Die juristische Presseschau vom 3. Februar 2023: Ber­liner Neu­tra­li­täts­ge­setz auf Prüf­stand / Kritik an Chat­kon­trolle / Kün­di­gung wegen Impf­pass­fäl­schung

03.02.2023

Zukunft des Berliner Neutralitätsgesetz nach BVerfG-Entscheidung ungewiss. Gutachten kritisiert geplante Chatkontrolle der EU-Kommission. Das Vorlegen eines gefälschten Impfpasses rechtfertigt laut LAG Düsseldorf eine fristlose Kündigung.

Thema des Tages

BVerfG zu Kopftuchverbot/Berlin: Die vom Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde des Lands Berlin ist laut LTO mit der Verletzung von Verfahrensrechten begründet worden. Das Land Berlin hatte die Entscheidung des Bundesarbeitsgericht (BAG) von 2020 angegriffen, in der dem gesetzlichen pauschalen Kopftuchverbot für Lehrer:innen in Berlin eine Absage erteilt wurde, weil es der Rechtsprechung des BVerfG widerspricht. Das Land moniert, dass das BAG den Fall dem Europäischen Gerichtshof hätte vorlegen müssen und so das Recht auf den gesetzlichen Richter verletzt habe. Zu diesem Vorbringen des Landes äußerte sich das BVerfG nun nicht inhaltlich, da der Beschluss ohne Begründung erging. Die taz (Christian Rath/Plutonia Plarre) erläutert den Hintergrund der Entscheidung des BAG und geht auf die Folgen der Nichtannahme ein: Das Berliner Neutralitätsgesetz ist nicht für verfassungswidrig erklärt worden und gilt somit bis zu einer Reform mit der Maßgabe des BAG fort, dass pauschale Kopftuchverbote in Berlin nicht mehr zulässig sind. Das weitere Schicksal des Neutralitätsgesetzes hänge nun auch vom Ausgang der Wahlen am 12. Februar ab. Grüne, Linke und Teile der SPD halten eine Abschaffung für zeitgemäß, während sich die CDU und andere Teile der SPD für eine Beibehaltung aussprechen.

Jost Müller-Neuhoff (Tsp) kommentiert: "Der Staat hat neutral zu sein. Menschen müssen es nicht. Sie dürfen Religion zeigen und leben, auch in der Öffentlichkeit. Das ist ein Grundrecht, das auch Menschen zusteht, die in den Staatsdienst wollen. Sie müssen sich zurückhalten. Aber man kann sie nicht neutralisieren und sollte es auch nicht."

Rechtspolitik

Chatkontrolle: netzpolitik.org (Sebastian Meineck) stellt ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten des Internationalen Netzwerks für Kinderrechte vor, das sich u.a. kritisch mit den Plänen der EU-Kommission zur Schaffung einer Verordnung "zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern" auseinandersetzt. Anlasslose Überwachung verschlüsselter Kommunikation (Chatkontrolle) könne Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig stören, da nur die Gewissheit, nicht ständig überwacht zu werden, es ermögliche, Vertrauen etwa zu Eltern oder Lehrer:innen aufzubauen.

Plattformarbeit: Auch das EU-Parlament plant, die Rechte von Beschäftigten für Dienste wie Bolt, Uber, Gorillas oder Getir (sog. Plattform-Unternehmen) in einer Verordnung zu stärken. So soll etwa die Beweislast, ob jemand wirklich als Selbstständige:r oder nicht doch als Arbeitnehmer:in tätig ist, künftig bei den Plattformen liegen. Außerdem sollen die Beschäftigten sich leichter gewerkschaftlich organisieren und kollektiv Tarifverträge aushandeln können, berichtet das Hbl (Frank Specht). Der Entwurf des EU-Parlaments geht teilweise deutlich über den Vorschlag der EU-Kommission vom Dezember 2021 hinaus.

