Die juristische Presseschau vom 20. Dezember 2022: Kron­zeuge im Wire­card-Pro­zess / BVerfG ver­han­delt über Gotham / LG Köln zu mobiler Brief­marke

20.12.2022

Oliver Bellenhaus belastete seine Mitangeklagten schwer. Das BVerfG verhandelt heute über Verfassungsbeschwerden zur "automatisierten Datenauswertung". Eine über die App "Post & DHL" gebuchte Briefmarke ist auch nach 14 Tagen noch gültig.

Thema des Tages

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Der Kronzeuge Oliver Bellenhaus hat im Wirecard-Prozess vor dem Landgericht München I als erster der drei Angeklagten ausgesagt und belastete Ex-Konzernchef Markus Braun sowie Ex-Chefbuchhalter Stephan von Erffa schwer. Braun sei "Täter" und nicht nur "Mitwisser" gewesen. Braun sei als "maßgebliche Figur" in einem System des organisierten Betrugs aufgetreten. Weiterhin sei es ein "bekanntes Muster" von Braun, sich als Opfer zu sehen. Bellenhaus, der als Geschäftsführer einer Wirecard-Tochter in Dubai für das (angebliche) Asien-Geschäft zuständig war, räumte ein, dass er über "Magic Accounting" zum Schluss fast den gesamten Gewinn von Wirecard erzeugte. Bellenhaus bereute zwar den immensen Schaden, äußerte sich jedoch nicht dazu, wann der Milliardenbetrug angefangen hat. Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm wirft Bellenhaus vor, er sei gemeinsam mit dem flüchtigen Jan Marsalek Haupttäter gewesen. Die beiden hätten das Geld aus dem Asien-Geschäft beiseite geschafft. Dierlamm kündigte eine Aussage Brauns voraussichtlich in der zweiten Januarhälfte an - falls das Gericht seinem Antrag nicht folge, das Verfahren auszusetzen. Es berichten FAZ (Marcus Jung), SZ (Jan Diesteldorf/Stephan Radomsky), Hbl (Rene Bender), spiegel.de (Martin Hesse) und LTO.

Laut Marcus Jung (FAZ) habe Oliver Bellenhaus zwar seine Mitschuld eingeräumt, aber es müsse abgewartet werden, ob er auch bereit sei, seine Vermögensverhältnisse aufzuklären. Falls er dies nicht tue, könnte er seine "Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen".

Rechtspolitik

Ersatzfreiheitsstrafe: Nadine Conti (taz) kommentiert die vorige Woche erfolgte Einigung von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) bei der Reform der Ersatzfreiheitsstrafe. Auch wenn der Umrechnungsschlüssel wie geplant halbiert wird, werde das Problem nicht an der "Wurzel gepackt". Zwar würden die Gefängnisse entlastet, aber die Zahl der Betroffenen einer Ersatzstrafe bleibe bestehen. Ihrer Meinung nach sei es wichtiger, in aufsuchende Sozialarbeit zu investieren.

Justiz

BVerfG – Datenauswertung bei der Polizei: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt an diesem Dienstag über zwei Verfassungsbeschwerden gegen Vorschriften zur "automatisierten Datenauswertung" in den Polizeigesetzen Hessens und Hamburgs. Die Vorschriften wurden eingeführt, um den Einsatz der Software Gotham der US-Firma Palantir zu ermöglichen. Die Software durchsucht große Datenbestände nach verdächtigen Anhaltspunkten und stellt Verknüpfungen her, die auf eine Straftat hindeuten könnten. Straftaten sollen auf diese Weise vorbeugend bekämpft werden. Die Verfassungsbeschwerden werden von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) koordiniert. Geklagt hatten Personen, die potentiell mit der Software in Verdacht geraten könnten, wie Journalist:innen, Strafverteidiger:innen oder linke Aktivist:innen. Laut Rechtsprofessor Tobias Singelnstein, einem Klägervertreter, lasse sich durch die Fülle an Daten ein konkretes Persönlichkeitsprofil erstellen. Die Software gleiche einem "Nacktscanner", der Personen "unbekleidet vor der Hoheitsgewalt der Polizei" stehen lasse. Dies verletze die Menschenwürde. In Zukunft könnten die polizeigesetzlichen Vorschriften auch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei der Polizei ermöglichen. KI sei aber anfällig für Diskriminierungen und gebe keine Begründung für ihre Ergebnisse. Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet vorab.

