Das BAG verkündete zwei Urteile zur Verjährung von Urlaubsansprüchen. Das LG Itzehoe verurteilte Irmgard Furchner wegen Beihilfe zum Mord im KZ Stutthof. Das BVerfG verhandelte über den Einsatz von Analyse-Software bei der Polizei.
Thema des Tages
BAG zu Urlaubsansprüchen: In zwei Grundsatzurteilen musste sich das Bundesarbeitsgericht zur Verjährung von Urlaubsansprüchen neu positionieren. Demnach verjähren Urlaubsansprüche erst drei Jahre, nachdem der Arbeitgeber den Beschäftigten auf seinen Resturlaub hingewiesen hat. Sie verfallen bei fehlendem Hinweis also weder am Ende des laufenden Jahres (wie im Bundesurlaubsgesetz vorgesehen) noch verjähren sie automatisch nach drei Jahren. Das BAG setzte hiermit eine EuGH-Vorabentscheidung um. Im zweiten Urteil ging es um einen Beschäftigten, der mehrere Jahre seinen Urlaub nicht nehmen konnte, weil er ganzjährig krank geschrieben war. Hier entschied das BAG, dass der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2014 noch nicht verjährt war, weil der Beschäftigte in diesem Jahr teilweise gearbeitet hatte. Da der Arbeitgeber den Mitarbeiter nicht auf den Resturlaub hinwies, trat hier keine Verjährung ein. Der bisher in der BAG-Rechtsprechung für solche Fälle generell angenommene Verfall nach 15 Monaten tritt nur in den Jahren ein, in denen der Beschäftigte ganzjährig (und bis März des nachfolgenden Jahres) nicht arbeiten konnte. In diesen Jahren konnte kein Urlaubsanspruch entstehen und deshalb konnte der Arbeitgeber in diesen Jahren auch nicht die Pflicht versäumen, den Beschäftigten zu informieren. Auch hier hat das BAG eine EuGH-Vorabentscheidung umgesetzt. Es berichten SZ (Benedikt Peters), Hbl (Claudia Obmann) und Libra (Pia Lorenz). In seiner ausführlichen Analyse kommt Rechtsanwalt Michael Fuhlrott auf LTO zum Schluss, die BAG-Rechtsprechung sei "spektakulär", aber wegen der vorherigen EuGH-Urteile nicht überraschend.
Rechtspolitik
LG Berlin: Ein Gesetzentwurf des Berliner Senats sieht vor, dass das Landgericht Berlin zum 1. Januar 2024 in zwei Landgerichte aufgeteilt werden soll. Für alle Strafsachen soll dann das Landgericht I am Standort Moabit zuständig sein. Das Landgericht II mit den Standorten Tegeler Weg und Littenstraße soll alle Zivilsachen bearbeiten. Berlin wäre deutschlandweit das erste Land mit dieser durch eine Neuregelung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) möglichen Konzentration von Zuständigkeiten. LTO berichtet.
Dokumentation der Hauptverhandlung: Rechtsanwältin Katrin Wick fordert auf LTO, die vom Bundesjustizministerium geplante audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung auch für die Video-Dokumentation historisch relevanter Prozesse zu wissenschaftlichen Zwecken zu nutzen. Bisher ermöglicht § 169 Abs. 2 GVG hierfür nur die Anfertigung von Tonaufnahmen. Wenn aber für interne Verfahrenszwecke ohnehin audiovisuelle Aufnahmen hergestellt werden, könnten diese auch für historische Zwecke dauerhaft aufbewahrt werden.