Blutspenden von Homosexuellen: Auf der Meinungs-Seite der SZ wird der Vorschlag von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) besprochen, die strengen Kriterien für Blutspenden Homosexueller zu lockern. Werner Bartens spricht sich dabei für eine Beibehaltung der aktuellen Regelungen aus und verweist auf Statistiken, nach denen die Gruppe von Männern, die Sex mit Männern haben, einem besonders hohen Risiko ausgesetzt seien, sich mit HIV zu infizieren. Angesichts dieser Zahlen sei der Vorschlag im Kampf gegen Diskriminierung eher Symbolpolitik. Vera Schroeder hingegen begrüßt unter Verweis auf Artikel 3 Grundgesetz den Ansatz, ähnlich wie Großbritannien eher auf die Selbstauskunft zum Sexualverhalten der letzten Monate, denn pauschal auf die sexuelle Orientierung zu setzen.

Politische Online-Werbung: Ingo Dachwitz (netzpolitik.org) zeigt sich enttäuscht von der Position von EU-Kommission und Rat, die im Gesetzgebungsverfahren um eine Regulierung von politischer online-Werbung (sog. Micro-Targeting) weitgehend den status quo beibehalten möchten. Die "informierte Einwilligung" würde demnach weiterhin viele kritisierte Werbe-Mechanismen rechtfertigen. Dachwitz setzt seine Hoffnungen auf eine striktere Regulierung deshalb auf den anstehenden Trilog mit dem EU-Parlament, das gerade seine Verhandlungsposition beschlossen hat.

Böllerverbot: Im FAZ-Einspruch vertritt die Jurastudentin Anna Schütz die Ansicht, ein Böllerverbot sei mit dem Grundgesetz zwar vereinbar, aber nicht verfassungsrechtlich geboten. Der Anspruch auf staatliches Handeln entstehe verfassungsrechtlich nur, wenn der Staat überhaupt keine Schutzmaßnahmen erlasse (echtes Unterlassen). Die Anpassung der bisherigen Regelungen unterfalle hingegen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und müsse daher auf politischer Ebene entschieden werden.

Justiz

LAG Düsseldorf – Kündigung wegen gefälschtem Impfpass: Das Vorzeigen eines gefälschten Impfpasses sei eine Verletzung einer arbeitsvertraglichen Nebenpflicht und rechtfertige eine fristlose Kündigung. Die darin zum Ausdruck gebrachte kriminelle Energie führe zu einer nachhaltigen Störung des Vertrauensverhältnisses. Dies stellte das Landesarbeitsgericht Düsseldorf laut LTO in einem Rechtsgespräch mit dem klagenden Messwärter fest, woraufhin dieser seine Berufung zurücknahm.

EuGH – Pfandbetrag und Verkaufspreis: Nach Ansicht des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof Nicholas Emiliou muss das Pfand für Flaschen oder Gläser nicht im Gesamtpreis eines Getränkeprodukts eingerechnet sein. Anders als Steuern könne der Pfandbetrag zurückerstattet werden und sei deshalb kein Bestandteil des Verkaufspreises im Sinne der Verbraucherschutzrichtlinie. Aufgekommen war die Frage in einem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof. LTO berichtet.

BVerfG zu Esra-Verbot: Vor 20 Jahren ist die Veröffentlichung von Maxim Billers Roman "Esra" von der Justiz verboten worden. Die SZ (Heribert Prantl) erläutert zu diesem Anlass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass die Verbotsentscheidung bestätigte und in Fortentwicklung der "Mephisto"-Entscheidung Grundsätze zur Abgrenzung von Kunstfreiheit und (postmortalem) Persönlichkeitsrecht aufstellte. Der Autor stellt zudem jeweils die Sondervoten vor, die vor allem kritisierten, dass sich Kunst(freiheit) nicht graduell mithilfe einer je-desto-Formel am Grad der Verfremdung der betroffenen Personen messen lasse.

VG Mainz zu KfZ-Betrieb in Wohngebiet: Eine Garage in einem Wohngebiet darf nicht zu einer KfZ-Werkstatt umfunktioniert werden. Dies entschied laut LTO das Verwaltungsgericht Mainz und bestätigte damit die ablehnende Entscheidung der Bauaufsichtsbehörde. Auch der geplante geringe Umfang des Betriebes sei städtebauplanerisch nicht für ein allgemeines Wohngebiet vorgesehen und laufe dem Ruhebedürfnis der Bewohner:innen zuwider.