Federführende Verfassungsrichterin in diesem Verfahren ist Gabriele Britz, die die SZ (Wolfgang Janisch) aus diesem Anlass porträtiert. Sie sei öffentlichkeitsscheu, aber intern "eine der einflussreichsten Figuren der vergangenen Dekade". Im Vorjahr habe sie auch das Urteil zu den Befugnissen des Verfassungsschutz vorbereitet. Ihre bekannteste Entscheidung sei der Beschluss zum Klimaschutz von April 2021.

LG Köln zu mobiler Briefmarke: Das Landgericht Köln hat entschieden, dass eine nicht genutzte mobile Briefmarke, die in der App "Post & DHL" gebucht wurde, nicht nach 14 Tagen ihre Gültigkeit verliert. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Deutschen Post seien insofern unwirksam. Dem Gericht zufolge benachteilige die Regelung Verbraucher:innen unangemessen, weil die AGB vom Kaufrecht, das eine dreijährige Verjährung vorsieht, in nicht hinnehmbarer Weise abweiche. Die Post hatte argumentiert, die AGB orientierten sich nicht am Kaufrecht, sondern am Frachtvertrag. Es schreibt LTO.

BGH zu Schiedsspruch und Kartellrecht: Der Bundesgerichtshof hat seine Rechtsprechung bekräftigt , dass ein Schiedsspruch bezüglich zwingender Verbotsnormen des Kartellrechts einer vollumfänglichen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, die weder in Prüfungstiefe noch -breite eingeschränkt ist. Für eine Vollkontrolle spreche das öffentliche Interesse an einem funktionierenden Wettbewerb. Nur vor staatlichen Gerichten sei eine umfassende Beteiligung des Bundeskartellamts gewährleistet. Und nur staatliche Gerichte seien beim EuGH vorlageberechtigt.  Der BGH hob eine Entscheidung des OLG Frankfurt/M. auf, das nicht einmal Raum für eine summarische Prüfung oder kartellrechtliche Plausibilitätskontrolle sah. Es berichtet LTO (Lorenz Menkhoff).

LG Hamburg zu Totschlag wegen Lärmbelästigung: Das Landgericht Hamburg hat einen 61-Jährigen wegen Totschlags zu acht Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, weil er seinen Nachbarn erstochen hatte. Sein Nachbar habe derart laut ferngesehen und oft Besuch gehabt, dass er jahrelang unter der Lautstärke habe leiden müssen und nachts nicht habe schlafen können, so der Verurteilte. Es berichtet spiegel.de.

LG München II zu Mord an pflegebedürftiger Ehefrau: Das Landgericht München II hat einen 85-jährigen Mann wegen Mordes zu acht Jahren Haft verurteilt, weil er seine pflegebedürftige Frau erwürgt hatte. Er sei mit dem Haushalt überfordert gewesen, nachdem seine Frau aufgrund der Pflegebedürftigkeit vieles nicht mehr habe erledigen können, berichtet die FAZ.

ArbG Köln – nicht eingesetzter WDR-Redakteur: Der Redakteur Jürgen Döschner hat gegen den Westdeutschen Rundfunk beim Arbeitsgericht Köln wegen einer schweren Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts Klage eingereicht. Er verlangt Entschädigung, weil der Sender ihn über drei Jahre hinweg faktisch nicht mehr beschäftigt habe. Er habe gerade mal fünf Stunden im Monat arbeiten dürften, so Döschner. Prozessbeginn ist der 21. Dezember. Die SZ (Christian Wernicke) schildert ausführlich den Ursprung des Konflikts. Döschner hatte unerwünschte kritische Beiträge an den Redaktionsinstanzen vorbei zur Ausstrahlung gebracht.

StA Hildesheim – Kubicki/Erdoğan: Die Staatsanwaltschaft Hildesheim hat keine Ermittlungen gegen den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) eingeleitet, nachdem dieser den türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan als "kleine Kanalratte" bezeichnet hatte. Es fehle der Anfangsverdacht einer Beleidigung, da keine Formalbeleidigung, sondern eine Meinungsäußerung vorliege. Diese sei nicht beziehungslos in den Raum gestellt worden. Es bestehe ein sachlicher Bezug, der zwar überspitzt, aber für objektive Dritte nachvollziehbar sei, so die Staatsanwaltschaft. Kubicki zufolge seien Ratten "kluge und verschlagene Wesen", die deshalb auch in Kindergeschichten als Protagonisten vorkommen. Es berichtet LTO.