Justiz
LG Itzehoe zu KZ-Sekretärin Stutthof: Die Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe hat die frühere Sekretärin im KZ Stutthof, Irmgard Furchner, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.500 Fällen schuldig gesprochen. Die zu Beginn der Taten erst 18-Jährige wurde zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die heute 97-Jährige arbeitete als Stenotypistin im Vorzimmer des Lagerkommandanten, erstellte dort sämtliche Befehle und hatte direkten Blick auf den Sammelplatz des KZs. Das Gericht hörte im Verlauf des Prozesses viele Nebenkläger:innen, die von den grausamen und lebensfeindlichen Zuständen im KZ Stutthof berichteten. Irmgard Furchner schwieg hingegen - bis auf ihr kurzes letztes Wort - die gesamten 40 Verhandlungstage. Es berichten SZ (Renate Meinhof), FAZ (Julian Staib), taz (Andreas Speit), spiegel.de (Julia Jüttner/Fabian Hillebrand), LTO, tagesschau.de (Michael-Matthias Nordhardt/Frank Bräutigam) und zdf.de (Christoph Schneider)
Das Urteil sei, wenn auch reichlich spät, wichtig und richtig, meint Sarah Tacke (zdf.de). Denn es waren auch die "kleinen Rädchen", die den Massenmord erst möglich machten. Ähnlich sieht es auch Klaus Hillenbrand (taz) und betont die Bedeutung des Schuldspruchs für die Zukunft, beispielweise für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Denn das Urteil mache deutlich, dass auch künftig diejenigen von der bundesdeutschen Justiz belangt werden, die bei ähnlichen Verbrechen "nur" Schreibarbeit geleistet haben. Auch Reinhard Müller (FAZ) begrüßt das Urteil, merkt aber an, das Urteil lenke den Fokus zu sehr auf das niedere KZ-Personal und von "der gesamtgesellschaftlichen Verstrickung sowie von vielfacher Schuld" ab und habe etwas von einer "reinigenden Ersatzhandlung". Robert Probst (SZ) hält den Prozess auch vor allem aufgrund der vielen befragten Zeitzeug:innen und ihrer Schilderungen für enorm wichtig für die Erinnerung an den Holocaust und die NS-Verbrechen hierzulande - gerade auch weil er vermutlich einer oder sogar der letzten Prozesse zu NS-Verbrechen in Deutschland war.
BVerfG – Datenauswertung bei der Polizei: Das Bundesverfassungsgericht hat über zwei Verfassungsbeschwerden verhandelt, bei denen es um die Verfassungsmäßigkeit, der in den Polzeigesetzen Hessens und Hamburgs vorgesehene automatisiertenDatenanalyse geht. In Hessen wird dafür bereits seit 2017 unter dem Namen Hessendata die Analyse-Software Gotham der US-Firma Palantir eingesetzt, die Datenbestände der Polizei dateienübergreifend durchsuchen und Zusammenhänge herstellen kann. Elf Kläger:innen, die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) koordiniert werden, sahen ihre informationelle Selbstbestimmung verletzt, insbesondere weil hier die ursprüngliche Zweckbindung der Daten aufgehoben wird. Das hessische Innenministerium versicherte, dass bei Hessendata weder das Internet noch soziale Netzwerke ausgewertet werden. Auch Künstliche Intelligenz komme nicht zum Einsatz, es finde kein Predictive Policing statt. Rechtsprofessor Tobias Singelnstein forderte als Klägervertreter das BVerfG auf, Vorgaben zu machen, bevor es eine entsprechende Praxis gebe. Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch), tagesschau.de (Ann-Kathrin Jeske) und LTO (Christian Rath).
BVerfG zu Auskunft über Verfassungsschutz: Nun stellt auch Rechtsprofessor Foroud Shirvani auf dem Verfassungsblog die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Fragerecht der Abgeordneten von voriger Woche vor.
BGH zur beA-Sorgfaltspflicht: Für Dokumente, die über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) abgesandt werden, gelten dieselben Voraussetzungen wie für den Fax-Versand. Wird das Dokument an das falsche Gericht gesandt, kann dies zur Fristverletzung führen. Das Dokument ist gem. § 130a Abs. 5 S. 1 ZPO erst dann wirksam beim zuständigen Gericht eingegangen, wenn es im für dieses Gericht eingerichteten Empfänger-Postfach gespeichert worden ist. Dies entschied der Bundesgerichtshof. Es sei unerheblich, dass die beA-Postfächer des falschen Gerichts und des richtigen Gerichts beim gleichen Dienstleister gehostet wurden, da es sich um unterschiedliche Postfächer handelte. Die Ausgangskontrolle gehöre zu den Aufgaben der Kanzlei des Prozessvertreters. Es berichten beck-aktuell (Joachim Jahn) und LTO.
VGH BaWü zur Pressearbeit des BVerfG: Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat den Antrag des AfD-Bundesverbands auf Zulassung der Berufung gegen eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Karlsruhe abgelehnt, wonach die Pressearbeit des BVerfG keine Rechte der AfD verletzt. Das BVerfG gibt Pressemitteilungen zu eigenen Urteilen bereits einige Stunden vor Urteilsverkündung mit sog. Sperrerklärungen an Journalist:innen der Justizpressekonferenz heraus. Laut VGH hat die AfD nicht dargelegt, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des VG-Urteils bestehen. LTO berichtet.