VG Gießen zu Ersatzzwangshaft wegen fehlendem Heckenschnitt: Obwohl ein Mann entgegen einer gemeindlichen Satzung und trotz verhängtem Zwangsgeld seine Hecke nicht stutzte, hat das Verwaltungsgericht Gießen die Anordnung einer Ersatzzwanghaft für unverhältnismäßig befunden. Der Eingriff in die Freiheit der Person zur Durchsetzung einer Verpflichtung, die in dem Fall bereits durch die Gemeinde selbst vorgenommen wurde, sei deshalb unzulässig. LTO berichtet.

LG Berlin – Kriegsverbrechen in Syrien/Jarmuk: Am Landgericht Berlin wird gegen den Syrer Moafak D. wegen Kriegsverbrechen im Jahr 2014 in Damaskus verhandelt. Er soll als Anführer einer Pro Assad-Miliz mit einer Panzerfaust in eine Menschenmenge geschossen haben, die im Stadtviertel Jarmuk anstand, um UN-Lebensmittelpakete zu erhalten. Er wurde in Deutschland von syrischen Flüchtlingen wiedererkannt, behauptet aber, seit 2012 nicht mehr in Jarmuk gewesen zu sein. Der Nebenkläger-Anwalt Patrick Kroker schildert im Interview mit der taz (Hannah El-Hitami) den bisherigen Prozessverlauf. Die Anklage beruhe vor allem auf Aussagen von Zeug:innen.

LG Hamburg zu Brandanschlag auf Obdachlosen: Das Landgericht Hamburg hat einen 35-Jährigen wegen versuchten Mordes, vorsätzlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Der ebenfalls obdachlose Pole soll im Juni vergangenen Jahres den Pulloverärmel des Opfers mit einem Becher Desinfektionsmittel entzündet haben. Das Opfer konnte den Flammen entfliehen, erlitt dabei jedoch Verbrennungen. spiegel.de berichtet.

LG Leipzig – "Kinderzimmerdealer": spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über die Geständnisse zweier Helfer vom "Kinderzimmerdealer" Maximilian S. Die beiden wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Angeklagten erklärten vor dem Landgericht Leipzig, Drogen und Medikamente für den Verkauf portioniert und verpackt sowie Verpackungsmaterial für den Versand besorgt zu haben. Auch S. kündigte an, sich bald zu den Vorwürfen äußern zu wollen.

LG Dresden – Einbruch ins Grüne Gewölbe: Die Staatsanwaltschaft bezeichnet die Einlassungen der Angeklagten im Prozess wegen des Diebstahls aus dem Grünen Gewölbe in Dresden als unzureichend. Oberstaatsanwalt Kohle kritisiert laut FAZ (Stefan Locke) dabei vor allem, dass das Gericht den Angeklagten bei den Nachfragen zu ihren Geständnissen jeweils bis zu 30 Minuten Auszeit zur Beantwortung zugesteht. Es entstehe der Eindruck untereinander so abgesprochener Aussagen, die ein für alle erträgliches Strafmaß zur Folge haben sollen.

LG München I zu Korruption in Regensburg: Das Landgericht München I hat den Bauunternehmer Volker Tretzel im ersten Revisionsprozess wegen Vorteilsgewährung und Verstoßes gegen das Parteiengesetz zu einer Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren sowie zu einer Geldstrafe in Höhe von 1,5 Millionen Euro verurteilt. Wie die SZ (Andreas Glas) berichtet, hat er im Rahmen einer Verständigung eingeräumt, den früheren Regensburger Oberbürgermeister Joachim Wolbergs über ein Strohmannsystem mit verschleierten Parteispenden versorgt zu haben.

GBA – Spion im BND: Auch die SZ (Manuel Bewarder u.a.) berichtet nun über die Aussagen von Arthur E., dem vom Generalbundesanwalt vorgeworfen wird, dem BND-Mitarbeiter Carsten L. geholfen zu haben, geheime Unterlagen an den russischen Geheimdienst FSB zu verkaufen. Die beiden sollen sich bei einem Fußballfest in Oberbayern kennengelernt haben, bei dem L. nach etlichen Bieren wohl seine Tätigkeit beim BND durchblicken ließ und dass er mit dem Dienst und diesem Land abgeschlossen habe.