StA Potsdam – Tesla: Die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt gegen Verantwortliche des US-Elektroauto-Herstellers Tesla wegen des unerlaubten Betreibens eines temporären Gefahrstofflagers in der Fabrik in Grünheide. Das brandenburgische Landesamt für Umwelt (LfU) hatte bereits im August den Vorgang angezeigt, so spiegel.de.

StA Köln – Cum-Ex/Olaf Scholz: Die Staatsanwaltschaft Köln wird nicht gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und den Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) wegen möglicher Beihilfe zugunsten der Cum-Ex-belasteten Warburg-Bank ermitteln. Die Auswertung von sichergestellten Email-Postfächern lege keinen Anfangsverdacht nahe. Zuvor hatte bereits die Staatsanwaltschaft Hamburg Ermittlungen abgelehnt. Es schreibt focus.de.

Weihnachtsamnestie: Laut LTO haben die Bundesländer im Rahmen der "Weihnachtsamnestie" mehr als 1.000 Häftlinge vorzeitig aus der Haft entlassen. Die Weihnachtsamnesie ermöglicht Häftlingen grundsätzlich eine um Tage oder Wochen vorgezogene Entlassung, wenn diese ohnehin rund um den Jahreswechsel stattfinden würde. Die Amnestie wird damit begründet, dass Beratungs- und Sozialämter nach Weihnachten nur schwer zu erreichen sind. Begünstigt werden aber nur Häftlinge, die nicht negativ aufgefallen sind und keine langjährigen Haftstrafen absitzen. Lediglich Bayern beteiligte sich nicht an dieser Tradition. Die Änderung einer rechtskräftigen Strafe solle nur im "Ausnahmefall" möglich sein und nicht von "Zufälligkeiten des Kalenders" abhängen.

Recht in der Welt

Großbritannien – Asylsuchende nach Ruanda: Der High Court in London hat entschieden, dass illegal nach Großbritannien eingereiste Migrant:innen in das ostafrikanische Ruanda verbracht werden dürfen, damit sie dort Asyl beantragen. Dieser Umgang mit Asylsuchenden stehe im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention, betonte das britische Gericht und bestätigte damit den umstrittenen Ruanda-Plan, den die damalige Innenministerin Priti Patel im Frühjar mit der ruandischen Führung vereinbart hatte. Die Fälle der im Rechtsstreit betroffenen acht Personen seien jedoch noch nicht ausreichend individuell geprüft worden. Es schreiben LTO und spiegel.de.

Schweden – Auslieferung in die Türkei: Der Oberste Gerichtshof in Schweden hat die Auslieferung des Journalisten Bülent Kenes in die Türkei abgelehnt. Ihm drohe aufgrund seiner politischen Ansichten in der Türkei politische Verfolgung. Kenes wurde von der türkischen Regierung vorgeworfen, am gescheiterten Putsch 2016 beteiligt gewesen zu sein. Dies schreibt spiegel.de.

Ukraine – Mediengesetz: Wie spiegel.de berichtet, hat das ukrainische Parlament ein neues Mediengesetz verabschiedet, um die europaweiten Vorgaben im audiovisuellen Bereich auf nationaler Ebene umzusetzen. Der europäische Journalistenverband (EJF) äußerte jedoch Bedenken hinsichtlich der weitreichenden Macht der Regulationsbehörde für die Medien. Der Rundfunkrat könne durch die Reform neben Geldstrafen bei wiederholten Regelverstößen ohne Gerichtsurteil Onlinemedien für 30 Tage blockieren lassen. Man müsse "Zensurinstrumente" und "Einschränkungen der Redefreiheit" befürchten, betonte auch der ukrainische Journalistenverband. Für ein Inkrafttreten ist noch die Unterschrift des Präsidenten notwendig.