VG Koblenz zu Rundfunkgebühr und Glaubensfreiheit: Es ist nicht möglich, aus religiösen Gründen die Zahlung des Rundfunkbeitrags zu verweigern. Dies entschied das Verwaltungsgericht Koblenz und lehnte die Klage einer Frau ab, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorwarf, dass er sich nicht an die göttlichen Gebote halte. LTO berichtet.
AG München zu Untervermietung an Geflüchtete: Für die Aufnahme von Geflüchteten in Mietwohnungen brauchen Mieter:innen die Erlaubnis der Vermieterin oder des Vermieters. Humanitäre Hilfe sei kein berechtigtes Interesse iSd § 553 Abs. 1 BGB für einen Anspruch auf Untervermietung, so das Amtsgericht München. Ein derartiges berechtigtes Interesse müsse die Umstände der Mieter:innen selbst betreffen und nicht das von dritten Personen, wie den im vorliegenden Fall geflüchteten Ukrainerinnen, die der Kläger bei sich untergebracht hatte. Der die Klage unterstützende Mieterverein München wird voraussichtlich Berufung einlegen, so die SZ (Susi Wimmer) und LTO.
Gefängnisärzt:innen: Um einen Mangel an Gefängnisärzt:innen zu verhindern, können Medizinstudierende der Uni Witten/Herdecke jetzt Praktika im JVA-Krankenhaus Fröndenberg oder anderen Justizvollzugsanstalten machen. Es berichtet wdr.de (Philipp Raillon).
Recht in der Welt
USA – Angriff aufs Kapitol/Donald Trump: Wegen seiner Rolle beim Sturm auf das US-Kapitol im Januar 2021 hat der Untersuchungsausschuss des Repräsentantenhauses einstimmig empfohlen, strafrechtliche Schritte gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und andere Beteiligte einzuleiten. Wie die FAZ (Sofia Dreisbach) und LTO erläutern, ist die Entscheidung rechtlich nicht bindend, sondern lediglich eine Empfehlung an das Justizministerium, das nun die Beweise prüfen und über die weiteren Schritte entscheiden wird.
"Die Rückeroberung der Legalität" sei die wichtigste Aufgabe des politischen Systems in Amerika nach Trump und ein Schuldspruch wäre der größte Erfolg für den Rechtsstaat, meint Stefan Kornelius (SZ). Denn der einzige Weg für die Legitimation des Rechtsstaats sei - trotz und gerade wegen der staatsfeindlichen Ideologie der Trumpisten - die Zurückeroberung der parlamentarischen und juristischen Autorität mit Hilfe der Gesetze und am Ende auch der Gerichte.
USA – Harvey Weinstein: Der frühere Hollywood-Filmproduzent Harvey Weinstein ist von einer Jury in Los Angeles unter anderem wegen Vergewaltigung und anderen sexuellen Übergriffen schuldig gesprochen worden. Ihm drohen deshalb laut Antrag der Staatsanwaltschaft 24 Jahre Haft. Weinstein war bereits 2020 in einem Prozess in New York wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu einer Haftstrafe von 23 Jahren verurteilt worden. Es berichten die FAZ (Christiane Heil), spiegel.de und LTO.
Ukraine – Kriegsverbrechen: Im SWR-RadioReportRecht (Frank Bräutigam) erläutert der Staatsanwalt Klaus Hoffmann, wie er im Auftrag der EU die Ukraine vor Ort bei ihren strafrechtlichen Ermittlungen unterstützt.
Sonstiges
Klimaproteste/Haftung: Rechtsprofessor Michael Heese vertritt auf LTO die Auffassung, dass Klimaaktivist:innen, die Flughäfen blockieren, für entstandene Schäden gem. § 826 BGB haften, weil sie sittenwidrig handeln. Auf ehrenhafte Motive wie den Schutz vor dem Klimawandel komme es hierbei nicht an, weil die Blockier:innen vorsätzlich agieren und gezielt demokratische Regeln verletzten. Einen Musterprozess erwartet der Autor "mit Spannung".
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LTO/ali/chr
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Die juristische Presseschau vom 21. Dezember 2022: . In: Legal Tribune Online, 21.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50540 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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