BVerfG-Verfahren: Libra (Denise Dahmen) schildert die empirische Untersuchung des Legal Data Scientists Seán Fobbe, der die Dauer von Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ausgewertet hat. Knapp 64% aller begründeten Entscheidungen ergehen demnach innerhalb des ersten Jahres nach Eingang, gut 14% der insgesamt 7.700 untersuchten Verfahren dauerten länger als drei Jahre.

Jahresbericht am VG Berlin: Laut LTO ist der Rückstau an Fällen am Verwaltungsgericht Berlin im Jahr 2022 etwas zurückgegangen. Dazu hat jede der im Durchschnitt beschäftigten 114 Richter:innen mit der Erledigung von jeweils ca. 167 Fällen beigetragen. In diesem Jahr wiederum werden Entscheidungen erwartet zur möglichen Umbenennung der Mohrenstraße, zum Umgang mit dem "Flügel" der AfD sowie der Streichung der Mittel für das Büro von Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Recht in der Welt

Island – reproduktive Rechte: Die Politikprofessorin Silja Bára Ómarsdóttir stellt auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die 2019 in Kraft getretene Reform des Abtreibungsrecht in Island vor. Demnach steht es schwangeren Personen bis zum Ende der 22. Schwangerschaftswoche frei, die Schwangerschaft ohne vorherige ärztliche Erlaubnis abzubrechen.

Israel – Justizreform: Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara hat in einem Gutachten erklärt, die Pläne der israelischen Regierung für eine weitreichende Justizreform bedrohten Israels Status "als jüdischer und demokratischer Staat." Zuvor hatte sie angeordnet, dass Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sich selbst nicht direkt mit der Reform befassen dürfe, da ein Interessenkonflikt drohe. Er könne mit Blick auf seinen eigenen Gerichtsprozess von der Reform profitieren. FAZ (Christian Meier) und spiegel.de berichten.

EGMR/Ungarn – Tod an Grenze: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Ungarn zur Zahlung von knapp 40.000 Euro an den Bruder eines an der ungarischen Grenze verstorbenen Syrers verurteilt. Bei dem Versuch, mit seinem Bruder und anderen Flüchtenden die Grenze von Serbien und Ungarn mit einem Boot zu überqueren, sei er von ungarischen Grenzschützer:innen konventionswidrig mit Tränengas und Polizeihunden zurückgedrängt worden und ertrank letztlich beim Versuch, an das serbische Ufer zurückzuschwimmen. spiegel.de berichtet.

Österreich – islamistisches Attentat in Wien: Im Prozess um das Attentat, an dem am 2. November 2020 in Wien vier Personen getötet und mehrere teils schwer verletzt wurden, hat das Wiener Landgericht vier Angeklagte zu zweimal lebenslanger Haft, einmal zu 20 Jahren und einmal zu 19 Jahren Haft verurteilt. FAZ (Stephan Löwenstein) und taz (Ralf Leonhard) berichten.

Sonstiges

Juristische Promotion: Im Interview mit LTO-Karriere (Franziska Kring) beantwortet Rechtsprofessor Matthias Jahn einige Fragen rund um die juristische Promotion. Entscheidend sei das Finden einer zentralen Forschungsfrage, die einen wissenschaftlichen Mehrwert bietet. Jahn gibt hier Tipps, wie man sich dieser nähert und herausfindet, ob die eigene Idee einen solchen Mehrwert hat.

Das Letzte zum Schluss

Uri Geller befreit Magier mit Löffel: Während der Mentalist Uri Geller seine angeblich magischen Fähigkeiten auf das Verbiegen von Löffeln anwendet, nutzt das Pokémon "Kadabra" vom Typ Psycho einen mitgeführten Löffel zum Verstärken seiner telekinetischen Fähigkeiten. Weil Geller wegen der Ähnlichkeit zu seiner Person seine Persönlichkeitsrechte verletzt sah, verklagte er Nintendo in den letzten 20 Jahren immer wieder, nahm zuletzt aber seine Klagen zurück. Wie die FAZ (Peter-Philipp Schmitt) berichtet, ist nun der Weg frei dafür, dass auch das Pokémon "Kadabra" wieder als Sammelkarte veröffentlicht und gesammelt werden darf.


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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/jpw/chr

(Hinweis für Journalistinnen und Journalisten)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 3. Februar 2023: . In: Legal Tribune Online, 03.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50958 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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