaments von Anfang 2022 um, nach der alle Mitgliedstaaten bis 2025 das Recht auf Vergessen von Krebserkrankungen einführen sollen.
Sonstiges
Deutsche Verfassung: Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth beleuchtet in der FAZ den Weg von der Verfassung der Paulskirche bis zum Grundgesetz und damit 175 Jahre Freiheitsrechte in Deutschland. Er konstatiert, dass auch die beste Verfassung "kein absoluter Garant für den Fortbestand von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" sei. Vielmehr brauche es Menschen, die bereit seien, sich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen.
Klimaproteste: Laut taz (Jakob Grimmbacher) kritisieren Rettungsdienste die Straßenblockaden von Klimaaktivisten. Die Berliner Feuerwehr führe etwa seit Juni vergangenen Jahres eine Liste über Behinderungen von Rettungswägen durch Straßenblockaden. Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) hatte die Behinderung der Einsatzkräfte als wichtigsten Grund genannt, um zu prüfen, ob die Letzte Generation eine "kriminelle Vereinigung" darstelle.
In einem Streitgespräch in der Zeit (Martin Machowecz/Stefan Schirmer) diskutieren der Notarzt und Klimaaktivist Frederic Michaelsen und der Feuerwehrmann Manuel Barth, ob durch die Straßenblockaden Menschenleben gefährdet werden, etwa weil Rettungswagen im Stau stehen.
Heinrich Wefing (Zeit) setzt sich mit der Frage auseinander, wie der Konflikt zwischen den Klimaaktivisten und der Staatsmacht gelöst werden könnte und meint, dass die durchgeführten Razzien insofern "verheerend" waren, als sie den Konflikt nur noch verstärkten.
Pushbacks von Flüchtlingen: Flüchtlingsorganisationen berichten, dass deutsche Polizisten systematisch Geflüchtete nach Österreich zurückschieben und so verhindern, dass diese einen Asylantrag in Deutschland stellen. Solche sogenannten Pushbacks sind rechtswidrig. Grüne und Linke fordern jetzt Aufklärung. Ein Sprecher von Nancy Faeser (SPD) wies die Vorwürfe auf Anfrage zurück. Die taz (Frederik Eikmanns) berichtet.
Strafverteidiger Steffen Ufer: Die Zeit (Arno Makowsky) stellt Strafverteidiger Steffen Ufer vor, der seit fast 60 Jahren Rechtsanwalt ist, mehr als 10.000 Prozesse geführt und unter anderem durch Sensationsprozesse wie gegen den Kindermörder Jürgen Bartsch und den Oetker-Entführer Dieter Zlof Bekanntheit erlangt hatte. Daneben vertrat er unter anderem Romy Schneider, Peter Graf, Uli Hoeneß und Konstantin Wecker vor Gericht. Der inzwischen 83-Jährige arbeitet inzwischen als Of Cousel in der Kanzlei seines Sohnes.
Das Letzte zum Schluss
Sicherheitskontrollen unterschätzt: Ein 23-Jähriger wollte seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz bei Gericht abgeben und unterschätzte dabei wohl die Sicherheitsvorkehrungen am Amtsgericht Forchheim. Denn im Rahmen der Kontrolle fanden Beamte erneut Marihuana bei ihm. Nun droht ihm ein weiterer Strafbefehl. spiegel.de berichtet.
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LTO/bo/chr
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Die juristische Presseschau vom 1. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 01.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51892 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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