Slowenien - Franken-Kredite: Das Verfassungsgericht in Ljubljana hat ein Gesetz für unwirksam erklärt, das Banken verpflichtete, einst auf Schweizer Franken lautende Kreditverträge, die von Mitte 2004 bis Ende 2010 abgeschlossen worden waren, nachträglich zu ändern. Dies verstoße gegen das Rückwirkungsverbot von Gesetzen. Für betroffene Kreditinstitute hätte das Gesetz andernfalls Kosten von bis zu 300 Millionen verursacht.  Das Gesetz sollte Kreditinehmer:innen vor unerwarteten Zins- und Tilgungslasten nach der Aufwertung des Franken 2015 schützen. Es berichtet die FAZ (Andreas Mihm).

USA – Johnny Depp und Amber Heard: Johnny Depp und Amber Heard haben ihren Rechtsstreit beigelegt, indem sich Heard zur Zahlung von einer Million Dollar verpflichtet hat, um alle finanziellen Ansprüche zu begleichen. Zuvor war sie in einem Verleumdungsprozess im Juni zu einer Zahlung von mehr als zehn Millionen Dollar an Depp verurteilt worden, während Depp zwei Millionen Dollar an Heard zahlen sollte. Beide hatten Rechtsmittel eingelegt. Es schreibt spiegel.de.

Sonstiges

Klimaproteste/Haftung: Auf LTO befassen sich Marc-Philippe Weller und Camilla Seemann, Rechtsprofessor und studentische Mitarbeiterin, mit der Frage, ob mögliche Schadensersatzklagen von Lufthansa und BER gegen Klimaaktivist:innen der "Letzte Generation" wegen Beeinträchtigung des Flugbetriebs Aussicht auf Erfolg haben würden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass eine Blockade zwar strafrechtlich geahndet werden könne, jedoch keine Deliktshaftung für Betriebsausfallschäden auslöse. Weder eine Überschreitung der Sittenwidrigkeitsschwelle des § 826 BGB noch ein deliktrelevanter Eingriff nach § 823 I BGB könne überzeugend bejaht werden. Eine Haftung auf Schadensersatz sei daher unwahrscheinlich.

Klimaproteste/staatliche Maßnahmen: Die taz (Christian Rath) gibt einen Überblick über staatliche Maßnahmen gegen illegale Aktivitäten von Aktivist:innen der Letzten Generation. Dabei geht es um Strafurteile wegen Nötigung, Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Präventivgewahrsam, Versammlungsverbote und die Auferlegung von Polizeikosten für das Loslösen und Wegtragen bei Blockaden.

Libra: Die FAZ (Jochen Zenthöfer) berichtet über den im April 2022 gestarteten journalistischen Infodienst "Libra – das Rechtsbriefing" und zeigt auf, welche Probleme sich dadurch ergeben, dass der Herausgeber, die juris GmbH, mehrheitlich der Bundesrepublik Deutschland gehört. So habe der Bundesgerichtshof erst in diesem Sommer in seinem "dortmund.de"-Urteil betont, dass die private Presse ihre besondere Aufgabe im demokratischen Gemeinwesen erfüllen können muss. Grundsätzlich dürfe der Staat die Presse nicht mit eigenen Angeboten substituieren. Juris verweise jedoch darauf, dass die juris GmbH nur solange als Dienstleister für die Bundesregierung fungiere, bis diese ein eigenes Rechtsinformationssystem aufgebaut habe. Allerdings habe der Bund laut FAZ gar keine Absicht, seinen Mehrheitsanteil an Juris zu verkaufen.

NGO-Jurist: Auf LTO-Karriere (Franziska Kring) erzählt der Jurist Bijan Moini über seine Arbeit als Leiter des Legal Teams der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und warum er seinen Kanzleijob kündigte, um einen Roman zu schreiben.

Das Letzte zum Schluss

Royaler Eierwurf: Wie spiegel.de berichtet, muss sich ein 23-Jähriger vor Gericht verantworten, weil er Charles III. mit mehreren Eiern attackiert haben soll. Er war zuvor bereits wegen des Verdachts der Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen worden und nur unter der Bedingung freigekommen, dass er keine Eier in der Öffentlichkeit mit sich führe. Eine Ausnahme bestand nur beim Einkaufen.


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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/ok/chr

(Hinweis für Journalist:innen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 20. Dezember 2022: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50522 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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